Der Mord geschah im Klima eines tief gespaltenen Deutschlands der Weimarer Republik: Rechtsradikale sowie anarchistische Strömungen befanden sich gleichermaßen im Aufwind. Verschwörer heckten einen Plan aus, die Presse zu lenken.

Tausende Nürnberger U-Bahn-Gäste laufen in der Station jeden Tag am Mosaik mit seinem Konterfei vorbei, ein ganzer Platz ist seit nunmehr 100 Jahren nach ihm benannt: Walther Rathenau, ehemaliger Reichsaußenminister, der durch die rechtsextreme Organisation Consul ermordet wurde. Die Organisation, Vorläufer im Geiste der NSDAP, zeichnet auch für das Säureattentat an dem Sozialdemokraten Philipp Scheidemann verantwortlich, ebenso wie Rathenau ein Befürworter der Weimarer Republik und damit klares Feindbild der gerade erstarkenden Rechten.

Beide Ereignisse und deren Begleitumstände spielen eine Rolle in "Vom Untergang". Ebenso der Anarchist Fritz Oerter, der Anfang der 1920er in Fürth eine kleine Leihbücherei betrieben hatte. Der Befürworter einer gewaltlosen Überwindung des Staates und des Kapitalismus und einer klassenlosen Kollektivordnung (Anarchosyndikalismus) hatte seine Ideen in mehreren Schriften zusammengetragen, die Leonhard F. Seidl als Recherchegrundlage dienten und als separates Buch veröffentlicht wurden.

Lenkung der nationalen Presse versucht

Diese realen Personen verwebt der Autor in ein spannendes Geschehen rund um den fiktiven Fürther Spiegelfabrikanten Gumbrecht, der sich in Oerters Tochter Emma verliebt und die ihm bei der Vervielfältigung von Schriften und Korrespondenz zwischen Oswald Spengler und Forstrat Georg Escherich hilft – wieder zwei Personen, die es wirklich gegeben hat. Wie auch den Komplott um die beiden. Spengler feiert im Roman gerade mit seinem Buch "Der Untergang des Abendlandes" in rechtskonservativen Kreisen riesige Erfolge. Dem Bruder im Geiste Escherich, Gründer einer republikfeindlichen Einwohnerwehr, will er einen geheimen Plan zur Lenkung der nationalen Presse unterbreiten. Und dann ist da noch der Sozialdemokrat Max Schmidttill, Verflossener von Emma, der von Rechtsnationalen getötet wird.

"Ich will Geschichte in Geschichten erzählen" sagt der 1976 in München geborene Leonhard F. Seidl. Der Schriftsteller, Journalist und Dozent für Kreatives Schreiben setzt sich schon seit seinem Debut "Mutterkorn" gegen rechtsradikale Tendenzen ein – privat wie literarisch. Nach seinem Roman "Der falsche Schah" rund um den Besuch des Schahs von Persien und Farah Diba 1967, der in der evangelischen Tagungsstätte Wildbad in Rothenburg ob der Tauber entstanden war, ist dies wiederum ein politisches Buch geworden.

Sein Roman basiert auf intensiven Recherchen und enthält zahlreiche Originalzitate aus Zeitungen, Sitzungsprotokollen und Briefen. Und ist zudem eng verzahnt mit seinem Schöpfer: Seidl stammt aus Isen, wo Escherich lebte und wo heute noch eine Straße nach ihm benannt ist. Fritz Oerter hat Seidl zudem in seiner Wahlheimat Fürth das Andenken gesichert. Anlässlich dessen 150. Geburtstags wurde auf Seidls Initiative eine Gedenktafel an dem charakteristischen Gebäude in der Fürther Altstadt angebracht, von wo aus Oerter einst wirkte.

Letzte Szene im Bürgerbräukeller mit Hitler

"Vom Untergang" endet mit einer Szene vom 8. November 1923 im Münchener Bürgerbräukeller, wo Adolf Hitler einen seiner ersten öffentlichen Auftritte hat. Auf den rund 200 Seiten zuvor erfährt man, welche gesellschaftlichen Strömungen ihn mit bedingten, welche aber auch völlig konträr zu völkischem Gedankengut standen, sich aber nicht durchsetzen konnten. Und das Sittenbild der Weimarer Republik überrascht noch mit weiteren Facetten. Sabotageakte hat es ebenso gegeben, wie in diesen Jahren die ersten Frauen sich sexuell emanzipiert haben wie die Figur der Emma, die sich freimütig nimmt, was ihr gefällt.  

Insofern ist Seidl ein authentisches Porträt des Deutschlands vor 100 Jahren gelungen – mit nach wie vor erstaunlichen Bezügen zur Gegenwart.

U-Bahn-Station am Nürnberger Rathenauplatz
Mosaik mit dem Konterfei Walther Rathenaus an der U-Bahn-Station am Nürnberger Rathenauplatz.