Im Zuge der "i/o The Tour" will Peter Gabriel laut dem Konzertveranstalter "Live Nation" neue Songs seines nächsten Albums ebenso präsentieren wie Songs seines Musikkatalogs mit "Hits und Fan-Favoriten sowie Unerwartetem." Unerwartet ist auch 1977 der Song, der sein erstes künstlerisches Lebenszeichen nach dem Ausstieg bei der britischen Progressive-Rockband "Genesis" auf dem Höhepunkt deren damaligen Erfolges darstellt.

"Solsbury Hill", heute ein immer wieder gerne im Radio gespieltes Stück, das zu einem Klassiker für einen breiten Kreis an Hörerinnen und Hörer wurde, die Fans des Sängers damals aber ganz schön vor den Kopf stößt. Zwar kommt der Song im "krummen" 7/4-Takt daher, klingt aber eigentlich vielmehr nach bravem Folk-Pop als nach dem ernsten Artrock, den Gabriel eben noch auf dem letzten Doppelalbum seiner Band "The Lamb lies down on Broadway" abgeliefert hatte.

Verschwunden waren auch die fantastischen Kostüme, mit denen Gabriel auftrat: Statt blasenübersäter "Glibbermann" oder Fuchskopfmaske strahlt jetzt ein freundlicher junger Mann mit Kurzhaarfrisur aus den Bildern des dazugehörigen Videoclips und singt dazu von einer Wanderung auf das rund 190 Meter hohe Plateau im britischen Somerset.

Doch wer genau hinhört, merkt, dass der Text es in sich hat. Der Wanderer ist keineswegs in Sommerfrischenlaune unterwegs, sondern bricht auf zu neuen Ufern, beklagt, dass er als "Spinner" bezeichnet wird und hofft, bald "nach Hause" zu kommen – wo auch immer dieses Zuhause sein mag. Eine ominöse Stimme leitet ihn dabei auf seinem Aufstieg, der an Abrahams Opfergang im Alten Testament erinnert. So verarbeitet Gabriel seinen Ausstieg bei Genesis und seine neue künstlerische wie spirituelle Entwicklung.

Experimente mit Welt-Musik

Beide Stränge sollten in den kommenden Jahren enorme Früchte tragen. Vier nur mit seinem Namen versehene Alben und daher gemäß der Covergestaltung von den Fans auseinander gehalten oder einfach durchnummeriert, erscheinen bis Anfang der 1980er-Jahre. Im Schulterschluss mit Robert Fripp, Kopf von "King Crimson" und damit einem Vertreter einer anderen großen Prog-Gruppe der frühen 1970er-Jahre, der sich ebenfalls auf zu neuen musikalischen Ufern gemacht hatte, wird ein neuer, anspruchsvoller Pop-Sound generiert, der die spätere New-Wave-Bewegung teils vorwegnimmt und immer noch eingängig genug für die Charts ist.

Das dritte Album überrascht mit einem Schlagzeugsound nahezu ohne Becken, gespielt vom jetzigen Genesis-Sänger Phil Collins, der nach wie vor in seiner alten Band hinter dem Drumset sitzt und Experimenten mit der ersten Generation von digitalen Samplern. Gabriel bringt es auch in neu eingesungener, deutscher Version auf den Markt. Auf der vierten Einspielung werden Sounds und Rhythmen aus dem afrikanischen Raum mit integriert, die Entwicklung zur "World Music" nimmt hier ihren Anfang. Auch das 1986er Album "So", das von seinem Megahit "Sledgehammer" und einem auch für heutige Sehgewohnheiten immer noch fantastische Video überstahlt wird, setzt diesen Trend fort.

Superstar-Jahre mit Turner, Bowie & Co.

Peter Gabriel ist spätestens jetzt in die Riege der internationalen Superstars eingezogen, in der sich Ende der 1980er-Jahre neben dem alten Bandkumpel Collins auch Leute wie Tina Turner, Eric Clapton oder David Bowie tummeln. Statt sich jetzt aber dem Kommerz anzudienen und so richtig abzusahnen, geht Gabriel andere Wege. Er gründet mit "Real World Records" ein eigenes Label, auf dem auch Künstlerinnen und Künstler außerhalb der westlichen Hemisphäre ihre Musik veröffentlichen. Seine eigene wird immer experimenteller und sprachloser.

Der 1989 erscheinende Soundtrack zu Martin Scorseses Passions-Drama "Die letzte Versuchung Christi" kommt fast ganz ohne Gesang, auf jeden Fall ohne Worte aus. Die eindrucksvollen Bilder, mit denen Scorsese den Gottessohn als Zweifelnden und Suchenden in einer für ihn unwirtlichen Umgebung darstellt, kleidet Gabriel in sphärische Sounds, die von afrikanischen Trommeln und asiatischen Blasinstrumenten verfeinert werden. Film und Album gelten bis heute als Klassiker und herausragende Werke von Regisseur wie Filmmusik-Komponist.

Als die "Letzte Versuchung Christi" erscheint, ist der Film wegen der realistischen Darstellung von Jesus als verletzlicher Mensch sehr umstritten. In einem Interview kommentiert Gabriel die Kontroversen, indem er sich über den "schwachen Glauben" derer mokierte, die Anstoß nehmen. Vielmehr solle man anhand des Filmes und seiner Erzählweise sein eigenes Leben und seine eigene Religiosität überprüfen.

Selbst in einer christlich geprägten Familie aufgewachsen, beschreibt er seinen Glauben so: "Wenn ich an Gott denke, bin ich eher Buddhist, wenn ich aber Schmerz und Verzweiflung erleide, bin ich Christ." Musik und Religion seien sich überdies sehr ähnlich, weil beide direkt ins Herz stießen und sowohl für Gutes als auch für Böses ein Motor seien.

Amnesty International und "Womad"

Schon seit Beginn des Jahrzehnts finden die von Gabriel initiierten "Womad"-Festivals für Musik, Tanz und Kunst statt, bis heute in 22 Ländern. Ab 1986 unterstützt Gabriel Amnesty International, beteiligt sich an Benefizkonzerten für ärmere Länder und gründet 1992 seine eigene Menschenrechtsorganisation "Witness" (Zeuge), die weltweit Verletzungen der Menschenrechte dokumentiert und Beweise sammelt. 2007 gründet er dann noch an der Seite von Sir Richard Branson die Menschenrechtsorganisation "The Elders", die von Nelson Mandela aus der Taufe gehoben wurden.

Musikalisch wird es nach seinem 1992er-Album "Us", abermals ein großer Erfolg mit abwechslungsreicher Musik und einem hohen lyrischen Niveau, dann ruhiger um Gabriel. Zwar werden spektakuläre Live-Shows, die in Sachen Technik denen von Genesis in nichts nachstehen, gespielt. Neben seinem sozialen Engagement interessiert sich der Musiker aber zunehmend für Multimedia-Projekte und konzipiert sogar Videospiele wie 1996 "Eve". Darin geht es um das Leben von Adam und Eva im Paradies, eine Wanderung durch die Evolution sowie philosophische Gedankengänge. Das letzte Studioalbum mit neuen Stücken "Up" erschien 2002, abermals begleitet von aufwändigen Tourneen und flankierenden Ausflügen in die Welt des Videospiels.

Wenn Peter Gabriel im Jahr 2023 wieder auftritt und das neue Studio-Album "I/o" veröffentlicht wird, dürfen sich die Fans mit Sicherheit auf einige Überraschungen gefasst machen. Denn auch wenn Gabriel in den vergangene Jahren nur sporadisch, dann aber umso lauter auf sich aufmerksam gemacht hat: Ein bisschen ist der 73-Jährige immer der suchende Wanderer geblieben, den er 1977 mit "Solsbury Hill" besungen hat. 

Beständigkeit gibt es zumindest beim Personal: Auf den Konzerten wird Gabriel von seinen Bandgefährten Tony Levin (Bass), David Rhodes (Gitarre) und Manu Katché (Drums) begleitet, die schon seit vielen Jahrzehnten mit ihm unterwegs sind. 

 

Nach fast zehn Jahren Bühnenabstinenz geht der britische Musiker dieses Jahr wieder auf Tournee. Eines von fünf Deutschlandkonzerten findet am 28. Mai in München statt. 

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