Emil Kräß steht im Nordschiff des Ulmer Münsters umgeben von der Kunst, die der Steinmetz in den letzten beiden Jahren in seiner Freizeit schuf. Für den 56-Jährigen, der im bayerischen Holzschwang lebt, ist sein Beruf nicht einfach nur Beruf, sondern Berufung.

Seit 30 Jahren - seit dem Sommer 1986 - setzt Kräß seine Arbeitskraft für den Bauerhalt des Münsters ein: als Steinmetz in der Ulmer Münsterbauhütte. Erlernt hat er den Beruf des Steinmetzes in einem Betrieb, der Grabmäler herstellte. Ihn drängte es allerdings mehr zum "Hochbau", in die Arbeit in der Höhe des Münsters. "Man hat unheimliches Glück, wenn man hier eine Stelle bekommt", erklärt er. "Und so einen Platz gibt man nicht mehr freiwillig her."

Es fasziniert Emil Kräß, dass sich die Steinmetzarbeit an den gotischen Kathedralen seit dem Mittelalter kaum verändert hat, auch wenn Vorgänge heute durch Maschinen erleichtert werden. In den 30 Jahren am Münster lernte er sehr genau, die Arbeitsspuren von Steinmetzen vergangener Jahrhunderte zu unterscheiden. "Jeden Tag hat man Achtung vor den Vorgängern", erklärt er die Besonderheit dieser Tätigkeit.

Leuchtende Objekte

Die Arbeit eines Steinmetzes hat viel Künstlerisches: Immer wieder müssen sogar kunstvolle Wasserspeier oder andere steinerne Zierelemente neu aus dem Sandstein geschaffen werden. Seine eigene künstlerische Ader entdeckte Emil Kräß schon in jungen Jahren; er malte viel. Als seine Kinder klein waren, schlief diese künstlerische Neigung ein, erzählt er. Doch in den vergangenen Jahren brach sich der kreative Drang in ihm umso stärker Bahn.

Emil Kräß begann in seiner Freizeit, filigrane Kunstwerke aus Stein zu schaffen. Sie beschäftigten sich mit der Entwicklung des Lebens oder mit technischen Errungenschaften.Vor zwei Jahren dann ließen ihn die kleinen Sandringe nicht mehr los, die am Kerzentisch im Ulmer Münster entstehen, wenn sich herabtropfendes Wachs mit dem Sand verbindet, in dem die Kerzen stehen. Die Symbolik des Ringes begann Emil Kräß zu beschäftigen - umgibt doch jede der abgebrannten Kerzen ein Gedanke, eine Hoffnung, ein Gebet.

Die Ringe, die am Kerzentisch aus dem Wachs und dem Sand entstehen, landeten im Container der Münsterbauhütte. Emil Kräß begann, mit den Ringen zu experimentieren - und entwickelte Objekte aus Sandstein, Wachs und Sand. Manche in weichen Formen, andere spitzer, eines gleicht einem Fingerzeig nach oben, ähnlich dem Münsterturm.

Seine Kunstwerke erzählen Geschichten

Gemeinsam ist den Objekten, dass sie durch LEDs von innen leuchten und dass sie aus Material bestehen, das sonst im Abfall gelandet wäre. Auch Emil Kräß' persönliches Lieblings-Objekt besteht aus Weggeworfenem, aus den metallenen Nieten des Glockenstuhls, der vor einigen Jahren nach dem Auftreten schwerer Schäden saniert werden musste.

Manches seiner Kunstwerke aber erzählt - mit Humor unterlegt - auch erlebte Geschichten. "Täuschung" zum Beispiel: Ein großer Flusskiesel liegt auf einem quadratischen Schaumstoffkissen. Doch der Schaumstoff, der so täuschend echt wirkt, dass man ihn spielerisch zusammendrücken möchte, ist gar kein Schaumstoff. Das "Kissen", in das der Kiesel eine tiefe Delle drückt, besteht aus Lauchheimer Sandstein. Heute kann Emil Kräß darüber lachen, dass ihm einmal ein Kollege als Streich ein Stück Schaumstoff mit einer Arbeitsanweisung hinwarf - und er einen Moment lang zu Tode erschrocken glaubte, ein Stück Sandstein fliege auf ihn zu.

"Die Ausstellung im Münster ist für mich wie ein Geschenk zum 30-jährigen Jubiläum in der Bauhütte", sagt Emil Kräß und gesteht, dass er angesichts der Besucherkommentare im Buch zur Schau im Moment ein bisschen wie auf Wolken schwebt. "Bezaubernd. Hör nie damit auf!" hat beispielsweise jemand geschrieben.