"Und ewig singen die Wälder"? Nein, denn anders als Gebirge oder Meer sind, auch wenn es so scheint, Wälder alles andere als Landschaften ewiger Unveränderlichkeit. In Europa sind sogar die vermeintlichen Urwälder keine Urwälder, sondern Kulturlandschaften, in die sich seit Jahrtausenden der Mensch mit seinem Wirken und Wirtschaften eingeschrieben hat.

"Vom Wald" – Alexander Graus süffiger und höchst anregender Essay über die Freiheit im und durch den Wald – ist mehr als eine Kultur- und Ökologiegeschichte des Waldes. In diese schlägt das Buch vielmehr eine Schneise. Sie zeigt: Der Wald braucht uns Menschen nicht, aber wir Menschen brauchen den Wald. Nicht zuletzt, um unsere menschliche und individuelle Freiheit zu entdecken und zu verteidigen.

Bedrohung und Alternative

Fast zu allen Zeiten in der Geschichte der Menschheit war der Wald ein bedrohlicher Ort. "Alles Böse kam aus den Wäldern", sagen die nicht im Wald lebenden Menschen in Trygve Gulbranssens Norwegen-Saga "Und ewig singen die Wälder". Doch der Wald war immer auch ein menschlicher Zufluchtsort, ein Ort der Alternative, jenseits der Zentren menschlicher Kultur und Zivilisation. Im Wald, da sind die Räuber, nicht nur im Spessart oder im ­Dachauer Hinterland wie der Kneißl Hias. Auch Kämpfern für ein anderes, ein gerechteres Leben wie Robin Hood bietet der Wald Schutz und Versteck.

Der Wald ist der bedrohlich-dunkle Tann, in dem man sich verirren kann, in dem Hexen, Geister und Feen regieren und verwirren. "Als unseres Lebens Mitte ich erklommen, befand ich mich in einem dunklen Wald, da ich vom rechten Wege abgekommen", lauten die berühmten ersten Zeilen von Dantes Göttlicher Komödie, die am Anfang der modernen europäischen Literatur steht. 

Der Wald wird die Menschen überleben

Bei Dante ist der dunkle Wald ("selva oscura") ein Sinnbild für die Verstrickungen des Menschen in die Sünde. Es braucht einige läuternde Wege, bis Dantes Wanderer erkennt, dass es sich in Wahrheit um eine "selva antica", den sehr alten Wald existenzieller menschlicher Erfahrung handelt.

Als die Brüder Grimm die deutschen Märchen sammelten, in denen dieser kulturgeschichtlich und psychologisch tiefe Wald eine so bedeutende Rolle spielt, hatte dieser das ihm innewohnende Bedrohliche bereits verloren. 

Industrialisierung und Verstädterung der Welt haben seither immer mehr Fahrt aufgenommen. In der Gegenwart des Anthropozäns, im vom Menschen gemachten Erdzeitalter, unter dem toxischen Einfluss der Zivilisation, scheint der Wald zum Pflegefall des Klimawandels geworden zu sein. Aber: Der Wald mag sich verändern, wie schon oft in seiner Geschichte, vielleicht sogar dramatisch, aber er wird überleben, wie er das immer getan hat in der Geschichte des Planeten.

Der romantische Blick ...

Die Zeit der Romantik markiert jedenfalls den Anfang eines neuen Blicks auf den Wald, der im Unbehagen an der menschlichen Zivilisation wurzelt: Gerade als der Sieg der Städte festzustehen scheint, regt sich die Ahnung, dass alle menschlichen Schöpfungen – Kirchen, Häuser, Dörfer, Äcker, Weiden – früher oder später dem Verfall anheimgegeben sind und früher oder später wieder von der Natur, vom Wald überwuchert werden. 

Caspar David Friedrich hat dieses Übergreifen des Waldes auf die Ewigkeitsansprüche des Menschen in seiner "Klosterruine Eldena" symbolisch dargestellt. Nicht nur für Wandervögel wird der Wald zu einem Gegenbild – einem Weltentwurf ohne die Mauern grauer Städte, ohne die Konventionen der in ihnen lebenden Spießer.

Der romantische Blick auf den Wald kann unterschiedlichste Färbungen annehmen. Grünlich-esoterische ebenso wie rötlich-kommunistische – und mischt man beide Farben, kommen Brauntöne ins Spiel. Im völkisch-national vereinnahmten "deutschen Wald" wurden erst Napoleon und dann der westlich-demokratische Ungeist ebenso siegreich bekämpft wie knapp zwei Jahrtausende zuvor bereits die Römer.

... ein Holzweg

Der deutsche Wald hat den Zweiten Weltkrieg überlebt – versehrt zwar, woran einst das 50-Pfennig-Stück erinnerte, aber er lebt und ist in der Gegenwart zum Freizeitpark und Schutzgebiet geworden.

Alle historischen und zeitgenössischen Versuchungen, den Wald zu romantisieren, führen jedoch – folgt man dem Philosophen Alexander Grau – auf den Holzweg. Heutige Versuche, durch das Umarmen von Bäumen oder Waldbaden "zurück zu einer authentischeren Naturwahrnehmung und Selbsterfahrung zu kommen", sind für ihn "nicht nur intellektueller Kitsch der Extraklasse, sondern übersehen in ihrer Selbstfixiertheit, dass der Wald genau jener Lebensraum ist, der mehr als alle anderen Landschaften sich einer umfassenden und doktrinären Sinndeutung entzieht."

Er ist eben gerade nicht "ewig", der Wald. "Wälder sind Palimpseste der Natur", schreibt Grau: "Schichten legen sich über Schichten. Jahreszeiten über Jahreszeiten. Epochen über Epochen. Der Wald ist so wie er ist ein sich seit Jahrtausenden selbst überschreibender Text, in dem alle klimatischen, ökologischen und schließlich auch sozioökonomischen Veränderungen eingeschrieben sind. In diesem Sinne ist Wald Holz gewordene Geschichte. In den Wald gravieren sich Jahrtausende ein. Im Wald wird Zeit lesbar."

Der Ort der Freiheit

Das macht den Wald für den Menschen zum Symbol und Erfahrungsraum für alles Relative, Begrenzte und Endliche, für Werden und Vergehen, mithin für alles Nicht-Absolute. Und gerade deswegen ist der Wald philosophisch gesehen ein Ort der Freiheit, so Graus These.

Angst (nicht zuletzt die vor der Sinnlosigkeit) und Freiheit gehören zusammen. Das wusste nicht nur der evangelische Theologenphilosoph Sören Kierkegaard (1813-1855), das wusste auch der Existenzialist Jean-Paul Sartre (1905-1980), auf dessen Spuren Grau durch den Wald streift. Das ängstigende Erlebnis, dass man in diesem die Orientierung verlieren, gewissermaßen "voll in den Wald" geraten kann, gehört zu den grundlegenden Walderfahrungen. Doch wir Menschen haben gelernt, unser permanentes Verlaufen und Irren als Resultat von Lebenskompetenz zu kaschieren.

Menschliche Inkompetenzkompensa­tionskompetenz

Grau greift den Begriff "Inkompetenzkompensa­tionskompetenz" (Odo Marquard) als besondere Fähigkeit des Menschen auf: Gemeint ist, erklärt Grau, die "Schlüsselfähigkeit des Menschen, sich auf sein Herumirren einen halbwegs befriedigenden Reim zu machen. Sie beschützt uns vor der Verzweiflung." Denn ein Leben in dem permanenten Gefühl, die Orientierung verloren zu haben, wäre fürchterlich. "Also bilden wir uns ein, den richtigen Weg aus dem Wald des Kontingenten gefunden zu haben."

Kurz: Der Wald lehrt uns, dass nichts so sein muss, wie es ist, und alles auch völlig anders sein könnte.

Der Wald ist daher ein Ort des Erwachsenwerdens. "Bei den Brüdern Grimm", schreibt Grau, "begegnen die Helden im Wald geheimnisvollen Wesen, rätselhaften Gestalten, verlockenden oder bedrohlichen Erscheinungen. Sie stehen für alles, was uns unsere Entscheidungen im Moment der Orientierungslosigkeit abzunehmen verspricht. Mal ist es die gute Fee einer Religion oder der gütige Geist einer Ideologie, mal die Hexe einer Verlockung oder das Ungeheuer einer Besessenheit."

Freiheit heißt: den Wald verinnerlicht zu haben

An der "Waldhaftigkeit" unserer Existenz ändern all diese Orientierungsangebote leider nichts, oder jedenfalls nicht grundlegend: Erst wer die Unberechenbarkeit, die Unübersichtlichkeit, das Überraschende und ewig Veränderliche des Waldes als Realität menschlicher Existenz begreift, ist gefeit vor den Einflüsterungen der großen Sinnstiftungserzählungen, so Graus Überzeugung. Freiheit bedeutet dann: den Wald verinnerlicht zu haben.

Es geht um viel, denn jede menschliche Form der Kultur (auch der Religion!) trägt den Keim von Ideologie und Tyrannei in sich – beispielsweise in Gestalt von "Alternativlosigkeit". Nicht der Zufall des Unberechenbaren, das Einbrechen von Katastrophen, Tod, Krankheit ins Leben, also das, was Philosophen Kontingenz nennen, bedrohe in Wahrheit aber die Freiheit und Würde des Menschen, sondern dessen Hybris, der Welt einen Sinn aufzuzwingen. Man könne die Sinnlosigkeit der Welt nicht besiegen, ist Grau überzeugt. Nicht, indem man Städte baut, also Stein gewordene Manifeste der nur vermeintlichen und nur zeitweisen Abwesenheit des Waldes, nicht durch Wissenschaft oder ideologische Sinngebäude.

Heilsame Pluralität

Ein resignativer Befund sei diese skeptische Haltung aber nicht – im Gegenteil. Sie führt zur Entdeckung heilsamer Pluralität: "Erst die Zurückweisung der totalen Sinnoktroyierung im Namen universaler Gültigkeiten und Ordnungsvorstellungen ermöglicht die Freiheit des Einzelnen." Grau redet in seinem Essay also nicht einer neoexistenzialistischen metaphysischen Obdachlosigkeit das Wort, sondern verteidigt die menschliche Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen – jenseits von allen Absolutheitsansprüchen.

Zu denen zählt Grau übrigens auch zeitgenössische Selbstverwirklichungsfantasien. Denn insbesondere die Massenwohlstandsgesellschaft, in der wir leben, bietet dem Einzelnen nahezu uneingeschränkte Konsummöglichkeiten, die sich leicht mit individueller Freiheit verwechseln lassen. Doch: "Nur der Freie wählt den Weg der Freiheit. Der Unfreie hingegen fühlt sich wohl, geborgen und sicher in dem Gefängnis des Alltäglichen und seiner bequemen Versprechung."

Also, Ideologen der Freiheit, aufgepasst: Dieses Buch redet keiner politischen Position und schon gar keiner reinen Lehre das Wort. "Freiheit gibt es nur im Plural", betont Grau. "Wer von der einen Freiheit redet, meint nicht Freiheit, sondern eine intellektuelle Konstruktion, die unfrei macht. Frei ist der Mensch nur, wo es Freiheiten gibt." Freiheit, so Grau, sei niemals absolut oder prinzipiell. Das ist das Paradox der Freiheit: Absolute Freiheit macht absolut unfrei. Aber das Gespräch über die Freiheiten, das müssen wir führen.


Alexander Grau: Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit. Claudius Verlag München, 2023. 184 Seiten, 20 Euro. ISBN 978-3-532-62885-0

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