Im Ukraine-Krieg prallen Ost- und West-Interessen nachösterlich immer heftiger aufein­ander. Am 25. April beschuldigte Präsident Putin die westlichen Länder, Russland zerstören zu wollen – da sie erkannt hätten, dass das von außen nicht gelingen werde, versuchten sie das "von innen heraus".

Öl ins Feuer

Die Unterstellung eines Zerstörungswillens gegenüber Russland bedeutet dabei mehr als einfach eine wütende Bemerkung oder einen ärgerli­chen Seufzer. Denn laut der 2020 abgeänderten Nukleardoktrin Russlands können Nuklear­waffen bereits zum Einsatz kommen als Ant­wort auf eine "Aggression gegen die Russische Föderation mit Einsatz her­kömmlicher Waf­fen", sofern dadurch die staat­liche Existenz selbst bedroht werde.

Putins aktuelle Bemerkung lässt sich insofern als Erneuerung der atomaren Dro­hung angesichts der zunehmenden Waffenlieferungen von westlicher, auch deutscher Seite lesen. Dem entspricht, dass am 26. April der russische Außenmi­nister Lawrow vor der "Gefahr eines Atomkriegs" warnte: Die Nato-Staaten würden mit Waf­fen­lie­ferungen an die Ukraine "Öl ins Feuer gie­ßen".

Am selben Tag wurde wiederum bekannt, dass jetzt die deutsche Bundesregierung ihre relative Zurückhaltung unter dem Druck der Opposition ein Stück weit aufgegeben hat und Panzerlieferungen an die Ukraine nun doch erlaubt: Der Rüstungskonzern Krauss-Maffei Wegmann (KMW) soll "Gepard"-Panzer für die Flugabwehr aus früheren Beständen der Bundeswehr verkaufen dürfen. Es fließt also Öl ins Feuer…

Angst als Argument

Während Putin unter dem Druck der zunehmenden Sanktionen und militäri­scher Unter­stüt­zung der Ukraine durch NATO-Staaten von der Angst redet, Russland solle zerstört werden, berufen sich viele westliche Politiker und Strategen umgekehrt auf Äußerungen des russi­schen Prä­si­denten, sein Zugriff werde sich keineswegs auf die Ukraine beschränken. Wenn jetzt nicht vermehrt schwere Waffen geliefert würden, wäre das am Ende eine Ermutigung für Putin, seine kriegerischen Ambitionen noch umfangreicher fortzusetzen. Das ent­spre­chende Narrativ besagt, sein Machtwille bedrohe den Westen grundsätzlich.

Kurz und gar nicht gut: Die Sorgen vor der militärischen Bedrohung durch die jeweilige Gegenseite wach­sen be­drohlich! Die Gesamtlage spitzt sich aktuell gefährlich zu.

Werner Thiede
Dr. Werner Thiede ist außerplanmäßige Professor für Systematische Theologie, Pfarrer im Ruhe­stand und Publizist – zuletzt mit dem Buch "Die Wahrheit ist exklusiv. Gesammelte Aufsätze zum interreligiösen Dialog" (erweiterte Neuausgabe 2022, Hardcover, 26 Euro).

Friedrich Merz hat als Oppositionsführer im Bundestag schon vor einigen Wochen betont:

"Die Angriffe und die Art und Weise, wie dieser Krieg geführt wird, nehmen Formen an, die zum Nachdenken zwingen."

Nachdenklichkeit ist jetzt erst recht angesagt. Doch die Rhetorik nimmt allenthalben schärfere Formen an. Eine gewiss nicht direkt, aber doch indirekt ve­rgleichbare Stimmung unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg wahrzunehmen, drängt sich fast schon auf.

Von Weizsäcker und der "bedrohte Friede"

Da lohnt es sich doch, sich an den Philosophen und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker und sein Buch "Der bedrohte Friede" (1981) zu erinnern. Angesichts der atomaren Bedro­hung plädierte er bereits zu seiner Zeit bereits – inspiriert von der Bergpredigt Jesu – konsequent "für eine Ethik des Lebens in der technischen Welt".

Die heutigen technologischen Entwicklungen erstrecken sich in bedroh­licher Weise zum einen auf digitale Waffen und Möglichkeiten, zum andern auf gesteigerte Fähigkeiten herkömmlicher militärischer Mittel. Auf dem Gebiet der Digitalität ist gegen­wärtig zweifellos der Westen weiter, dagegen auf dem Sektor der Interkonti­nental­raketen Russland: Die vor wenigen Tagen getestete und von Putin vorgestellte Sarmat-Rakete "Satan 2" weist eine sonst noch nirgends erreichte Reichweite und Schnelligkeit auf und kann Ab­wehrschirme somit überwinden.

Technischer Fortschritt erweist sich einmal mehr als Ver­su­chung und als Bedrohung des Friedens. Von Weizsäcker warnte bereits 1963:

"Es gibt eine eigen­tümliche Fas­zination der Technik, eine Verzauberung der Gemüter, die uns dazu bringt, zu meinen, es sei ein fortschrittliches und ein technisches Ver­halten, daß man alles, was tech­nisch möglich ist, auch ausführt. Mir scheint das nicht fortschrittlich, sondern kin­disch."

Eine technische Zivilisation, deren Glieder sich gegenseitig hindern, gefährden und zerstören, sei technisch unreif. Die Waffensystem hatten nach seiner Überzeugung schon da­mals eine Per­fektion erreicht, die die Aus­schal­tung des Krieges zu einer vordringlichen For­derung der tech­nischen Ethik machten – um wie viel mehr gilt das heute! Das Spiel mit dem Feuer ist riskanter denn je…

Kriegsgefahr als Folge von Angst

Mit Recht bringt von Weizsäcker einen "seelischen Mechanismus" im Ansetzen militäri­scher Abschreckung zur Sprache. Demnach hängt das Verhältnis der Nationen unterein­ander auch ab von seelischen Haltungen und Einstellungen. Kriegsge­fahr, so betonte er, sei letztlich die Folge gegenseitiger Angst. Die herrscht freilich vor, wenn am Ende nur noch Überlegen­heits­gefühle, Expansionsgelüste, Misstrauen und künstlich-intelligente Computer statt echte Frie­densliebe das Sagen haben.

Von Weizsäcker zufolge sollten sich namentlich die Christen in­mitten der Völker zu intelligenter Feindesliebe befähigt zeigen, nämlich

"zum Verständnis der Motive des Gegners, und damit zur Vorbereitung der Kompromißbereitschaft. Sie könnten in den Völkern Angst und Haß ab­bauen und Verständnis aufzubauen helfen."

Also müssten die Regierungen selbst deutliche Zeichen setzen, sich als Künstler des Dialogs und der Diplo­ma­tie erweisen.

Es gehe um "die Auf­opferung der trü­gerischen Hoffnung, durch mili­tärische, wirtschaftliche, politische Macht die eigene Angst vor der Macht des Geg­ners zum Schweigen bringen zu können; christlich gesagt, um die Aufopfe­rung der Illusion weltlicher Sicherheit durch eigene Übermacht. Vermittelt den Menschen die Kraft der Lie­be, die Segen macht!"

Sollte nicht unsere Zeit nach Ostern geeignet sein, dass Kirchen ihre weisheitlichen Mah­nun­gen zum Frieden energischer noch als bisher in die weltpolitische Szene hineinrufen?