Mitte Oktober kam ich aus meinem dreiwöchigen Urlaub in Südkorea nach München zurück. Die schrecklichen Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober hatte ich zwar mitbekommen, aber in Südkorea interessieren sich die Menschen nicht sonderlich für den Mittleren Osten. Das mag erstmal hart klingen.  aber wenn wir ehrlich sind, spiegelt sich darin nur unser eigenes Desinteresse an sämtlichen Konflikten und Kriegen, die sich außerhalb der westlichen Hemisphäre abspielen.

Nach meiner Ankunft musste ich schnell feststellen: Deutschland redet wieder über den Nahostkonflikt. Und zwar viel und laut. Um die betroffenen Menschen geht es dabei jedoch kaum. Vielmehr stehen wieder einmal eigene Befindlichkeiten, Selbstvergewisserungen, Vorurteile und Lippenbekenntnisse im Mittelpunkt. Und gar nicht wenige verwechseln den israelisch-palästinensischen Konflikt mit einem Fußballspiel, bei dem man sein Team wählt und vom Sofa aus anfeuert. 

Anteilnahme mit den Menschen vor Ort, eine grundsätzliche Menschlichkeit, die für alle Betroffenen gilt, spielt eine untergeordnete Rolle. Während die einen das Leid der israelischen Zivilist*innen, die von der Hamas grausam ermordet oder entführt wurden, relativieren und nicht klar benennen wollen, ergehen andere sich in Vernichtungsphantasien und fordern, den Gazastreifen nun in die Steinzeit zurück zu bomben oder "in einen Parkplatz" zu verwandeln (letztere Aussage stammt immerhin vom ehemaligen Entwicklungsminister Dirk Niebel, FDP). 

Der öffentliche Raum, sei es in Talkshows oder in sozialen Netzwerken, wird von Stimmen dominiert, die zuspitzen, pauschalisieren, sich nur auf eine Seite stellen und das Leid der anderen Seite ignorieren, verharmlosen oder gar rechtfertigen. Israelische Stimmen hört man kaum, palästinensische so gut wie gar nicht.

Wir Deutschen sollten mehr zuhören

Im Urlaub in Südkorea habe ich ein Buch über Nunchi gelesen. Das ist eine spezielle koreanische Tugend, die sich am besten mit Augenmaß übersetzen lässt. Es geht vor allem darum, Situationen und Stimmungen von Menschen besser wahrzunehmen, also beispielsweise nicht in einen Raum voller Leute zu kommen und erstmal einen Witz zu erzählen. Denn möglicherweise haben die bereits Anwesenden gerade über den Tod eines Bekannten geredet und empfinden das als extrem unpassend. Eine goldene Regel des Nunchi lautet: Verpassen Sie niemals die Gelegenheit, den Mund zu halten. 

Gerade jetzt wäre es eine sehr gute Gelegenheit für uns Deutsche, mit Augenmaß zu sprechen – und viel mehr zuzuhören. Den Jüdinnen und Juden, die sich in Deutschland nicht erst seit dem 7. Oktober (aber seither noch deutlich mehr) unsicher fühlen. Den Muslim*innen, die mit dem Generalverdacht der Terrorunterstützung konfrontiert sind, übrigens schon seit dem 11. September 2001. Und den Menschen in Deutschland, die Familie oder Freund*innen in Israel, im Westjordanland und in Gaza haben, teilweise auch in gleich mehreren oder allen drei Gebieten. 

Stattdessen aber werden eindimensionale Lippenbekenntnisse eingefordert, wird Menschen einer bestimmten Herkunft grundsätzlich misstraut oder Böses unterstellt, bleibt kein Raum mehr für vielschichtige Betrachtungen, die mehr sehen wollen als schwarz oder weiß.  Ein eindrucksvolles Beispiel war die Diskussion um das von einer Rakete getroffene Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza. Das menschliche Leid geriet schnell in den Hintergrund. Ein unwürdiges Gezerre setzte ein, um das schreckliche Ereignis schnell und eindeutig der jeweils anderen Seite zuzuordnen. Dabei ist bis heute nicht klar, was genau passiert ist

Auch die Kommentare zur Freilassung der Hamas-Geisel Yocheved Lifschitz folgten einem ähnlichen Schema: Die einen wollten in ihrem Handschlag mit einem der Entführer ein Zeichen dafür erkennen, dass es so schlimm ja nicht gewesen sein könne, die anderen erklärten die Geste selbst ohne großes Nachfragen zum Verrat. Warum lässt man nicht einfach die Frau ihre Geschichte selbst erzählen?

Das Muster ist immer dasselbe: Keine Ambiguitätstoleranz, keine Empathie und ein starkes Bedürfnis nach Vereinfachung, nach einer klaren, übersichtlichen Gut-Böse-Geschichte. Doch das Leben schreibt keine solchen Geschichten.

Zuspitzungen nützen nur Rassist*innen und Antisemit*innen

Befeuert wird diese Polarisierung und Spaltung noch durch Politik und Medien, die es leider nicht lassen können, immer wieder zuzuspitzen und zu vereinfachen, wo sorgfältiges Hinsehen und das Aushalten von Widersprüchen notwendig wären. Wo es nicht um ein ständiges "Ja, aber" als Erwiderung auf die Schilderung menschlichen Leids geht, sondern um ein "Ja, und", um das Herstellen von Kontext, nicht um Relativierungen. 

So hat die Springer-Zeitung "Welt am Sonntag" offenbar versucht, ihr unliebsame Prominente mittels einer scheinheiligen Anfrage als "Judenhasser" zu framen. Dabei hatten die lediglich keine Lust, mit der Zeitung zusammenzuarbeiten. Ein peinlicher Vorgang, der dem gerade vom Springer-Verlag oft und gerne propagierten Kampf gegen Antisemitismus sicherlich nicht zugutekommt. 

Dabei könnte man es längst besser wissen: Die hoch emotionalisierten, polarisierten Debatten über Migration haben rassistische Positionen normalisiert und in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Bei der gegenwärtigen laufenden Debatte wird zusätzlich zum Rassismus auch noch Antisemitismus verstärkt.  

Es klingt so einfach, ist aber offenbar für viele zu komplex: Menschliches Leid ist niemals zu relativieren oder gar zu rechtfertigen, ganz gleich, wem es zugefügt wird. Und statt sich vom sicheren Sofa aus in martialischen Statements zu ergehen, sollten wir alle viel mehr zuhören. Vor allem den leisen Stimmen, den Zweiflern, den Unsicheren. Nicht denen, die vorgeben, alles widerspruchs- und ambivalenzfrei erklären zu können und die vermeintlich einfache Lösungen anbieten.

Zuhören und differenzieren

Differenzieren wir also, und hören wir zu. Setzen wir Israelis nicht mit Juden gleich, und beide nicht mit der israelischen Regierung. Setzen wir Palästinenser*innen und Araber*innen nicht mit der Hamas gleich, und beide nicht mit Terrorist*innen. Keine Gemeinschaft ist für die Taten und Handlungen einzelner ihrer Mitglieder verantwortlich.

Hören wir den jüdischen Menschen zu, die Angst haben vor dem wachsenden Antisemitismus. Hören wir Israelis zu, die sich in ihrem Land nicht mehr sicher fühlen oder um ihre dort lebenden Angehörigen fürchten. Hören wir muslimischen Menschen, die Angst haben vor dem ebenfalls zunehmenden Rassismus. Und hören wir Palästinenser*innen zu, die Angst um ihre Angehörigen in Gaza, im Westjordanland oder in Israel haben.

"Wir beginnen und enden alle noch so kontroversen Diskussionen mit dem grundsätzlichen Verständnis, dass wir alle gleichwertige Menschen sind, die Frieden, Freiheit und Glück verdienen", schrieb der deutsch-israelische Dirigent Daniel Barenboim kürzlich in einem Beitrag für die "Süddeutsche Zeitung". Diese Maxime muss stets Basis unseres Handelns, Denkens und Fühlens sein. 

Hören wir also allen zu - nicht wie ein Polizist, der einen Verdächtigen verhört, sondern offen und mit der Bereitschaft, auch eigene Standpunkte in Frage zu stellen. Denn ohne diese Fähigkeit, Neues zu lernen, andere Sichtweisen zuzulassen, auch wenn wir sie nicht verstehen, ist keine Demokratie auf Dauer lebensfähig.

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