Seit vier Wochen leben Natascha* (47) und ihre Familie im Ausnahmezustand. Fern der Heimat, getrennt von Familie und Freunden, hat die Mutter mit ihrem 17-jährigen Sohn und der einjährigen Tochter bei Freunden in Freising Zuflucht vor dem Krieg gefunden. Ihr Mann und die beiden Söhne sind in Israel geblieben. Sohn Anton (21) kämpft in der israelischen Armee.

 Die Entscheidung, Israel zu verlassen, ist Natascha nicht leicht gefallen. Die Nacht vom 10. auf den 11. Oktober werde sie nie vergessen, sagt sie:

"Das war eine der schlimmsten Nächte meines Lebens, weil ich noch nicht wusste, ob es wirklich richtig ist, wegzufliegen."

7. Oktober, Raketenalarm um halb 7

Drei Tage zuvor: Shabbat, 7. Oktober, 6.30 Uhr morgens in Kfar Saba bei Tel Aviv.

"Ich wollte gerade Frühstück machen, als der Raketenalarm losging und ich meine Tochter nahm und sofort in den Bunker rannte. Dort saßen wir im Dunkeln. Alle Nachbarn hatten wohl noch geschlafen, denn außer uns war nur eine Frau heruntergekommen. Mein Mann Oleg kam erst nach einer gefühlten Ewigkeit und machte sich über meine schnelle Reaktion lustig."

So wie er haben viele Israelis den Luftalarm zunächst nicht ernst genommen. Bei Raketenangriffen der Hamas heulen im Süden Israels immer wieder die Sirenen, und auch im Großraum Tel Aviv kann das passieren. Das ganze Ausmaß des grausamen Terroranschlags wurde erst im Laufe der nächsten Tage bekannt. Natascha war in ständiger Anspannung, hielt sich immer in der Nähe des Bunkers auf und verließ das Haus bald gar nicht mehr. 

Schwierige Entscheidung

In Freising war es der Samstag vor der Landtagswahl. Andreas und Marina Decker hörten die Nachrichten aus Israel. Zuerst dachten auch sie, es sei wieder eine Raketenwelle der Hamas. Doch im Laufe des Tages erfuhren sie nach und nach von den grausamen Taten der Terroristen.  

"Wir waren alarmiert und unser einziger Gedanke war, unsere Freunde zu retten und die Familie so schnell wie möglich aus Israel herauszuholen."

Marina Decker (43) schrieb ihrer Freundin in Kfar Saba, sie sollten sofort aus Israel ausreisen und zu ihnen nach Freising kommen. Die Söhne der israelischen Familie besorgten daraufhin Flugtickets für den frühen Morgen des 11. Oktober nach Thessaloniki, wo sich die beiden gerade aufhielten. Ihre Mutter Natascha hat in der Nacht vor dem Flug kein Auge zugetan: 

"Meine Tochter Maria spürte meine Unruhe. Sie wachte alle 15 Minuten auf, und ich rannte zwischen Stillen und Packen hin und her."

Doch um 3 Uhr morgens entschied Nataschas Mann Oleg: "Wir fliegen nicht." Er hatte beschlossen, in Israel zu bleiben, und das seinen Söhnen bereits gesagt. Sie stornierten die Tickets sofort. Aber Natascha wurde in diesem Moment klar, welche Entscheidung sie zu treffen hatte: 

"Das ist ein Albtraum! Ich kann hier nicht bleiben."

Die Israelin mit russischen Wurzeln kaufte neue Tickets für den 6-Uhr-Flug, packte alles in eine Reisetasche, schnappte sich ihre Tochter und fuhr zum Flughafen. Dort gab es eine riesige Schlange an den Schaltern und bei der Sicherheitskontrolle, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Natascha war überzeugt, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen würden. Und als sie endlich im Flugzeug saßen, hatte sie große Angst, von einer Rakete getroffen zu werden.

Sohn muss zurück nach Israel

In Thessaloniki wurde die Familie erneut auseinandergerissen. Sohn Anton musste sofort zurück nach Israel. Er hatte seinen Einberufungsbefehl erhalten. 

Am 18. Oktober kam Natascha mit ihrem Sohn Ivan und der kleinen Tochter bei Andreas und Marina Decker in Freising an. Die beiden Familien kennen sich von einer Israelreise der Deckers zum Jahreswechsel 2018/19. Andreas Decker (49) ist Lehrer für Geschichte und Ethik. Auf der Reise mit seiner Frau Marina (43) hatten sie unter anderem biblische Stätten wie Jerusalem, Nazareth und den See Genezareth besucht. Marina ist Kindergärtnerin und beschäftigt sich aus religiösen Gründen mit dem Thema Israel: "Man kann das Christentum nicht verstehen, ohne das Judentum zu kennen."

Die Deckers hätten keine Minute gezögert, ihre Wohnung mit ihren Freunden zu teilen. Natascha wohnt mit ihrer Tochter im Kinderzimmer, Sohn Ivan schläft auf dem ausgeklappten Sofa im Wohnzimmer. Auch die Deckers haben eine einjährige Tochter, eine zwölfjährige Tochter und einen 21-jährigen Sohn.

Im Großen und Ganzen klappe das Zusammenleben gut, bis auf ein paar Kleinigkeiten wie eine gewisse Enge und unterschiedliche Schlaf- und Essenszeiten, so die Freisinger Gastgeberin: "Details sind nebensächlich, aber es ist natürlich nicht einfach, die Freundschaft auf einer neuen Ebene zu pflegen und Details zu klären, die vorher keine Rolle gespielt haben".

Zum ersten Mal in Deutschland

Aber das Wichtigste sei, dass sich die Israelis hier sicher fühlen. Natascha ist zum ersten Mal in Deutschland. Hier in Freising haben sie und ihr Sohn das Gefühl, in einer ganz anderen, ruhigen und geordneten Welt angekommen zu sein. So ganz anders als zu Hause:
"In Israel lebt man entweder vor dem Krieg, im Krieg oder nach dem Krieg. In Russland, wo wir vorher gelebt haben, war es auch immer unruhig. Wir sind es also gewohnt, in einem ständigen Sturm zu leben. In Deutschland gibt es das nicht, das ist schon komisch. Hier gibt es höchstens Probleme, die für uns gar keine sind".

Wie zum Beispiel eine Zugverspätung, fügt Ivan hinzu. Obwohl es ihnen hier besser geht und sie etwas zur Ruhe gekommen sind, machen sie sich viele Sorgen um ihre Familie und Freunde in Israel. Natascha erzählt, dass sie mit Anton telefonieren, aber nicht viel erfahren, da er aus Sicherheitsgründen kaum etwas sagen darf. Alle Israelis lebten weiterhin in chronischer Anspannung und versuchten durchzuhalten. Am schlimmsten sei es für Familien mit Kindern. Es sei denn, es seien ganz kleine Kinder. Dann sei es etwas leichter, weil man ihnen nichts erklären müsse.

Ängste und Sorgen sind groß

Von ihrer Freundin habe sie gehört, dass deren Enkel in einer Spezialeinheit gekämpft habe und mit einer Wunde am Bein nach Hause gekommen sei, erzählt Natascha. Seine Eltern wussten nicht einmal, dass er im Kampfeinsatz war.  Eine Kollegin ihres Mannes erzählt, dass die Kinder von zwei Freundinnen gefallen sind. Ein Klassenkamerad von Anton wird mit seiner Mutter als Geisel in Gaza festgehalten. 

"Weil das Land so klein ist, ist man schnell persönlich betroffen."

Davon sind Natascha, Ivan und Maria jetzt ein Stück entfernt. Doch die Ängste und Sorgen um den Rest der Familie sind nach wie vor groß.

Natascha ist positiv überrascht und berührt von der Hilfsbereitschaft der Freisinger. Jemand hat eine Matratze gespendet, andere haben Kleidung vorbeigebracht:
"Selbst wenn man Leute zufällig auf der Straße trifft, sind sie bereit, einem zu helfen."

Doch länger können die drei Israelis nicht bleiben. Sie müssen weiter nach Bulgarien, wo sie sich in den nächsten Wochen aufhalten werden. Ivans Visum läuft in ein paar Tagen ab, weil er im Sommer durch Italien, Österreich und Griechenland gereist ist und sich damit schon fast drei Monate im Schengenraum aufgehalten hat. Und Mutter, Sohn und seine kleine Schwester wollen auf jeden Fall zusammenbleiben. Ivan fühlt sich jetzt auch für sie verantwortlich. Nach Israel wollen sie erst zurück, wenn sich die Lage etwas beruhigt hat.

Spätestens aber, da ist sich Ivan sicher, in sechs Monaten:

"Wenn ich im nächsten April 18 werde, will ich zurück nach Israel und zur Armee gehen. Ich will mein Land nicht im Stich lassen.

 

*Die Namen der israelischen Familie wurden geändert, sie sind der Redaktion bekannt

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