Seit 1991 kürt eine Jury von Sprachwissenschaftlern jedes Jahr das "Unwort des Jahres". Im Gründungsjahr stand die Parole "ausländerfrei" auf Platz eins: Als erste "ausländerfreie" Stadt hatten Neonazis 1991 das sächsische Hoyerswerda nach heftigen Ausschreitungen gegen Flüchtlingswohnheime etikettiert.

Unwort stammt wieder aus Migrationsdebatte

30 Jahre später stammt das Unwort wieder aus der Migrationsdebatte. 2021 lautet es: "Pushback". Wenn Grenzschützer ein Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer gegen geltendes EU-Recht in fremdes Gewässer schleppen oder wenn Polizisten Flüchtlinge an der kroatischen Grenze zurück nach Bosnien prügeln, dann hat sich dafür der Begriff des "Pushbacks" eingebürgert. Verharmlosend, sagt die Unwort-Jury: Das smarte Fremdwort verschleiere, dass ein Pushback nichts anderes ist als Rechtsbruch und Gewalt, auch mit Todesfolge.

30 Jahre Unwort des Jahres werfen auch ein Schlaglicht auf 30 Jahre deutsche Migrationspolitik. Viel ist passiert, und doch hat sich wenig verändert: Schlagworte wie "Drittstaatenregelung" und "sicheres Herkunftsland", durch den "Asylkompromiss" 1993 in Artikel 16a Grundgesetz festgeschrieben, bestimmen noch heute jede Migrationsdebatte.

Keine Spur von einem modernen Einwanderungsgesetz, das sich schon die Regierung Kohl in den 1990er-Jahren vorgenommen hatte.

Ampel will modernes Einwanderungsrecht

Nun versucht es die Ampel: In ihrem Koalitionsvertrag strebt die Bundesregierung "ein stimmiges, widerspruchsfreies Einwanderungsrecht" an. Konsequente Abschiebung von Geflüchteten ohne Asylanspruch bleibt, doch Ankerzentren und endlose Duldungsschleifen soll es nicht mehr geben. Stattdessen die Möglichkeit auf einen Job vom ersten Tag an  – unabhängig von den Bleibeaussichten. Mit einer "Blauen Karte" sollen nicht nur Akademiker mit Job­angebot ins Land kommen, sondern auch Menschen aus Ausbildungsberufen – dringend nötig in einer alternden Gesellschaft, die ohne Hilfe von außen bald weder ihre Arbeit wuppen noch die Renten zahlen kann.

Auch der jüngste Vorstoß von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) fußt auf den Koalitionsvereinbarungen: Faeser will zusammen mit anderen EU-Staaten eine "Koalition der Willigen" schmieden, die sich für eine neue Verteilungslogik und eine neue europäische Asylpolitik öffnet.

Christliche Parteien sehen Untergang Europas

Während Vertreter der christlichen Parteien angesichts dieser Pläne bereits den Untergang Europas skizzieren, sind Flüchtlingsorganisationen und Kirchen erleichtert über den neuen Kurs: Erst im Herbst 2021 hatten EKD und Bischofskonferenz ein ökumenisches Migrationspapier vorgestellt, das eine gerechtere, humanere Migrationspolitik fordert.

Wenn das nicht noch einmal 30 Jahre dauert, wäre es ein gewaltiger Vorwärtsschub für die Menschenwürde – statt der endlosen "Pushbacks" der Werte, die (noch) das Fundament von Europa sind.