Herr Bandelow, woher stammt die Angst vor fremden Menschen?

Borwin Bandelow: Menschen haben ein Stammesdenken. Das geht zurück auf eine Zeit, in der wir in Stämmen von jeweils rund 25 Personen durch die Wälder getigert sind. Diese Stämme haben sich gegenseitig bekriegt. Dabei ging es etwa um Gebiete, Nahrungsmittel, Frauen oder Kinder. Da musste man im Stamm zusammenhalten und sich gegen andere Stämme verteidigen. Wer ausgestoßen wurde oder dachte, allein leben zu können, hatte keine große Überlebenschance.

Insofern war es ein Überlebensvorteil der Menschen, dieses Stammesdenken zu haben, alles für die eigenen Leute zu tun, alles andere als fremd abzuweisen und sogar brutal dagegen vorzugehen. Das ist in unseren Gehirnen auch heute noch drin.

Daher stammt auch das Denken in Nationen oder das Fan-Wesen im Fußball. Auch Heimatgefühle oder der Wunsch, für das Vaterland in den Krieg zu ziehen, sind darauf zurückzuführen. Deshalb sind wir in der Regel erst einmal skeptisch gegenüber Menschen, die anders aussehen, anders sprechen oder eine andere Religion haben.

Was passiert im Gehirn, wenn wir auf Fremde treffen?

Die primitive Angst vor Fremden spielt sich im Angstgehirn ab. Dieser Teil des Gehirns teilt alles in Gut und Böse, Schwarz und Weiß ein. Er streitet mit dem Vernunftgehirn. Das sagt uns: Die Fremden sind freundliche Menschen wie wir, mit ähnlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Es ist in der Lage, die feinen Unterschiede, das Für und Wider abzuwägen. Das kann das Angstgehirn nicht.

Bei Menschen, die weniger Angst vor Fremden haben, hat sich dann also das Vernunftgehirn durchgesetzt?

Das ist tatsächlich so. Dabei spielt etwa der kulturelle Zusammenhalt eine Rolle, der Bildungsgrad, die Zivilcourage oder die Menschlichkeit. Diese Form der Fremdenangst entsteht nicht durch Erfahrung. Eine ganze Gemeinschaft kann sich zum Beispiel in eine solche Angst hineinsteigern, wie wir uns in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus gegen die Juden gewandt haben.

Probleme mit starker Zuwanderung sollten differenziert und auf den Fakten basiert betrachtet werden. Nicht alle Ausländer sind per se für uns heute eine Bedrohung. Aber wenn alte Menschen in französischen Dörfern sich fürchten, weil sie auf der Straße kaum noch die französische, sondern überwiegend die arabische Sprache hören, dann kann ich ihre Angst verstehen.

Widerspricht das nicht dem, was sie eben gesagt haben? Diese Angst beruht doch gerade auf Erfahrungen.

Ja, das stimmt. Neben der primitiven Angst vor Fremden gibt es noch eine Angst vor realen Gefahren. Diese beiden Arten von Ängsten muss man unterscheiden. Das Angstgehirn funktioniert ohne Erfahrung. Die primitive Angst ist uns angeboren. So fürchtet sich auch ein Mensch, der zum ersten Mal eine Schlange oder eine Spinne sieht. Das geht auch Europäern so, obwohl sie wissen, dass Spinnen oder Schlangen in Europa nicht giftig sind. Es gibt also eine angeborene Fremdenangst, auch wenn sie völlig unlogisch ist. Allerdings gibt es die realen, begründeten Ängste, dass etwa unsere Kultur sich verändert, wenn viele fremde Menschen zu uns kommen.

Wird das auch in der Politik zu wenig differenziert?

Bandelow: Das kann man so sagen. Manche Politiker sprechen aber auch bewusst das Angstgehirn an und äußern sich polemisch oder populistisch, weil sie hoffen, damit Wählerstimmen zu bekommen. Donald Trump etwa sagt oft nur kurze Sätze, die das Angstgehirn adressieren, wie etwa "Mexikaner stehlen und vergewaltigen".

Wo ist der Übergang von der Angst zur Gewalt, von der Fremdenangst zum Hass und zur Gewalt?

Wer Angst hat, der verteidigt sich. Wie wir uns früher gegen andere Stämme verteidigt haben. Dahinter steht oft auch der Wunsch nach Abschreckung, also durch Aggression den Feind zu verjagen. Auf den zusammengeschlagenen Ausländer bezogen, heißt das: Die Schläger hoffen, dass weitere Menschen sich durch die Gewalt davon abhalten lassen, nach Deutschland zu kommen.

Warum reisen wir denn trotz der Angst vor dem Fremden gerne in fremde Länder?

Neben dem Angstgehirn und der Angst vor realer Gefahr gibt es auch die Neugier, die mit der Angst konkurriert. Menschen wollen Abwechslung, etwas anderes sehen oder essen, anderes Wetter. Zudem führt jede Angst vor Gefahr auch zu einer Ausschüttung von Glückshormonen, den Endorphinen. Die Endorphin-Ausschüttung bei Gefahr ist ein Mechanismus des Körpers, der bei einem Unfall mit schwerer Verletzung dafür sorgt, dass man weniger Schmerzen empfindet.

Wenn sie zum Beispiel in der Achterbahn fahren, dann wird ihnen suggeriert, dass sie in der nächsten Kurve rausfliegen. Am Ende der Achterbahnfahrt ist dann die Gefahr vorbei, die Endorphine sind aber noch da und lösen ein Glücksgefühl aus. Ähnlich ist es, wenn sie in ein anderes Land fahren und vorher bestehende Ängste etwa vor Kriminalität oder Krankheiten sich nicht bestätigen.

Wie kann man die Angst vor Fremden verringern?

An der primitiven Fremdenangst lässt sich nichts ändern. Aber Politiker dürfen die realen Gefahren, die durch Zuwanderung entstehen, nicht einfach abtun. Sie müssen versuchen, die daraus resultierende Ängste zu verstehen und die Gefahren einzudämmen. Sie sollten allerdings vermeiden, dabei in Populismus zu verfallen und Hass zu schüren, um wiedergewählt zu werden. Viele Rechtspopulisten versuchen in Deutschland aber gerade, genau diesen Mechanismus zu bedienen. Dabei ist ihnen das Wohl der Bevölkerung egal. Es geht nur darum, Macht zu erlangen.

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