"Das klingt natürlich ganz schrecklich, aber in meiner Erfahrung ist es leider so schrecklich."

Wie beurteilen Sie die Kürzungen der Bundesregierung im Entwicklungsetat?

Jacqueline Flory: Da steigen wir gleich mit einer sehr schwierigen Frage ein, weil ich die Art und Weise, wie Entwicklungshilfe betrieben wird, für relativ wirkungslos halte. Deswegen glaube ich auch, dass diese Kürzungen niemandem schaden, der das Geld wirklich braucht. Das klingt natürlich ganz schrecklich, aber in meiner Erfahrung ist es leider so schrecklich.

Das müssen Sie erklären.

Wir beantragen keine öffentlichen Gelder, sondern sind rein privat von ganz vielen Einzelpersonen, Stiftungen et cetera spendenfinanziert. Denn sobald wir öffentliche Gelder, wie zum Beispiel Entwicklungshilfe-Gelder, beantragen würden, müssten wir diese öffentlichen Gelder auch auf der anderen Seite, also im Libanon und in Syrien, in Absprache mit den dortigen Behörden ausgeben. Das kommt absolut nicht in Frage, weil in beiden Ländern die Regierungen kaum Interesse am Wohlergehen der eigenen Bevölkerung haben, weil beide Regierungen legendär korrupt sind und dieses Geld einfach versickern würde.

Das klingt drastisch, ist es tatsächlich so schlimm?

Eigentlich ist öffentlich bekannt, dass Milliarden von Spendengeldern oder von Fördergeldern für die syrischen Flüchtlinge im Libanon bei der Regierung gelandet und nie weiter geflossen sind. Das fing 2011 bei der UN an, die die libanesische Regierung gefragt hat: Sollen wir jetzt, wo Hunderttausende von Geflüchteten über die Grenze zu euch in den Libanon kommen, es übernehmen, in den Camps Unterricht für die syrischen Kinder zu gewährleisten? Oder sollen wir euch Geld geben, damit ihr sie an den staatlichen Schulen aufnehmt? Eine unfassbar dumme Frage, denn natürlich hat die libanesische Regierung gesagt: Gebt uns Geld, wir kümmern uns, und dann sind Milliarden geflossen. Und kein einziges syrisches Kind war an einer libanesischen Schule.

Als man das dann 2015 überprüft und rausgefunden hat: Oh, das klappt ja gar nicht, hat man auch 2015 nicht gesagt: Okay, Schluss, wir nehmen das jetzt selbst in die Hand, sondern es sind noch mal Milliarden geflossen und man hat gesagt, aber jetzt wirklich, gell. Deshalb ist meine erste Frage, wenn ich Camps besuche, immer: Hattet ihr schon jemals die Möglichkeit, irgendwo zur Schule zu gehen? Und die Antwort ist immer nein. Aber auf dieser Ebene läuft ganz viel Entwicklungshilfe ab. Es ist eben einfach, einen Scheck auszustellen, und man hat einen Verantwortlichen, idealerweise noch einen Minister auf der anderen Seite, der sagt: Ja, alles gut, das mache ich. Und dann unterschreibt man diesen Scheck und ist fertig mit dieser Sache.

Jacqueline Flory und der Verein Zeltschule e.V.

Jacqueline Flory leitet Zeltschule e.V., eine Organisation, die Kindern im syrisch-libanesischen Grenzgebiet Bildung ermöglicht. Die Übersetzerin und Autorin aus München hat den Verein 2016 mit zehn anderen Gründungsmitgliedern gegründet. 

Hier könnt ihr an Zeltschule e.V. spenden

"Ich halte die Entwicklungshilfe, die jetzt im Moment vom Westen dort in dieser Region fließt, leider für größtenteils wirkungslos."

Aber wie kann das sein?

Es gibt eben in der EU-Entwicklungshilfe-Politik kaum Menschen, die wirklich vor Ort längerfristig tätig sind und schauen, ob das überhaupt ankommt. Ist das die richtige Maßnahme, würde eigentlich was ganz anderes gebraucht werden? Und deswegen halte ich die Entwicklungshilfe, die jetzt im Moment vom Westen dort in dieser Region fließt, leider für größtenteils wirkungslos.

Warum wird das so gehandhabt?

Weil es natürlich viel mehr Arbeit ist, es anders zu machen. Wenn ich nicht mehr die Gelder an andere Behörden und Regierungen gebe, sondern sage, ich unterstütze konkret Organisationen, die lokal in diesem Bereich tätig sind, die also tatsächlich auch Kontakt mit den Menschen haben, denen geholfen werden soll. Das ist nochmal das nächste Thema: Selbst wenn die Hilfe da ankommt, wo sie ankommen soll, ist es oft Hilfe, die überhaupt keinen Sinn macht. Also ich in in unseren Camps im Libanon steht zum Beispiel überall eine UNICEF-Mülltonne. Ich komme an nach zwei Wochen und frage: Wo kommt die UNICEF-Mülltonne her? Ja, da kam ein Laster vorbei, hat die da abgeladen, hat gesagt, sie ist gespendet von UNICEF. Ich sage: Ja, und wird die jetzt regelmäßig gelehrt? Nein, natürlich nicht. Die hat man also von einem Einsatz vielleicht aus Afrika oder sonst wo noch übrig, und die wird da jetzt hingestellt, aber im Grunde ohne Sinn und Verstand.

Hilfe ohne konkrete Ortskenntnisse bringt also nichts?

Wirkungsvolle Hilfe würde meiner Meinung nach als Grundvoraussetzung haben, dass Menschen dort sind, und mit den Menschen, denen geholfen werden soll, sprechen. Dass dort wirklich abgefragt wird, was braucht ihr, womit wäre euch geholfen? Wie sollten wir das am besten organisieren, dass euch geholfen ist? Und das ist natürlich nicht gegeben, weil es einen viel höheren Personal und Zeit und Arbeitsaufwand bräuchte, als nur an seinem Schreibtisch in der EU besagten Scheck auszustellen.

"Ich war der Ansicht, ich tue diesen Frauen jetzt einen riesengroßen Gefallen, weil sie diese verbotenen feministischen Bücher, die es in ihrem Land gar nicht gibt, lesen können."

Und Sie haben sich entschieden, dem mit ihrem Projekt entgegenzuwirken?

Ja, wir haben uns von vornherein entschieden, das Projekt ganz anders aufzubauen, und es war mir ganz wichtig, dass ich so oft wie möglich vor Ort bin, um im ständigen Kontakt mit den Menschen zu sein. Denn dabei lernt man so viel. Ein Beispiel aus unserer Geschichte ist, dass wir Frauen Alphabetisierungskurse anbieten. Ungefähr ein Drittel der Frauen in unseren Camps sind, haben nie lesen und schreiben gelernt, weil sie aus sehr ärmlichen ländlichen Gebieten kommen. Die sind jetzt oft als Kriegswitwen, also als Alleinerziehende, in einem fremden Land, haben nie lesen und schreiben gelernt, und wir haben ihnen das beigebracht in Alphabetisierungskursen. Ich habe dann viele Bücher besorgt, von arabischen feministischen Frauen, die auch teilweise in Syrien verboten sind. Ich war der Ansicht, ich tue diesen Frauen jetzt einen riesengroßen Gefallen, weil sie diese verbotenen feministischen Bücher, die es in ihrem Land gar nicht gibt, lesen können. Es hat sich dann im Dialog mit den Frauen herausgestellt, dass sie sagen: Ja, vielen Dank, das ist sehr nett, aber weißt du, was wir gerne hätten? Wir hätten gerne Handarbeitsbücher. Wir hätten gerne Bücher mit Anleitungen, wie man Kleidung näht und Schals strickt. Und da habe ich mich sofort wiedererkannt: Mein Gott, ich mache dasselbe, was ich diesen großen Organisationen vorwerfe. Wenn Menschen geholfen werden soll, müssen sie ein Mitspracherecht haben.

Ist die EU diesen Problemen gegenüber einfach gleichgültig? Oder warum beziehen die das nicht in ihre Vorgehensweise ein?

Ich hatte mal ein langes Gespräch mit mit Gerd Müller, als er noch Entwicklungshilfeminister war. Er sagte mir, für 170.000 syrische Kinder im Libanon habe Deutschland die Ausbildung an libanesischen Schulen bezahlt. 170.000 Kinder ist eine wahnsinnig hohe Zahl. Ich würde schätzen, dass es 500.000 syrische Kinder im Libanon im schulpflichtigen Alter gibt, und dann hätte er ja für ein Drittel dieser schulpflichtigen Kinder für Schulbildung gesorgt. Aber ich kenne keine syrischen Kinder, die in libanesischen Schulen sind und die dort unterrichtet werden, kostenfrei oder auch nicht. Ich glaube Herrn Müller durchaus, dass da hohe, hohe, hohe Beträge geflossen sind, mit der besten Intention, dass das bei syrischen Kindern ankommt. Das ist es aber eben nicht, und darüber hatten wir uns dann 20 Minuten auseinandergesetzt, und dann fiel irgendwann der Satz: Ja, aber wissen Sie, Frau Flory? Irgendwann muss man auch sagen, ich habe getan, was mir möglich war, und wenn das dann auf der anderen Seite nicht ankommt, dann ist das nicht mehr unsere Verantwortung. Ich glaube, das ist der Punkt, wo wir uns maßgeblich unterscheiden. Denn ich bin schon der Ansicht, wenn ich Geld wohin gebe, vor allem Geld, das nicht mein eigenes ist, sondern dass der Steuerzahler, dann bin ich eben schon dafür verantwortlich, das auch bis zum Ende zu verfolgen und zu schauen, dass das an einer sinnvollen Stelle ankommt.

"Das Einzige, worüber man sich im Moment in Europa einig zu sein scheint, ist, dass man auf keinen Fall Flüchtlinge aufnehmen will."

Eigentlich hat die EU das erklärte Ziel, Migration zu begrenzen. Eine Bekämpfung der Fluchtursachen sieht aber anders aus, oder?

Das kommt noch dazu. Das Einzige, worüber man sich im Moment in Europa einig zu sein scheint, ist, dass man auf keinen Fall Flüchtlinge aufnehmen will. Gleichzeitig passiert aber im Grunde nichts, um diese Fluchtursachen zu bekämpfen. Wir haben im Libanon die Situation, dass eine ganze Generation syrischer Kinder im Analphabetismus aufwächst, denn so stolz wir auf unsere Schulen dort sind, und mittlerweile haben wir gut 14.000 Kinder im täglichen Unterricht - aber da müssen wir ganz realistisch sehen, dass das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Hunderttausende von Kindern wachsen dort ohne Bildung auf, in einer Region, die von extremistischen Strömungen durchzogen ist, und für diese Extremisten sind sie Kanonenfutter, da sie keinen Zugang zu freiheitlicher Bildung hatten und deshalb diesen Rekrutierungsmaßnahmen nichts entgegensetzen können.

Das heißt, Sie haben gar keine Wahl, als weiter Ihr eigenes Projekt durchzuziehen?

Vor fast acht Jahren startete ich das Projekt in der naiven Annahme, dass es nur vorübergehend sein würde. Ich dachte, wir könnten ein oder zwei Schulen bauen und den Kindern ermöglichen, nach dem Krieg nahtlos in ihre alten Schulen zurückzukehren. Doch die flächendeckenden Bombardierungen in Syrien, verursacht durch Putin, führten zur Zerstörung von rund 80 Prozent der Schulen. Eine Rückkehr zur alten Schule ist daher ausgeschlossen, und die allgemeine Rückkehr der Geflüchteten ist zweifelhaft, da das Assad-Regime sie als Staatsfeinde betrachtet.

Viele der Geflüchteten haben im Libanon Kinder bekommen, die jedoch staatenlos sind, da sie offiziell nicht existieren und nicht registriert werden können. Selbst wenn sich die Möglichkeit einer Rückkehr in ihre Heimat ergäbe, hätten diese Kinder ohne Papiere keine Chance, mit ihren Familien zurückzukehren. Ihre Zukunftsaussichten sind daher äußerst begrenzt, da sie weder im Libanon noch in Syrien eine sichere Perspektive haben.

Trotz dieser Herausforderungen bieten wir den Kindern Bildungsmöglichkeiten an. Doch selbst wenn sie diese nutzen und gute Abschlüsse erlangen, stehen sie vor großen Hindernissen. Viele von ihnen könnten ohne Papiere nicht einmal an Universitäten im Ausland studieren oder Arbeitsmöglichkeiten im Libanon finden, da sie dort einem Arbeitsverbot unterliegen.

In Syrien gibt es zumindest für einige Jugendliche die Möglichkeit, Berufsausbildungen zu absolvieren. Wir ermutigen sie dazu, damit sie nicht frühzeitig verheiratet werden und eine gewisse Unabhängigkeit erlangen können. Trotz der schwierigen Umstände gewinnen sie durch diese Ausbildungen Selbstbewusstsein und sehen eine Perspektive für sich, auch wenn die Aussicht auf einen Regimewechsel fehlt. Die Situation in Syrien und im Libanon ist für die betroffenen Menschen unerträglich, da es keine klare Aussicht auf Besserung gibt.

"Sowohl in Syrien als auch im Libanon herrscht fast wieder eine Kriegssituation."

Deutsche Medien berichten so gut wie gar nicht mehr über die Lage in Syrien oder die syrischen Geflüchteten. Wie gefährlich ist die Lage vor Ort aktuell?

Die Sicherheitslage in Syrien und im Libanon ändert sich mittlerweile alle paar Tage, was schwer vorhersehbar ist. Vor etwa einem halben Jahr war es in Syrien relativ ruhig, aber seit dem Israel-Gaza-Krieg startet die Hisbollah regelmäßig Angriffe gegen Israel von Libanon und Syrien aus, was wiederum Gegenschläge in beiden Ländern auslöst. Sowohl in Syrien als auch im Libanon herrscht fast wieder eine Kriegssituation. Dies erschwert unsere Arbeit erheblich, da wir auf Flüge nach Beirut angewiesen sind, da der Flughafen in Damaskus seit über einem Jahrzehnt geschlossen ist und auch der Flughafen in Beirut aufgrund der Angst vor israelischen Angriffen bereits mehrfach geschlossen wurde. Diese Unsicherheit erschwert auch die Flugplanung erheblich.

Was gibt ihnen die Kraft, bei so viel Komplikationen und Widerstand dieses Projekt trotzdem weiter durchzuziehen?

Die Menschen dort, die ich seit Jahren kenne, vor allem Kinder, die mit meinen eigenen Kindern aufgewachsen sind. Sie gehören zu unserem Familien- und Freundeskreis und sind für mich nicht einfach eine gleichgeschaltete Masse von Geflüchteten, sondern 1.000 individuelle Gesichter und Geschichten. Die Vorstellung, einem von ihnen sagen zu müssen, dass ich nicht mehr helfen kann, ist unvorstellbar. Trotz der Frustration darüber, dass wir auf dem Papier wenig bewegt haben, sehe ich den Wert in den 14.500 Kindern, die wir in die Schulbildung gebracht haben. Ich habe mit ihnen gesprochen, ihre Entwicklung durch die Schule gesehen und erlebt, wie sie durch Bildung Selbstsicherheit gewonnen haben. Die Schule bietet diesen Kindern im Flüchtlingscamp Normalität und gibt ihnen enorm viel Kraft.

"Es ist ganz wichtig, dass dieses Problem Aufmerksamkeit bekommt, eben weil es keine mediale Aufmerksamkeit gibt."

Was können wir alle tun, um Ihre Arbeit zu unterstützen?

Unbedingt von uns erzählen, von für uns Werbung machen, Mitglied werden. Eine Mitgliedschaft kostet bei uns nur 11 Euro im Jahr, also weniger als einen Euro im Monat. Über 40 Schulen unterstützen unser Projekt, und auch da sind wir immer weiter auf der Suche nach Schulen, die sich engagieren wollen, weil ich einfach an meinen Kindern gesehen habe, wie sehr auch unsere Kinder hier in Deutschland davon profitieren, wenn man über den Tellerrand schauen kann, wenn man mitbekommt, was für ein Privileg Bildung ist, und dass das alles andere als selbstverständlich ist in vielen Teilen der Welt. Es ist einfach ganz wichtig, dass dieses Problem Aufmerksamkeit bekommt, eben weil es keine mediale Aufmerksamkeit gibt.

Kommentare

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nachdenklich am So, 18.02.2024 - 15:33 Link

Ich finde es fahrlässig und ignorant seitens des Sonntagsblatts, den Begriff der "Entwicklungshilfe" derart pauschal zu benützen. Es kann in Syrien noch gar nicht um "Entwicklungshilfe" gehen, sondern vorrangig und vorerst nur um essentielle Katastrophen- und Nothilfe. Die kleine Hilfsorganisation von Frau Jacqueline Flory hilft im direkten Kontakt mit den Notleidenden, das ist keine Frage und notwendig und lobenswert. Syrien hat eine Diktatur und lebt im Kriegszustand. Falls das irgendwann einmal überwunden sein wird(!) wird Syrien als Volkswirtschaft noch viel Entwicklungshilfe und -zusammenarbeit benötigen, um wieder ein Land zu werden, in dem sich menschenwürdig leben lässt. Dass Entwicklungshilfe auch nutzlos sein kann und den reichen Eliten Gelder in die Taschen spült, ist bekannt. Aber es gibt Tausend Beispiele von westlicher Entwicklungshilfe, die den Menschen und der Entwicklung ihres Landes ganz positiv dient.