Welt-Umarm-Momente

Es klingt, als würden die Vögel um die Wette singen. Erst lächle ich nur, genieße den Gesang, dann fällt mir auf, wie lange ich das morgens schon nicht mehr gehört habe. Und wie sehr mir der Vogelgesang über den langen Winter über gefehlt hat. Obwohl es Montagmorgen ist, bin ich gleich besser gelaunt, stehe auf und sehe aus dem Fenster: es ist deutlich heller als letzte Woche, der Himmel wagt ein vorsichtiges Blau, die Wolkendecke ist zerrissen, die Sonne lässt ihren Aufgang sehen. Später, in der Mittagspause spüre ich die Frühlingssonnenstrahlen auf der Haut – wie gut das tut nach grau-feucht-verhangenen Wintertagen, wie gut.

Ich liebe diese Frühlingstage und an solchen Frühlingstagen liebe ich diese Welt. So sehr, dass ich sie umarmen könnte. Wie es mal in einer Werbung hieß: "Komm Welt, lass dich umarmen!"

Das Leben hat auch andere Seiten, liebe Hörerinnen und Hörer – und auch darüber werden wir reden. Aber lassen Sie uns noch einen Moment bei solchen Situationen – bei diesen Welt-umarm-Momenten und Tagen bleiben.

Vielleicht kennen Sie das, den kleinen stillen Freudenhüpfer im Alltag. Etwa so: Im Arbeitszimmer, das dritte Zoom-Meeting am Tag will nicht enden – dabei war eigentlich schon vor zwei Stunden alles geklärt. Und immer wieder geht noch eine Hand hoch,  immer wieder – und noch ein dringender nicht aufschiebbarer Kommentar. Mitten im Versuch, konzentriert zuzuhören, öffnet sich die Tür vom Arbeitszimmer, der Partner schleicht herein und stellt einen heißen Glückstee auf den Tisch, daran ein Post-it mit Herzchen und ZwinkerSmiley. Ein kleiner, stiller Freudenhüpfer. Man möchte die Welt umarmen.

Oder dies: Ein langer, nervenzehrender Bewerbungsprozesse mit dem Wechselbad der Gefühle, zwischen Zweifel und Hoffnung. Dann, eines Mittags, der lang erwartete Brief im Postkasten. Das Logo auf dem Umschlag verrät sofort: Das ist der Brief. Den Umschlag hastig aufreißen, noch im Hausflur, das Herz schlägt schneller. Der erste Satz: "Es freut uns Ihnen mitteilen zu können". Durchatmen. Stille. Dann: Yippie, ein lautes Yippie, eine Welle von Freude: Man möchte die Welt umarmen.

Oder das: Nach viel zu viel Abenden allein zu Haus, allein mit dem Fernseher, den Essensvorräten. Nach der Durst-Strecke zu langer Lockdowns in den ersten Corona-Jahren: Endlich mal wieder ein Abend mit Freunden. Gemeinsam Kochen, gemeinsam Essen, ein trockener Rotwein. Reden, zuhören, Lachen, Erinnern: Wie hast du damals den ersten Lockdown erlebt? Dann Reden über die Trauer, die Wut, die Angst – und endlich wieder reden, Aufbleiben, wie früher, bis nachts um vier Uhr. Bis die Vögel draußen schon anfangen zu zwitschern. Man möchte die Welt umarmen.

Ich sammle diese Welt-umarm-Momente: diese Momente, in denen es ganz leicht fällt, diese Welt zu lieben.

Von Joachim Ringelnatz gibt es ein Morgengedicht oder Gebet, das den Moment des Aufwachens so beschreibt:

Morgenwonne

Ich bin so knallvergnügt erwacht.

Ich klatsche meine Hüften.

Das Wasser lockt. Die Seife lacht.

Es dürstet mich nach Lüften.

 

Ein schmuckes Laken macht einen Knicks

Und gratuliert mir zum Baden.

Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs

Betiteln mich "Euer Gnaden".

 

Aus meiner tiefsten Seele zieht

Mit Nasenflügelbeben

Ein ungeheurer Appetit

Nach Frühstück und nach Leben.[1]

Und mit einem Lied verbinde ich die Welt-umarm-Freude, die Freudenhüpfer und Dankbarkeit ganz besonders: Es ist eigentlich ein Gedicht von Mascha Kaléko, gesungen von Dota Kehr. Sozusagen grundlos vergnügt"

Schüttel-Momente

Tage, an denen man die Leiter zum Himmel leicht erklimmt. Ja, die gibt es. Gott sei Dank. Aber jede und jeder kennt auch diese anderen Tage, da man schnell herunterfällt von dieser Leiter und sehr hart aufprallt in einer anderen Wirklichkeit. "Doomscrolling" heißt ein Phänomen, das in den Debatten im und übers Internet in den letzten Jahren immer wieder diskutiert wurde: Gemeint ist damit, sich exzessiv durch schreckliche Nachrichten zu scrollen und zu klicken: eine Untergangsnachricht nach der anderen wahrnehmen – und noch eine Untergangsnachricht.[2] Und noch eine. "Untergang" auf Englisch: "Doom", deshalb Doomscrolling. Das geht auch ohne Smartphone und Tablet, mit den Hiobsbotschaften, die täglich mit der Zeitung ins Haus flattern und über den Bildschirm flackern. Dann kommt einem die Lektüre der Morgenzeitung wie Doomscrolling vor: Menschengemachter Klimawandel, Streit in der Ampelkoalition, steigende Preise, Krieg, Terror und hohe Umfragewerte für die, die eher Öl ins Feuer gießen als vernünftige Lösungen anzubieten – nicht nur hier in Deutschland. Und vieles davon steht nicht nur in der Zeitung: Es betrifft uns unmittelbar.

Da möchte ich die Welt und meine Mitmenschen nicht umarmen – da will ich sie eher schütteln.

Wenn etwa jemand den Klimawandel leugnet. Man sitzt zusammen mit Freunden und Bekannten. Das Gespräch kommt auf die globale Erwärmung und auf die Frage, welches Alltagesverhalten noch verantwortbar ist, Autofahren, Fliegen und so weiter. Und dann sagt einer: "Wärmere Tage gab es doch früher auch schon. Das ist doch kein Grund, heute aufs Autofahren zu verzichten oder weniger zu heizen. Das ist halt so." Wenn jemand so tut, als sei menschengemachter Klimawandel kein ernsthaftes Problem, als würden wir nicht gerade die Zukunft unserer Kinder und Kindeskindes verspielen. Da will ich diese Person einfach nur schütteln und in Anlehnung an Greta Thunbergs einstige Rede vor der UN ausrufen: Wie kannst du nur![3]

Ich lese vom Antisemitismus in diesem Land, etwa von "einem versuchten Brandanschlag auf eine jüdische Gemeinde in Berlin" oder davon, dass Unbekannte "Davidsterne" an Häuser schmieren:[4] Wie schrecklich! Dann möchte ich die Täter:innen und Schreihälse einfach nur schütteln und rufen: Wie könnt ihr nur! Wie könnt ihr es wagen!

Ich lese, wie viele Menschen in diesem Land die Partei wählen oder wählen würden, die vom Verfassungsschutz in Teilen als "gesichert rechtsextremistisch" behandelt wird.[5] Ich empfinde das als bedrohlich. Unser politisches System mag nicht perfekt sein, aber es enthält großartige Errungenschaften, Freiheiten: unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, unser Rechtsstaat mit allen Bürgerrechten, Parteien- und Meinungsvielfalt, die tiefe Überzeugung, dass Menschenwürde allen Menschen zukommt, unabhängig von ihrer Herkunft. Wenn jemand all das für selbstverständlich nimmt oder durchs eigene Wahlverhalten aufs Spiel setzt: Dann möchte ich die Person einfach nur schütteln. Was auch immer euch dahin treibt: Wie könnt ihr nur?

Doch ich weiß: Schütteln bringt niemanden zur Vernunft.

Und manchmal habe ich das Gefühl, ich müsste mich selbst schütteln. Wenn ich daran denke, wie wenig ich mich gegen Hass und Diskriminierung in diesem Land einsetze. Wie viel ich besitze, und mit wie wenig andere auskommen müssen. Wenn ich sehe, wieviel CO2 mein Lebenswandel verursacht. Wenn ich es einfach nicht mache, mich bei jemandem zu melden. Obwohl ich weiß, wie sehr es ihn, wie sehr es sie freuen würde. Wenn ich an meinen kleinen Beitrag zur sozialen Kälte in diesem Land denke. Wenn, ja wenn… Dann schüttelt es mich.

Offen bleiben

All das gehört offenbar zu der Welt, die wir geschaffen haben, all das, wofür ich die Welt, die Menschen und manchmal auch mich selbst schütteln will: Da tun Menschen einander Schreckliches an– kurz gesagt: die Schuld von Menschen, auch von frommen Menschen, auch in der Kirche – all das zieht sich durch die Geschichte des Christentums und auch schon durch die biblischen Geschichten.

Ich möchte das nicht sehen, nicht hören, nicht lesen. Nicht wenn es um die Schuld von anderen geht – und noch weniger, wenn es um meine eigene Schuld geht. Lieber will ich bei den Welt-Umarm-Momenten bleiben: Das wär‘s doch! Das wäre so viel angenehmer, schöner und einfacher!

Oder schnell eine einfache Lösung und einen einfachen Erlöser finden: Wie angenehm wäre das, wenn es einen Politiker gäbe, der auf alle Fragen eine Antwort hätte, der eine Lösung gegen den Klima-Wandel, die steigenden Preise und im Nahost-Konflikt hat – und der mit Macht und entschlossen durchgreift und diese Lösungen umsetzt. Oder wenn sich jemand finden würde, der für all das verantwortlich ist, irgendeiner, der schuld an Corona und schuld an der Klimakatastrophe und am Rechtsruck ist. Wenn es diese eine Person gäbe, könnte man wütend auf sie sein, könnte man aus der Stadt jagen und alles wäre besser.

Aber so funktioniert das nicht. Das führt nur zu mehr Gewalt. Die einfache Lösung und den einfachen Erlöser gibt es nicht. Und was als einfache Lösung daherkommt, ist auf den zweiten Blick dann doch mit Opfern verbunden. Sündenböcke auszumachen – das löst keine Probleme.

Den Schüttel-Momenten lässt sich nicht so einfach entkommen. Es ist besser nicht zu ignorieren, was mich schütteln lässt.

Ich habe begriffen: Die Welt-Umarm-Momente und die Schüttel-Momente gehören zusammen. Wie zwei Seiten einer Medaille. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Wenn ich mich so starr mache, dass mich nichts mehr schüttelt, kann ich auch nicht mehr umarmen. Schütteln und Umarmen-Wollen: Beides hat mit Liebe und Staunen zu tun. als würde ich aufwachen aus Gleichgültigkeit. Ich will berührbar bleiben, ansprechbar. Ich will mich noch erschüttern lassen und schütteln. Ich will offen bleiben für die Welt. Ich ringe mit dem, was ist und sehne mich nach dem, wie es sein könnte. Und beides hat mit Gott zu tun.

Gott liebt

Schütteln- und Umarmenwollen, Lieben und Ringen: Die Bibel sagt – so ähnlich und doch ganz anders geht es Gott mit uns Menschen und mit mir.

Denn da ist noch ein zweiter Faden, der sich durch die Geschichten der Bibel zieht: Gott ringt mit den Menschen, mit ihrer Lieblosigkeit und Grausamkeit. Gott zürnt und grollt über die Grausamkeit der Menschen, Gott redet ihnen ins Gewissen – und dann immer wieder: Gott erbarmt sich seiner Welt, liebt die Welt und seine Geschöpfe. Gottes Lieben zieht sich durch die Bibel, durch das Ringen, Zürnen und Vergeben: Gott liebt die Welt.

"Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." (Joh 3, 16))

Am Anfang des Johannesevangeliums ist in diesen viel zitierten Worten von Gottes Liebe die Rede. So sehr hat Gott die Welt geliebt: Gott geht ganz ein in diese Welt, wird Mensch. Jesus isst mit anderen Menschen, wandert und feiert mit anderen Menschen – und stirbt hilflos-verletzlich wie ein Mensch am Kreuz. An diesen Kreuzestod und den Weg dahin gedenken Christ:innen auf der ganzen Welt in der Passionszeit, in der wir gerade sind. Was hat all das mit der Liebe Gottes zu tun?

Ausgetobt

Diese Frage hat auch Dietrich Bonhoeffer beschäftigt.  1906 geboren, begann seine Karriere als vielversprechender Nachwuchstheologe an der Berliner Fakultät. Mit 24 Jahren bereits hat er Doktortitel, Vikariat und Habilitation in der Tasche. Die Herrschaft der Nationalsozialisten durchkreuzt sein Leben. Früh, bereits 1933 setzt er sich für die Rechte von Jüdinnen und Juden ein, auch außerhalb der Kirche. Er bildet künftige Pastoren aus, bald im Untergrund. Dann – nach Kriegsbeginn 1939 – geht er in den konspirativen Widerstand, ist beteiligt am Attentat gegen Hitler am 20. Juli. Dafür wird er letztlich verhaftet. Und kurz vor Kriegsende 1945 von den Nazis im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet. 1940, mitten im Krieg und im Widerstand, schreibt er von der Liebe Gottes.

"Die Liebe Gottes zur Welt zieht sich nicht aus der Wirklichkeit zurück in weltentrückte edle Seelen, sondern sie erfährt und erleidet die Wirklichkeit der Welt aufs härteste. Am Leibe Jesu Christi tobt sich die Welt aus. Der Gemarterte aber vergibt der Welt ihre Sünde. So geschieht Versöhnung. Ecce homo."[6]

Am menschgewordenen Gott tobt sich die Welt aus – und dieser Gott verliert darüber nicht seine Liebe zur Welt.

Auf den Kopf gestellt

Das stellt eines meiner Gottesbilder auf den Kopf: Ein Teil von mir sieht Gott eigentlich als allmächtiges Wesen, das gar nicht leiden kann und über den Dingen der Welt schwebt – ein bisschen, wie in dieser kindlichen Vorstellung: Ein alter Mann mit langem Gewand und weißem Bart thront hoch oben auf einer Wolke und schaut auf das wilde Treiben hier unten auf der Welt herab, überlegen, gelassen, unberührt.

Aus der Bibel, und gerade von dem Bonhoeffer-Zitat lerne ich aber, ganz anders von Gott zu denken. Dann ist da Gott, der sich nicht auf die sichere Wolke zurückzieht. Gott liebt mit Haut und Haaren und vollem Einsatz. Gott ringt, ist erschüttert und Gott leidet an dieser Welt. Wo ich mich bloß schüttle oder schütteln will – da lässt es Gott zu, dass die Welt sich an Gott austobt mit all ihrer irrsinnigen Grausamkeit. Wo ich dem Schütteln entkommen will – da bleibt Gott da, verletzlich, erschütterlich, bis zum bitteren Ende. Gott hockt nicht auf der sicheren Wolke, sondern ist verletzlicher Mensch unter Menschen geworden. Aus Liebe.

Wohltuende Nähe

Etwas fremdele ich mit diesem Gedanken – und gleichzeitig finde ich ihn wunderbar wohltuend. Denn das heißt doch: Gott hat aus Liebe zu uns Menschen dieses menschlieh Leben am eigenen Leibe erlebt, mit seinen himmelhochjauchzenden Feiern. Und mit seiner abgrundtiefen Grausamkeit – auch die hat Gott aus Liebe am eigenen Leibe erlebt: Von Freunden gerade in der Stunde der größten Not verlassen werden. In Einsamkeit und Angst die Nacht durchwachen. Von der schreienden, johlenden Menschenmenge verlacht und verspottet werden. Die Verzweiflung, von Gott und der Welt verlassen zu sein. Körperlicher Schmerz, Durst und Erschöpfung.

Deshalb reicht Gottes Liebe bis in diese tiefsten Tiefen menschlichen Lebens. Wo ich Lichtjahre davon entfernt bin, die Welt zu umarmen wollen – gerade da umarmt Gott mich liebevoll.

Wo ich nicht mehr die Welt umarmen kann oder mag, auch da bin ich von Gottes Liebe umarmt. Das hilft mir, mich selbst anzunehmen. Es hilft mir offen zu bleiben. Es hilft mir zu ringen mit dem, was ist, und mich zu sehnen nach dem, wie es sein könnte. Und es hilft auch, diese Momente zu genießen, in denen ich die Welt umarmen will: Wenn die Vögel morgens um die Wette zwitschern. Oder wenn da die Teetasse plötzlich auf dem Schreibtisch steht, mit Herzchen und Zwinker-Smiley. Gott sei Dank.

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.

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