Die letzten Worte des verstorbenen Papstes Benedikt XVI. sind die aktuelle Antwort des emeritierten Petrus-Nachfolgers auf die dreimalige Frage des Auferstandenen an den einstigen Apostelführer, ob er ihn lieb habe (Joh 21,15-17). Zugleich bringen diese vermächtnisartigen Worte in konzentrierter Weise zum Ausdruck, was sein dreibändiges Werk "Jesus von Nazareth" im Detail dargelegt hatte.
Man kann diese Bände ohne Weiteres als die zentralen Bücher des einstigen Systematischen Theologen Joseph Ratzinger und späteren Papstes Benedikt XVI. begreifen.
"Jesus von Nazareth"
Während seines Pontifikats hat der am letzten Tag des Jahres 2022 verstorbene Ex-Pontifex dieses spirituelle Werk veröffentlicht. Es bestätigt den kritischen Umgang mit der historisch-kritischen Methode als einem gleichsam verselbständigten Kind der Aufklärung. Bekanntlich hat diese Methode, dieser liberal-theologische Denkansatz zum Programm der "Entmythologisierung" des Neuen Testaments geführt und einer großen exegetischen Willkür unter dem Mantel der Wissenschaftlichkeit Tür und Tor geöffnet.
Das biblisch überlieferte Bild und Verständnis des apokalyptischen Wanderpredigers Jesus von Nazareth ist im Zuge dieser Entwicklung gewissermaßen in tausend Stücke zerbrochen. Von daher beklagte der Papst alias Joseph Ratzinger bereits im Vorwort: "Der Riss zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens wurde immer tiefer, beides brach zusehends auseinander. Was aber kann der Glaube an Jesus den Christus, an Jesus den Sohn des lebendigen Gottes bedeuten, wenn eben der Mensch Jesus so ganz anders war, als ihn die Evangelisten darstellen und als ihn die Kirche von den Evangelien her verkündigt?"
Nicht dass der deutsche Papst mit seinem Werk die historisch-kritische Methode vom Tisch der Wissenschaft fegen wollte!
Vielmehr bekennt er dankbar, ihr viel an Erkenntnis zu verdanken. Im Übrigen betont er ohnehin, sein Buch nicht mit der Autorität des Papstamtes der Öffentlichkeit vorzulegen, sondern primär als persönliche Frucht seines Gelehrtenlebens. Was er angestrebt hat, ist eine Ergänzung der Historisch-kritischen Methode durch eine zweite, nämlich die der "kanonischen Exegese". Die sollte besagen, dass ein biblischer Text jeweils im Gesamthorizont der Heiligen Schrift auszulegen und zu beleuchten sei. Damit steht der Papst der Einsicht Martin Luthers überraschend nahe, dass die Bibel ihr eigener Interpret sein muss.
Durch die Anwendung dieser beiden Methoden im Verbund miteinander ergibt sich ein farbiges, aussagekräftiges Jesusbild: Es entspricht dem kirchlichen Grunddogma von der Doppelnatur Jesu Christi, der sogenannten Zweinaturenlehre. Der menschlichen Natur Jesu zollt dabei eher die historisch-kritische Methode Tribut, seiner göttlichen Natur eher die "kanonische Exegese". Beide gehören unter theologisch-spirituellem Aspekt untrennbar zueinander, wiewohl sie klar unterscheidbar sind.
Dieser Ansatz erweist sich als durchaus fruchtbringend.
Denn tatsächlich zerfällt bei einer bloßen Anwendung der Historisch-kritischen Methode die Jesusfigur in vielerlei unsichere Aspekte mit wenigen klaren Zügen; und notgedrungen wird sie dann einem grenzenlosen Pluralismus willkürlicher Deutungen ausgesetzt, von denen ja keine völlig frei von irgendwelchen Glaubenselementen ist – seien sie theologischer, philosophischer oder sonstiger Natur. Demgegenüber muss es im Sinne christlicher Kirche unabhängig von der jeweiligen Konfession sein, die Historizität Jesu Christi einerseits festzuhalten und andererseits auch seine bereits im Neuen Testament deutlich in ersten Ansätzen bezeugte Göttlichkeit.
Die biblisch ausgesagte Heilsbedeutung Christi muss heutzutage kirchlich ebenso transportiert werden wie früher, wenn Kirche nicht ihre eigene religiöse Irrelevanz befördern will. Insofern bleibt dieses Werk Ratzingers auch aus protestantischer Sicht zu begrüßen.
Protestantische Perspektive
Freilich sind hier aus protestantischer Sicht zwei Einschränkungen nötig: erstens dort, wo der Papst in typisch katholischer Weise zwischen Heiliger Schrift und mündlicher Tradition als maßgeblichen Quellen kirchliche Verkündigung nicht angemessen unterscheidet. Und zweitens ist zu bedenken, dass das Gewicht der "kanonischen Methode" bei dem jetzt Verstorbenen zuweilen die historisch-kritische Methode vielleicht doch zu forsch ausgehebelt oder hintangestellt hat.
Indes – hat nicht umgekehrt die liberale Theologie allzu forsch das notwendige Gegengewicht einer solchen "kanonischen" Methode übergangen und damit zum Niedergang der Kirchen in Europa beigetragen? Darum resümiere ich: Wenn nach dem geistigen Vermächtnis des Papstes aus Bayern gefragt wird, ist sein dreibändiges Jesus-Werk mit an erster Stelle zu nennen.