Herr Stahl, seit wann und warum beschäftigen Sie sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt und Missbrauch in der evangelischen Kirche?

Andreas Stahl: Ich hatte mich für meine Doktorarbeit ab 2016 relativ viel mit Traumaforschung auseinandergesetzt. Dabei habe ich gemerkt, dass das nicht geht, ohne sich mit dem Thema sexueller Missbrauch zu beschäftigen, weil er eine der Hauptursachen für traumatische Erfahrungen in unserer Gesellschaft ist. Mir wurde dann klar: wenn ich mich als Theologe mit Traumata in Folge von Missbrauch beschäftige, dann geht das nicht, ohne auch auf den eigenen, den innerkirchlichen Kontext zu schauen. Was passiert da an traumatischer Gewalt? Das war der Weg von der Traumaforschung zum Thema Missbrauch hin zum Missbrauch in Kirchen. 

Gerade arbeiten Sie an einem Habilitationsprojekt zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche.  

Genau. Als ich die Doktorarbeit 2018 abgeschlossen hatte, war von Seiten der Evangelischen Kirche noch wenig passiert in der Aufarbeitung. Da wurde mir klar, dass es wichtig ist, da weiter dranzubleiben.

Gibt es nach Ihren Erkenntnissen spezielle evangelische Strukturen oder Besonderheiten in der evangelischen Kirche, die Missbrauch befördern?

Diese evangelischen Besonderheiten gibt es sicher. Das hat die vor einem Monat veröffentlichte ForuM-Studie gezeigt und es gab auch schon vorher Forschungsarbeiten, die darauf hingewiesen haben. Zum Beispiel die Vermischungen von Beruflichem und Privatem exemplarisch im Pfarrhaus, Tabuisierungen oder die Macht von Amtsträgern. Das idealisierte Selbstbild der evangelischen Kirche spielt auch eine Rolle. Vieles ist aber auch ambivalent. Die Rolle von Vertrauen zum Beispiel. Und ich finde auch wichtig zu sehen, dass in den Stärken eines Systems auch Risiken liegen können. Das ist in der Kirche beispielsweise das Ethos des Helfens und dass es Raum für Spiritualität gibt. Beides sind erstmal Stärken, aber auch zwei Bereiche, die besonders mit Blick auf Missbrauch in den Kirchen auch ihre Risiken haben. 

Was sind die Risiken beim Ethos des Helfens und der Spiritualität? 

Ein signifikanter Anteil der Missbrauchsfälle hat ja in Heimen stattgefunden. Warum waren die Kirchen so stark in die Heimarbeit und Heimerziehung involviert? Der Impuls dahinter war ja erstmal, Menschen in Not zu helfen. In den Heimkontexten gab es dann aber gravierende Probleme. Das hat den Raum für schier unbeschreibliche Gewalt geöffnet. Helfen führt sehr oft zu Machtasymmetrien. Und wenn das dann nicht mehr kontrolliert wird, kann es schnell von Machtasymmetrien zu Machtmissbrauch kommen. 

Das andere ist, dass es im kirchlichen Kontext Raum für Spiritualität gibt. Das ist prinzipiell etwas Gutes, aber auch das kann ein Machtfaktor sein. Es gibt einen Fachbegriff des spirituellen Missbrauchs – da werden religiöse Vorstellungen benutzt, um Leute zu manipulieren, für eigene Interessen gefügig zu machen. 

Ich finde es wichtig bei der Rede über Risiken auch auf die Stärken des Systems zu schauen, weil sich eben auch daraus Risiken ergeben. Missbrauch ist leider etwas sehr perfides. 

Haben Sie in Ihren Arbeiten auch auf die katholische Kirche geschaut? 

Ja, dort gibt es viel mehr Forschung als im evangelischen Bereich. Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Das Thema Pfarrhaus und die Vermischung von Beruf und Privatem, diese ganz unklaren Strukturen, die sind eher etwas Evangelisches. Dann gibt es aber auch Gemeinsamkeiten. Es geht immer um Personen in mächtigen Positionen, die, auch indem sie sich Religion und Spiritualität bedienen, ihre Macht missbrauchen. Und es gibt auch spezifisch katholische Faktoren. 

Was hat die evangelische Kirche in der Vergangenheit beim Thema Missbrauch versäumt? 

Es wurde sehr viel versäumt und das zeigt die ForuM-Studie auch auf schmerzhaft ehrliche Weise auf. 2018 war eine wichtige Zäsur. Ab da gab es einige positive Entwicklungen, sowohl in der Prävention als auch in der Intervention und Aufarbeitung. 

2018 ist zweierlei passiert. Das eine war ein wichtiges Hearing, organisiert von einer Forschungskommission, in der auch viele evangelische Betroffene gesprochen haben. Das hat Druck erzeugt. Das zweite war, dass 2018 die katholische MHG-Studie veröffentlicht wurde und damit eine katholische Aufarbeitungsstudie vorlag und eine evangelische noch nicht mal eingeleitet wurde. 

Ein Aspekt, der auch vernachlässigt wird, ist die theologische Dimension. Ich glaube, dass die Kirche keine Krise bewältigen kann, wenn sie sich nicht auch mit der theologischen Dimension der Krise auseinandersetzt. Diese theologische Aufarbeitung gibt es nach meinem Eindruck bisher noch nicht so stark.

Was verstehen Sie darunter?

Ein ganz wichtiger Aspekt wäre es, den christlichen Glauben noch mal neu aus der Perspektive Betroffener zu betrachten. Also zu schauen wie haben sie den christlichen Glauben erlebt und wo sind die Schattenseiten? Es gibt ja verschiedene Themen, wo man das gut aufzeigen kann: Etwa die Probleme des christlichen Vergebungsideals oder auch speziell protestantisch die Rechtfertigungslehre, die ja auch zu so einer Egalisierung von Tätern und Opfern führen kann. 

Was meinen Sie damit? 

Ich sage es mal einfacher: Egalisierung bedeutet Gleichmachung. Bei der Rechtfertigungslehre geht es um Gottes Vergebung, unabhängig von dem was wir tun. Damit verlieren die Taten ganz viel von ihrer Bedeutung vor Gott. Auch die Missbrauchstaten. Damit werden Opfer schnell auf eine Ebene mit Tätern gestellt. 

Ich glaube eine wichtige Herausforderung für die theologische Aufarbeitung wird sein, die Erfahrungen Betroffener als theologische Quellen oder Bezugspunkte ernst zu nehmen. Es gibt da sehr viel zu lernen über die Ambivalenz vieler christlicher Glaubensinhalte. 

Was müsste besser laufen bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle aus der Vergangenheit? 

Das ist eine große Frage. Betroffene müssten auf jeden Fall mehr gehört werden. Aufarbeitung ohne Beteiligung Betroffener geht nicht. Über die Jahre ist vieles nur auf ihren Druck hin passiert. Sie sind das entscheidende Korrektiv. Es ist auch nochmal etwas anderes, wenn man sich mit konkreten Lebensgeschichten Betroffener auseinandersetzt als nur mit Zahlen oder Statistiken.

Und was brauchen die Betroffenen selbst?  

Ich finde es wichtig, dass man die jeweiligen Personen selber fragt, denn sie wissen am Besten, was sie brauchen. Es gibt unter den Betroffenen sehr viele unterschiedliche Menschen, die an unterschiedlichen Punkten stehen und auch verschiedene Positionen haben. Was sie nicht brauchen, ist Bevormundung. 

Buchtipp

Entstellter Himmel 

Berichte über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche, herausgegeben von Christiane Lange, Andreas Stahl und Erika Kerstner

Verlag Herder, 1. Auflage 2023, Gebunden, 240 Seiten

Was sind die ersten Erkenntnisse Ihres Habilitationsprojektes zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche?

Ich kann allen Interessierten die Lektüre von "Entstellter Himmel" ans Herz legen, einem Teil meiner Habilitation. Das Buch sammelt Berichte von Betroffenen, da wird sehr viel wichtiges gesagt.

Aktuell arbeite ich für ein Teilprojekt mit einer Pfarrerstochter zusammen, die von ihrem Vater missbraucht wurde und die ihren Bewältigungsweg in Gedichte und Gebete gefasst hat. Das sind bewegende und erschütternde Texte. Die beleuchte ich aus der Sicht der Literaturwissenschaft, der Traumaforschung und der Theologie. Ich glaube, dass diese Texte auch der evangelischen Kirche sehr Wichtiges zu sagen haben. 

Es geht darum, wie die Traumaspuren ihr Leben prägen, auch im Glauben. Welche Fragen an Gott sie stellt. Wo findet sie Hoffnung, was findet sie überhaupt nicht tragbar, was erwartet sie von der Kirche? Wie erlebt sie die verschiedenen kirchlichen Feiertage wie Weihnachten oder Ostern?

Wie verhindert die Kirche heute Missbrauch? Was müsste besser laufen? 

Inzwischen hat sich manches getan. Und zumindest für Bayern kann ich sagen, dass auch hohe Maßstäbe angelegt werden. Der Blick auf die letzten Jahre EKD-weit zeigt aber auch, dass die Beschäftigung mit dem Thema Missbrauch, vor allem von oben nach unten verordnet wurde. Auf Druck Betroffener und der Öffentlichkeit wurden die Kirchenleitungen quasi gezwungen, sich mit dem Thema intensiver zu beschäftigen. 

Nun kann man sehen, dass die Leitungsorgane diese Thematisierung von der Basis einfordern. Alle Gemeinden müssen jetzt beispielsweise Präventionskonzepte erstellen. Das ist wichtig.

Ich glaube, dass die ForuM-Studie da ein heilsamer Schock war, der auch hineinwirkt in die Breite der Basis. Ich hoffe, dass der Schock stärker ist als die Verdrängungstendenzen, die es auf jeden Fall auch gibt. 

Denken Sie auch, dass die ForuM-Studie unzureichend war, weil nicht genügend Akten zur Verfügung gestellt wurden? Wie schätzen Sie den Wert der Studie ein? 

Ich schätze ihren Wert sehr hoch ein. Natürlich ist es eine Frage, welche Maßstäbe man anlegt und eine breitere Datenbasis ist immer besser als eine schmalere. Und natürlich hat die Studie verschiedene Grenzen. Aber ich finde, dass es auch jetzt schon so viele wichtige Impulse gibt. Die Debatte ist sehr stark fokussiert auf den Teil mit den Personalakten. Ich würde aber auch den Blick auf die anderen Teile nicht verlieren, wo auch Wichtiges gesagt wurde, wo etwa qualitative Interviews mit Betroffenen geführt wurden. Ich finde wichtig, dass das jetzt nicht hinter dieser Zahlenfrage so stark zurücktritt.

Wie schätzen Sie die Reaktionen der Landeskirchen auf die Studie ein? 

Es hat mich tatsächlich überrascht, wie viele von der Studie überrascht waren. Bei dem Teilprojekt E wurden ja die meisten Daten von den Landeskirchen selbst generiert, deshalb hat es mich gewundert, warum man sich so hat überraschen lassen. 

Das andere ist, dass von den Mustern, auch wenn man auf die qualitativen Teile schaut, vieles abzusehen war, wenn man sich schonmal mit dem Thema befasst hat. Es hat mich gewundert, wie wenig vorbereitet die Landeskirchen waren, auf eine Studienveröffentlichung, die mehrere Jahre lang angekündigt war. Ich glaube das liegt auch daran, dass leider mehr Menschen als gehofft die Tragweite des Themas und die Notwendigkeit, sich damit intensiv zu beschäftigen, selbst kurz vor der Veröffentlichung der Ergebnisse immer noch nicht erkannt hatten. Bedauerlicherweise. 

Und nach der Veröffentlichung?

Jetzt hoffentlich schon. 

Was müssten Ihrer Meinung nach die nächsten Schritte der bayerischen Landeskirche sein?

Ich bin ja selber auch Teil der Landeskirche. Jeder sollte sich jetzt fragen: Was kann mein Beitrag sein? Mir ist es wichtig, dass ich aus den Ergebnissen der Studie möglichst viel lerne und beispielsweise nochmal kritisch auf die Präventionsarbeit in meiner Gemeinde schaue. Ich finde es wichtig, dass ich Verdrängungstendenzen widerstehe. Die gibt es sicher auch in mir selber und die werden auch in der Landeskirche und in der evangelischen Kirche insgesamt wieder stärker werden. 

Ich will auch versuchen, für Betroffene ansprechbar zu sein. Und ich will als wissenschaftlicher Theologe einen Beitrag zur theologischen Aufarbeitung leisten. Ich finde, dass die Krise bei all dem Schmerz auch eine Chance ist, als Kirche die christliche Botschaft nicht weiter zu verraten, sondern sie neu ins Zentrum zu stellen. Und ich sage das mal theologisch: Wo die Kirche Missbrauch ermöglicht oder deckt, stellt sie sich gegen Gott. Und trennt sich damit von dem, woraus sie jetzt lebt. Deswegen ist das Gebot der Stunde nicht Selbstrechtfertigung, sondern Umkehr.

Umkehr in welche Richtung? 

Sich erstmal wirklich von dem berühren und erschüttern zu lassen, was Menschen da angetan wurde. Umkehr im Sinne davon, seine eigenen Verstrickungen in das Thema hinein zu erkennen. Und vor allem: Verantwortung für Aufarbeitung zu übernehmen, in ihren verschiedenen Aspekten und Dimensionen. 

Zur Person

Andreas Stahl, Jahrgang 1989, studierte evangelische Theologie, ist Traumafachberater und Pfarrer an der Erlöserkirche in Augsburg. 

2019 erschien seine Doktorarbeit über “Traumasensible Seelsorge: Grundlinien für die Arbeit mit Gewaltbetroffenen”. Aktuell arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. 

Als Teil seiner Habilitation erschien 2023 das Buch: „Entstellter Himmel: Berichte über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche“, das Stahl gemeinsam mit Christiane Lange und Erika Kerstner herausgab. Zehn Menschen, die in der evangelischen Kirche Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind, erzählen in diesem Buch, was sie erlebt haben.

Stahl ist außerdem Mitglied im Vorstand von “GottesSuche”, einer ökumenischen Initiative, die sich für Menschen mit Missbrauchserfahrungen einsetzt.

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