Es ist kein neuer Trend, dennoch stellen wir gegenwärtig fest, wie die Rhetorik in der Migrationspolitik mal wieder schärfer wird. Und schärfer bedeutet ganz konkret: menschenverachtender. 

Immer offener wird die Einteilung von Migrant*innen in ökonomisch nützlich und nutzlos vorgenommen. Bis tief hinein in die Mitte der Gesellschaft bekennt man sich offen zu Mauern und Zäunen, die unerwünschte Menschen auf der Flucht abhalten sollen. Die brutale Praxis an den EU-Außengrenzen, die 2023 schon über Tausend Menschen das Leben gekostet hat, wird immer mehr zynisch als Normalzustand, ja, als notwendiges Übel akzeptiert. 

Schluss mit den Lebenslügen in der Migration

Dahinter stecken jedoch einige große Lügen, von denen wir uns dringend verabschieden sollten. 

Die größte Lüge ist die Vorstellung, die EU könne zu einer militärisch gesicherten Insel des Wohlstands werden, die alle, die nicht das Glück hatten, zufällig in einem reichen Land geboren worden zu sein, mit Waffen- und sonstiger Gewalt daran hindert, ihren Machtbereich zu betreten – mit Ausnahme derjenigen, die ihr in irgendeiner Weise wirtschaftlich verwertbar erscheinen. 

De facto ist die EU natürlich schon genau das: Eine gut gesicherte Festung, die auch mit libyschen Milizen oder dem türkischen Präsidenten Erdogan kooperiert, um möglichst vielen den Zugang zu verwehren. Nur: Das ist kein Zustand, der längerfristig Bestand haben kann.

Lassen wir die Moral mal weg. Dass von uns Europäer*innen gern proklamierte Werte wie Menschenrechte und -würde wirklich für alle Menschen gälten, ist leider ohnehin eine weitere Lebenslüge. Bleiben wir bei der Realpolitik: Auf der Grundlage von Gewalt gibt es keine langfristige Stabilität. Man kann eine gewisse Zeit lang mit militärischen, geheimdienstlichen und polizeilichen Mitteln Kontrolle über Menschen ausüben. Auf Dauer geht das nicht (jüngeres Beispiel: 1989). 

Der Druck steigt

Zumal der Druck größer wird, aus unterschiedlichen Gründen. Ein sehr wichtiger ist die Erderwärmung, euphemistisch gern als Klimawandel bezeichnet. Es ist bereits jetzt absehbar, dass immer mehr Gebiete weltweit in sehr naher Zukunft praktisch unbewohnbar werden. Die Menschen, die dort leben, werden versuchen, woanders zu überleben. Die meisten davon nicht in Europa, aber ein gewisser Teil natürlich auch dort. 

Eine weitere große Lüge ist, dass der Wohlstand der Menschen in der EU durch die Aufnahme von Geflüchteten bedroht wäre.

Zunächst: Wahr ist, dass ein großer Teil des Reichtums in westlichen Ländern direkt oder indirekt mit der Armut und den instabilen Verhältnissen in nichtwestlichen Ländern zusammenhängt. Und das beileibe nicht nur über die Klimakrise, die alleine durch die Industrienationen ausgelöst wurde und deren Folgen insbesondere arme Länder treffen.

Auch die Tatsache, dass viele afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Länder wirtschaftlich und politisch instabil sind, ist in weiten Teilen eine direkte oder indirekte Folge europäischer Politik, sei es in Form von Kolonialismus, Imperialismus oder den daraus entstandenen und weiter aufrechterhaltenen Machtverhältnissen.

Kein Reichtum ohne Armut

Wahr ist auch, dass die lange zugunsten der europäischen Länder verzerrten Machtverhältnisse in Bewegung sind. Immer mehr ehemalige Kolonien lösen sich immer weiter aus dem Zugriff der ehemaligen Kolonialmächte. Damit gehen auch die Möglichkeiten der ungehinderten Ausbeutung von dort lebenden Menschen und dort vorhandenen Ressourcen zurück. Es gehört zur unangenehmen Wahrheit, dass die bestehende Ungleichheit, der ungeheure Wohlstand in wenigen Ländern und die relative oder absolute Armut in vielen anderen, kein Dauerzustand sein wird. 

Mit der Aufnahme von Flüchtlingen hat der Rückgang von Wohlstand innerhalb der EU nichts zu tun. Vielmehr ist dieser eine Folge der Ungleichverteilung innerhalb der europäischen Volkswirtschaften: steigende Unternehmensgewinne, sinkende Reallöhne. Der Kuchen wird kleiner, doch einige wenige Akteure vergrößern ihren Anteil daran. So bleibt für die meisten weniger übrig. 

Es gibt jedoch auch gute Nachrichten: Es sind genug Ressourcen auf der Erde vorhanden, um allen Menschen ein Leben in relativem Wohlstand und Würde zu ermöglichen. Stabile Verhältnisse würden genau dann eintreten: Wenn Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse so weit wie möglich aufgelöst würden.

Klingt unrealistisch? Die einzige Alternative dazu ist, Ungleichheit mit immer brutalerer militärischer Gewalt aufrechtzuerhalten. Wir haben die Wahl. 

 

 

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