"Ich habe meine Identität verloren. Ich habe das Vertrauen in mein Land verloren."

Was sind Ihre Gedanken und Gefühle angesichts der Eskalation?

Lizzie Doron: Zunächst einmal bin ich gebrochen. Ich habe meine Identität verloren. Ich habe das Vertrauen in mein Land verloren. Wissen Sie, ich bin in Israel als Kind von Holocaust-Überlebenden aufgewachsen. Und jeder hat mir versprochen, dass dies der sichere Zufluchtsort für jüdische Menschen ist. Und obwohl ich seit vielen Jahren wusste, dass es viele Probleme gibt, habe ich immer geglaubt, dass zumindest die Armee uns beschützen wird. Und dann kam der 7. Oktober …

…der Hamas-Angriff auf Israel, bei dem über tausend israelische Zivilist*innen getötet wurden.

Mein Glaube an mein Land ist zusammengebrochen. Ich muss die Scherben zusammenkehren. Ich muss meine Identität wieder aufbauen. Ich muss meine emotionale Reaktion auf diese schreckliche Situation in Ordnung bringen und mit dem Schmerz umgehen. Und in gewisser Weise auch mit einer Art Depression. Denn als Einzelperson kann man nicht viel tun, um etwas zu ändern. Im Moment habe ich viele Fragen. Ich bin viel besser im Fragen als im Antworten.

"Was wird aus den Fehlern, die wir so viele Jahre lang gemacht haben?"

Ich verstehe. Können Sie einige der Fragen nennen, die Sie sich jetzt stellen?

Ja, natürlich: Was wird aus den Fehlern, die wir so viele Jahre lang gemacht haben? Soll ein Land nur für bestimmte Religionen oder für alle Bürger da sein? Wie loyal sollte man seinem Land gegenüber sein? Wann ist es Zeit, zu gehen? Wann sollte man um sein Leben laufen? Ich könnte in meinem Land sein, aber ich bin ein Flüchtling in meinem Land. Ich fühle mich nicht verbunden mit denen, die dort regieren.

Gibt es da überhaupt noch Platz für Optimismus?

Meine Mutter hat immer gesagt: In Auschwitz waren alle Juden optimistisch. Ich fand das damals verrückt. Und dann schaute sie mich an und sagte: ‚Weißt du, alle Pessimisten sind vorher gegangen. Du solltest eine Pessimistin sein.‘ Für meine Mutter war das Leben das Wichtigste. Und jetzt fragt mich meine Tochter: 'Mama, ist es Zeit, Israel zu verlassen?‘ Wir diskutieren jetzt sehr entscheidende Fragen auf vielen, vielen Ebenen: Persönlich, national - auch menschlich, wie grausam Menschen sein können.

Lizzie Doron

Lizzie Doron wurde 1953 in Tel Aviv geboren. In ihrem autobiografischen Debütroman "Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?" (2004) erzählt sie vom Israel der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Leben ihrer Mutter, einer Überlebenden des Holocaust. Das Werk gehört in Israel inzwischen zur Schullektüre.

Für ihr zweites Buch, "Ruhige Zeiten", 2005) wurde Doron mit dem von der Gedenkstätte Yad Vashem vergebenen Buchman-Preis ausgezeichnet. Im Jahr 2007 erhielt sie den Jeanette-Schocken-Preis, den Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur.

In ihrem Roman "Who the Fuck Is Kafka" (2015) erzählt sie das Leben des arabisch-palästinensischen Journalisten Nadim aus dem Ost-Jerusalemer Stadtteil Silwan, den sie 2009 auf einer Friedenskonferenz in Rom kennenlernte und mit dem und dessen Familie sie sich anfreundete. 2017 erschien der Roman "Sweet Occupation", das Ergebnis von Interviews mit ehemaligen palästinensischen Terroristen. Beide Bücher sowie "Was wäre wenn?" (2021) fanden keinen Verlag in Israel.

 

"Niemand kann 5 Millionen Menschen auf der jüdischen Seite oder 5 Millionen Menschen auf der arabischen Seite töten."

Was halten Sie von den Vergeltungsschlägen der israelischen Armee in Gaza?

Niemand gewinnt einen Krieg. Jeder zahlt einen hohen Preis für den Traum, ein Sieger zu sein. Ich habe den Krieg als Kind erlebt, als Soldatin, als Mutter. Sogar als Großmutter. Aber diese Zeit jetzt ist anders. Denn die Hamas ist eine barbarische, brutale Gruppe von Menschen, von der ich nicht weiß, wie wir sie besiegen können. Sie kommen nicht, um eine Lösung zu finden. Sie kommen nicht, um über Optionen zu sprechen, um gemeinsam etwas aufzubauen, denn niemand kann 5 Millionen Menschen auf der jüdischen Seite oder 5 Millionen Menschen auf der arabischen Seite töten. Das haben wir im Holocaust erlebt, und ich hoffe, dass wir daraus gelernt haben. Die Frage ist also: Wie können wir als liberale Gesellschaft diese fundamentalistische Kraft, die sich an vielen Orten in der Welt erhebt, besiegen?

Wie kann das Ihrer Meinung nach gelingen?

Wie gesagt, ich habe nur Fragen, keine Antworten. Wir müssen uns die Frage nach der Zukunft der liberalen Menschen stellen, die immer noch von der Demokratie träumen. Und ich habe das Gefühl, dass die Demokratie im Moment sehr zerbrechlich ist. Auch in Europa gibt es Politiker, die die Demokratie besiegt haben, wie Putin, wie Orban, wie in Polen. Deshalb müssen wir die Demokratie jetzt überall verteidigen.

"Selbst, wenn wir in Gaza einmarschieren, glaube ich nicht, dass wir das Ziel, das Böse aus unserer Welt zu tilgen, durch Krieg erreichen werden."

Sie haben vorhin gesagt, dass es im Krieg keine Gewinner gibt. Wie könnte eine friedliche Alternative aussehen?

Hören Sie, ich glaube, dass Menschen auch das Bedürfnis haben, sich zu rächen. Dass sie das Gefühl brauchen, dass sie stärker sind, dass sie die Macht haben, andere zu besiegen. Aber selbst, wenn wir in Gaza einmarschieren, glaube ich nicht, dass wir das Ziel, das Böse aus unserer Welt zu tilgen, durch Krieg erreichen werden. Das ist nicht der wahre Frieden, den ich suche. Ich suche einen Weg, Frieden zu haben, das Böse zu besiegen. Aber vielleicht ist das ein menschlicher Kampf für die Ewigkeit. Übrigens auch innerhalb Israels: Was ist unsere Identität? Ist es ein liberaler israelischer Staat oder ein jüdisch-nationalistischer Staat?

Es ist einfach sehr viel gerade, oder?

Es ist viel. Ich fühle mich wie ein Mensch mit Parkinson, Herzinfarkt und Krebs, der nicht weiß, zu welchem Arzt er gehen soll.

Nur nicht zu den Löwen

Lizzie Doron

Tag für Tag steht Rivi Greenfeld am Fenster ihrer Wohnung und beobachtet das Treiben der Menschen auf der Straße. Doch inzwischen ist Neve Tzedek das angesagteste Viertel Tel Avivs, eine junge Unternehmerin will das Gebäude abreißen lassen, Rivi soll diesen Ort verlassen, der ihr ganzes Leben, all ihre Erinnerungen birgt. Aber Rivi ist eine kämpferische Frau: Als aller Widerstand zwecklos wird, beginnt sie, den Menschen zu schreiben, die ihr etwas bedeutet haben. Davon, wie ihr einst mächtige Männer des Landes verfielen, sie viele weitere behelligten - und sie am Ende ihres Lebens doch allein ist. Erst im Schreiben wird ihr klar, wie schwer sie an ihrer Rolle als Frau trug. Sie findet einen Weg, ihr Leben neu zu erzählen.

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"Wenn mich jetzt jemand fragt, was ich von einer Zweistaatenlösung halte, dann sage ich: Ich muss jetzt eine Zweistaatenlösung für meine Familie finden."

Hatten Sie vor dem 7. Oktober eine klarere Vorstellung davon, wie Frieden erreicht werden kann?

Ja, ich bin seit vielen Jahren Friedensaktivistin. Das ist meine Lebensaufgabe. Ich habe sogar zwei Bücher geschrieben, und in all meinen Werken geht es um Menschen, die einen hohen Preis für den Traum verrückter Führer bezahlt haben, stark zu sein. Alle meine Protagonisten haben einen schrecklichen Krieg erlebt und ihr Leben lang darunter gelitten. Aber ich muss sagen, dass ich im letzten Jahr einen anderen Kampf geführt habe, den ich als vorrangig betrachtete: den Kampf gegen die schreckliche Regierung in Israel, ihren Rassismus und ihre ethnozentrische Sichtweise. Und ich habe mich sehr aktiv an der Demonstration beteiligt. Aber wenn man jemanden in der Familie hat, der krank ist, dann geht man zuerst zu seiner Familie. Ich war also im letzten Jahr sehr mit dem innerisraelischen Problem beschäftigt. Und wenn mich jetzt jemand fragt, was ich von einer Zweistaatenlösung halte, dann sage ich: Ich muss jetzt eine Zweistaatenlösung für meine Familie finden. Ich brauche einen zweiten Pass. Ich kann mich nicht um die ganze Welt kümmern.

Sie müssen sich zuerst um sich selbst kümmern?

Ja, weil ich Angst habe, weil ich staatenlos bin, weil ich sogar in Berlin Angst habe, auf der Straße Hebräisch zu sprechen. Ich habe das Gefühl, dass mein Freiraum sehr eng geworden ist. Und ich muss herausfinden, wie ich mit meinen eigenen Ängsten umgehen kann. Ich möchte weiter für die politische Agenda kämpfen. Aber jetzt muss ich erst einmal durchatmen, um wieder Luft in meine Lungen zu bekommen. Meine Mutter hat noch etwas gesagt: Es gibt Tage, sagte sie, an denen man nur Kartoffeln will. Das sind meine Kartoffeltage.

Da trifft es sich gut, dass Sie in Deutschland sind.

(lacht) Auf dem Weg hierher hatten wir Hunger, also sind wir in ein Restaurant gegangen, um etwas zu essen. Die Kellnerin fragte mich, was ich wollte, und ich sagte: Kartoffeln. Da hat sie gesagt, wir haben heute keine Kartoffeln. Das nehme ich persönlich! Juden bekommen hier keine Kartoffeln mehr. (lacht)

"Viele Leute stellen mir Fragen über Israel. Und ich sage ihnen, stellen Sie mir neue Fragen. Die alten sind nicht mehr relevant."

Werden die aktuellen Ereignisse Ihr nächstes Buch beeinflussen?

Das ist eine wunderbare Frage. Ich arbeite an einem Buch über ein Paar während der Proteste gegen die israelische Regierung. Sie mussten sich trennen. Der eine musste nach Amerika, der andere nach Belgien, aber sie kamen nach Israel, um Israel zu helfen. Jetzt glaube ich, dass ich einen großen Teil der Geschichte neu schreiben werde. Viele Leute stellen mir Fragen über Israel. Und ich sage ihnen, bitte starten Sie Ihren Gehirncomputer neu, stellen Sie mir neue Fragen. Die alten sind nicht mehr relevant.

Stimmt der Satz noch, dass Israel und Deutschland Ihre Heimat sind?

Ja, aber in Israel bin ich mir auch nicht sicher. Vielleicht brauche ich jetzt noch ein drittes Land. Ich warte auf meinen österreichischen Pass, weil meine Mutter Österreicherin war, und ich habe einen beantragt, aber vielleicht werden sich jetzt viele Menschen fragen, ob sie sich wirklich an einen Staat, an einen festen Ort binden können. Denn, wissen Sie, in einer Zeit, in der man von einem Ort zum anderen ziehen kann, sollte man vielleicht herausfinden, wo der beste Ort ist.

Kennen Sie den deutschen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki?

Natürlich, ich hatte sogar die Ehre, ihn persönlich kennenzulernen.

"Ich habe auch meine Sprache verloren, weil ich auf Hebräisch schreibe und meine Bücher auf Deutsch veröffentlicht werden."

Er hat einmal gesagt, seine Heimat sei die Sprache. Gilt das auch für Sie? Kann Sprache Heimat sein?

Ich weiß nicht, ob Sie meine ganze Geschichte kennen. In Israel bin ich keine Schriftstellerin mehr. Meine Bücher werden dort nicht mehr veröffentlicht. Ich habe auch meine Sprache verloren, weil ich auf Hebräisch schreibe und meine Bücher auf Deutsch veröffentlicht werden. Ich kann meine eigenen Bücher nicht mehr lesen. Ich bin also kein Mensch einer Sprache, denn auch in der Sprache bin ich ein gebrochener Mensch.

Für den Roman "Sweet Occupation", der in Israel keinen Verlag fand, haben Sie mit ehemaligen palästinensischen Terroristen gesprochen. Sehen Sie diese Gespräche heute anders?

Nein, nein. Sie sind meine Freunde geworden. Sie sind durch diese tiefe Einsicht gegangen, dass der Krieg sie nirgendwo hinbringt, nirgendwo. Und in gewisser Weise kann ich sagen, dass ich Teil eines Volkes sein möchte, das dieselben Werte teilt, egal ob es Palästinenser, Ukrainer, Deutsche oder was auch immer sind. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr an einen bestimmten Ort, an ein bestimmtes Volk gebunden bin, weil es auch in meinem Land, in meinem Volk Menschen gibt, mit denen ich nichts zu tun habe. Mit den Siedlern habe ich nichts zu tun. Ich habe nichts zu tun mit den Orthodoxen, die Frauen als untergeordnet betrachten, oder mit den Parlamentariern, in deren Parteien Frauen nicht zugelassen sind. Mein Land sind meine Werte, Demokratie, Meinungsfreiheit, Gleichheit. Die Menschen werden zusammenleben, unabhängig von Gender und Hautfarbe. Es ist ein schönes Land für Schmetterlinge.

Und für Blumen?

Nein, die brauchen Erde. Aber mein Land fliegt in der Luft.

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