Frau Weingärtner, die Union hat kürzlich angekündigt, das Bürgergeld im Falle einer Regierungsübernahme abschaffen zu wollen. Wie beurteilen Sie diese Debatte?

Sabine Weingärtner: Was mich an dieser Debatte stört, ist das Schwarz-Weiß-Denken, insbesondere die Tendenz, Menschen, die nicht arbeiten, mit dem Stempel "Ihr wollt nicht arbeiten", "Ihr seid faul" oder "Ihr sitzt nur zu Hause auf dem Sofa" zu versehen. Das ist inakzeptabel. Wir haben noch nicht einmal über die Höhe des Geldes gesprochen, über die man sicherlich sachlich und fachlich diskutieren kann. Es scheint, als würden Menschen, die in prekären Beschäftigungen arbeiten, und diejenigen, die aus verschiedenen Gründen nicht arbeiten können, gegeneinander ausgespielt werden, und das widerstrebt mir sehr.

"Es wird immer einen Anteil an Menschen geben, die aus verschiedenen Gründen nicht arbeiten können."

Auf der anderen Seite gibt es fast 4 Millionen erwerbsfähige Bürgergeld-Empfänger. Wäre es nicht wichtig, diese wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren?

Es gibt Gründe, warum diese Menschen darauf angewiesen sind, und so sehr wir uns auch wünschen, die Welt in Schwarz-Weiß-Mustern zu verstehen und einfache Lösungen zu finden, ist es leider nicht so einfach. Natürlich gibt es Programme, die darauf abzielen, Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Aber in Fällen, in denen jemand beispielsweise chronisch krank ist, wird es nur sehr begrenzt möglich sein, diese Integration zu erreichen. Es wird immer einen Anteil an Menschen geben, die aus verschiedenen Gründen nicht arbeiten können.

Die Lokführergewerkschaft GDL hat mit ihren Forderungen vor kurzem das halbe Land lahmgelegt. Müsste die Diakonie aus Ihrer Sicht radikaler werden in ihrem Auftreten?

Wir können nicht einfach sagen, wir schließen das Seniorenheim für zwei Tage und gehen auf die Straße, um zu streiken. Die Diakonie hat hier noch einmal eine besondere Verantwortung für die Menschen, die von ihr unterstützt und begleitet werden. Wir versuchen bereits viel, um auf unsere wirtschaftliche Situation aufmerksam zu machen. Mir ist es wichtig, dass wir auch als Partner der Politik verstanden werden und die Ideen und Erfahrungen unserer Träger vor Ort in die Politik einbringen können. Wir schlagen lieber, Pilotprojekte vor und probieren neue Ansätze aus, anstatt das Land lahmzulegen. Das halte ich für zielführender.

Die Diakonie steht derzeit vor zwei großen Herausforderungen. Da war zum einen die ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie, dann stehen einige diakonische Einrichtungen vor der Insolvenz. Welches Thema beschäftigt Sie derzeit mehr?

Beide Themen beanspruchen momentan viel Raum und sind gleichermaßen bedeutend und wichtig. Auf der einen Seite stehen die Schicksale einzelner Menschen und ihre Lebenswege, die gebrochen sind oder anders verlaufen sind als erwartet oder gewünscht. Auf der anderen Seite geht es darum, unsere Arbeit fortzusetzen, sowie um die Bemühungen der Träger, die Angebote aufrechtzuerhalten. Dies betrifft die Menschen, die unsere Dienste in Anspruch nehmen, die gepflegt und umsorgt werden, ebenso wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sowie deren Angehörigen und Familien, die davon betroffen sind. Letztendlich geht es in beiden Fällen um das Leben und die Lebenswege der Menschen.

"Was mich gestört hat, war, dass sich die Debatte um ForuM so sehr auf die Anzahl der Akten konzentriert hat"

Um zunächst beim Thema sexualisierte Gewalt zu bleiben: Hat Sie die Wucht in der Diskussion, aber auch die Dimension der Betroffenen-Zahlen, überrascht?

Die ForuM-Studie wurde von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Auftrag gegeben und finanziert, nicht von der Diakonie. Daher wurden von der Diakonie nur Fälle über die Anerkennungskommission in die Studie einbezogen. Natürlich können auch wir aus dieser Studie Erkenntnisse gewinnen und für uns nutzen. Und natürlich war und ist sexualisierte Gewalt auch in der Diakonie ein Thema, dem wir uns widmen und das wir bereits angegangen sind. Im letzten Jahr konnten wir unsere Stellen deutlich aufstocken, um unsere Träger bei der Erstellung von Schutzkonzepten zu beraten und zu begleiten, sofern diese noch nicht vorhanden sind.

Was mich allerdings ein wenig gestört hat, war, dass sich die Debatte um ForuM so sehr auf die Anzahl der Akten konzentriert hat. Dadurch sind die anderen Aspekte der Studie, wie Interviews mit Betroffenen und ihre Perspektiven, in den Hintergrund gerückt. Ich bezweifle, ob dies zielführend ist.

Prävention ist das eine, aber was kann konkret getan werden für die Opfer?

Zunächst: Wir reden nicht von Opfern, sondern von Betroffenen. Das ist ein wichtiger Unterschied. Ich glaube, es fängt damit an, den Menschen zuzuhören, sie ernst zu nehmen und ihnen einen Raum zu geben. Was den Menschen passiert ist, können wir nicht rückgängig machen oder einfach wiedergutmachen, sodass alles ungeschehen und vergessen wäre. Unsere Erfahrung zeigt, dass Betroffene unterschiedliche Bedürfnisse haben. Einige möchten einfach nur ihre Geschichte erzählen, andere möchten dies in einem geschützten Rahmen tun, möglicherweise mit bestimmten Personen sprechen, und wieder andere haben Bedarf nach Anerkennung oder finanzieller Unterstützung. Es gibt eine Vielzahl von Bedürfnissen, und es ist wichtig, die richtigen Instrumente zu finden.

Würden Sie sich mehr Zusammenarbeit mit der Kirche wünschen in dieser Frage?

Kirche und Diakonie arbeiten – auch wenn es einige Unterschiede in den Systemen gibt – auch hier schon eng zusammen – bis hin zur gemeinsamen Ansprechstelle. Gleiches gilt für die Arbeit der Anerkennungskommission. Für mich ist klar, dass sich diese Zusammenarbeit auch in den "Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen", die nun eingerichtet werden, fortsetzen wird.

"Die wirtschaftliche Lage ist insgesamt äußerst angespannt"

Kommen wir zur wirtschaftlichen Lage der diakonischen Einrichtungen: Rechnen Sie mit weiteren Insolvenzen in nächster Zeit?

Die wirtschaftliche Lage ist insgesamt äußerst angespannt. Wenn unvorhergesehene Umstände auftreten, wie plötzliche Steigerungen der Baukosten, verzögerte Zahlungseingänge oder Schwierigkeiten bei den Pflegesatzverhandlungen, kann dies auch zu Liquiditätsproblemen bei den Trägern führen. Daher ist dies ein Thema, das uns weiterhin beschäftigen wird.  Dennoch möchte ich betonen, dass wir viel dafür tun, um die Angebote aufrechtzuerhalten und diesen Herausforderungen entgegenzuwirken. Ein Beispiel dafür ist die Fusion, die vor anderthalb Jahren zwischen den Diakonischen Werken Kempten und Memmingen stattfand.

Viele Kliniken reagieren auf wirtschaftliche Herausforderungen damit, dass sie sich spezialisieren. Ist das auch ein Modell für diakonische Einrichtungen?

Es ist Teil unserer diakonischen Identität, nicht nur die Dienste anzubieten, die vollständig finanziert sind, sondern auch immer wieder in Bereichen wie der Beratung mit eigenen Mitteln aktiv zu werden. In der Regel müssen wir hier mindestens 10 Prozent der förderfähigen Kosten aus eigenen Mitteln aufbringen. Die Entscheidungen dafür treffen die Träger immer vor Ort, da es sich um rechtlich selbstständige Unternehmen und Organisationen handelt, die Mitglieder unserer Diakonie sind. Wir beraten und begleiten sie dabei.

Ist denn damit zu rechnen, dass auch eine der größeren diakonischen Einrichtungen ins Wanken gerät?

Wie bereits erwähnt, ist die wirtschaftliche Situation für alle Träger herausfordernd. Alle sind bemüht, mit den gegebenen Umständen umzugehen. Größere Organisationen haben den Vorteil, dass sie sich zusätzliche Beratungsleistungen einkaufen können und oft über eine solidere Substanz verfügen, um mit solchen Situationen umzugehen. Im Vergleich dazu stehen kleine Diakonie-Vereine oder Diakonie-Stationen mit nur wenigen Mitarbeitenden vor größeren Herausforderungen.

Merken Sie, dass Sie als Diakonie mit der schwindenden Bedeutung von Kirche zunehmend Schwierigkeiten haben, mit Ihren Forderungen durchzudringen?

Wir sind der zweitgrößte Wohlfahrtsverband in Bayern. Allein in Bayern haben wir in der Diakonie mehr Mitarbeitende als viele Industriekonzerne: Audi hat weltweit etwa 85.000 Mitarbeitende, wir allein in Bayern insgesamt fast 100.000. Wir sind also keine kleine Organisation, sondern die Diakonie ist in Bayern eine bedeutende Größe und wird entsprechend in der Politik gehört.

"Ein Viertel der Frauen in Bayern ist von Altersarmut betroffen"

Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Welche zwei oder drei Themen wollen Sie in den kommenden Jahren angehen?

Nun, zwei davon wurden heute bereits angesprochen. Das eine betrifft das Thema sexualisierte Gewalt, bei dem es darum geht, stark in Präventions- und Aufarbeitungsmaßnahmen zu investieren, um dieses Thema voranzutreiben. Das zweite betrifft die wirtschaftliche Situation der Träger und die damit verbundenen Herausforderungen, bei denen es darum geht, Verbesserungen herbeizuführen. Das dritte Thema sind die inhaltlichen Debatten: Assistierter Suizid, Armut, Wohnungslosigkeit, um nur drei zu nennen. Die Zahl der Wohnungslosen hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Hinzu kommt noch die versteckte Wohnungslosigkeit, bei der Menschen beispielsweise abwechselnd bei verschiedenen Bekannten oder Verwandten unterkommen. Ich glaube, dass dies ein bedeutendes Thema in unserem Land ist. Ein weiteres Problem ist die Altersarmut – ein Viertel der Frauen in Bayern ist davon betroffen, was alarmierend ist.

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