Im Blick auf das »Sorget nicht« (Matthäus 6, 25ff) der Bergpredigt auf die Krankenversicherung verzichten, ohne Vorräte im Kühlschrank leben - das wäre ebenso konsequent wie irrational. Was heute als weltfremde Zumutung mit der Bergpredigt an uns herangetragen wird, ist schon immer so verstanden worden: als eine Zumutung.

In den sogenannten Antithesen verschärft und überbietet Jesus die alttestamentlichen Gebote: »Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen« (Matthäus 5, 27f) . Da gibt es angesichts unserer sexuell und erotisch aufgeladenen Medien kein Entrinnen. Unmöglich, dieser »besseren Gerechtigkeit« (Matthäus 5,20) zu genügen. Die Forderungen der Bergpredigt scheinen eine permanente Überforderung zu sein.

Erfüllbarkeit und Geltungsbereich

Und doch haben die Forderungen und Verheißungen der Bergpredigt Menschen immer wieder neu angesprochen und angespornt. Sie wollten der Radikalität der Bergpredigt nicht ausweichen. Franz von Assisi und der von ihm gegründete Orden waren ganz vom Verzicht auf Besitz und Recht bestimmt, sie wollten in Frieden leben und Feindesliebe verwirklichen. Ihre Impulse wirken bis heute nach.

Die Frage nach der Erfüllbarkeit und dem Geltungsbereich der Bergpredigt wurde schon recht bald gestellt und ganz unterschiedlich beantwortet.

Eine Antwort erklärt die Bergpredigt zu einer Ethik der »Vollkommenen«; die »Vollkommenen« halten alle Forderungen der Bergpredigt, besonders Armut, Keuschheit und Gehorsam, die sogenannten evangelischen Räte. Alle anderen orientieren sich nur an den Zehn Geboten. Damit wird eine Rangordnung unter den Nachfolgern Christi aufgestellt, die der Gemeinschaft und Einheit der Christen nicht immer förderlich war. Radikale Nachfolge im Sinne der Bergpredigt hatte auf Dauer immer zur Folge, sich entweder von der Wirklichkeit der Welt abzuwenden oder zu scheitern.

Die Übergangsethik

Eine andere Antwort sieht in der Bergpredigt und ihrem Bezug zum kommenden Reich Gottes eine sogenannte Interimsethik (Übergangsethik): Die radikalen Forderungen der Bergpredigt beziehen sich nur auf die kurze Zeit, bis Jesus wiederkommt. Die Bindungen und Verpflichtungen der Welt spielen keine Rolle mehr, denn diese Welt kommt bald an ihr Ende. Je länger sich aber die Wiederkunft Christi hinzog, desto schwieriger war es mit der radikalen Befolgung dieser Ethik.

Eine weitere Antwort auf die Frage nach der Erfüllbarkeit und dem Geltungsbereich macht den Bezug zur Verkündigung des Reichs Gottes durch Jesus noch stärker. Die Bergpredigt ist die Ethik des Reichs Gottes. In ihr ist vorweggenommen, wie Menschen im Reich Gottes leben können. Da aber das Reich Gottes zwar schon angebrochen ist, in seiner Fülle aber noch aussteht, ist auch diese Antwort eine Relativierung der Bergpredigt.

Spezial

Was ist die Bergpredigt?

Die Seligpreisungen, die »Goldene Regel«, das Vaterunser - die Bergpredigt enthält die Kernstücke des Christentums. In ihr entwirft Jesus die ethische Identität der Christen. Was sich hinter dem Text im Matthäusevangelium verbirgt und warum er bis heute von Bedeutung ist, lesen Sie in unserem Spezial!

Luther und die Bergpredigt

Martin Luther wollte die Bergpredigt nicht als Forderung, sondern als Evangelium verstanden wissen. Die Bergpredigt handelt von den Früchten des Glaubens. Als Anleitung zum Leben in der Welt der Sünde ist sie nicht geeignet. Allenfalls kann man, so neuere Interpretationen Luthers, durch die Bergpredigt sein Scheitern erkennen und auf die Rechtfertigung allein aus Gnade verwiesen werden.

Allerdings hat Luther die Möglichkeit, den Forderungen der Bergpredigt nachzukommen, nicht völlig ausgeschlossen. Aber der Christ steht nur für sich selbst unter dieser Forderung, er kann die andere Backe hinhalten usw. Sobald er Verantwortung für andere hat, in seiner Familie oder einem öffentlichen Amt, wiegt diese Verantwortung schwerer. Dann muss mit allen Mitteln des weltlichen Regiments das Lebensnotwendige getan werden, notfalls mit der Durchsetzung von Gewalt. Auch bei Luther wird die Frage nach der Erfüllbarkeit und dem Geltungsbereich also nicht einfach beantwortet, sondern in die Spannung von weltlichem und göttlichem Regiment, von Reich Gottes und Reich der Welt hineingenommen.

Ein weiterer Versuch, mit der Radikalität der Bergpredigt zurechtzukommen, besteht darin, ihre buchstäbliche Befolgung als gesetzlich abzutun. Statt Buchstabengehorsam kommt es auf den Geist, die innere Gesinnung an, die durch die Bergpredigt angeregt wird. Dabei ist sicher richtig, dass es nicht nur auf das äußere Tun um des Gehorsams willen ankommt. Aber es geht doch auch um konkretes Handeln in der Verantwortung vor Gott.

Die Forderungen der Bergpredigt bleiben also eine Zumutung. Diese Zumutung steht nicht im leeren Raum. Am Beginn der Bergpredigt stehen die Seligpreisungen. »Selig sind, die geistlich arm sind; selig sind, die Leid tragen; selig sind, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit« (Matthäus 5, 3ff).

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Erbarmungslos realistisch

Am Beginn der Bergpredigt steht nicht die Forderung, sondern die Zuwendung. Die Wirklichkeit der Welt wird nicht ausgeblendet. Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Verfolgung, Leid - das ganze Spektrum menschlicher Not wird in den Blick genommen und in die Perspektive des Reichs Gottes gestellt. In ihrer Analyse ist die Bergpredigt erbarmungslos realistisch. Die Versuchung, anderen etwas vorzuheucheln, die Unfähigkeit, die eigenen Schwächen zu sehen und einzugestehen (den Balken im eigenen Auge, Matthäus 7, 3), werden schonungslos angesprochen. Aber dieser Blick auf die Realität stellt nicht bloß, er zielt nicht auf das reißerische Aufdecken, wie es Medien immer wieder zelebrieren, denken wir nur an Guttenberg und Wulff. Gott wendet sich den Menschen wie ein liebender Vater zu und kann darum auch so angesprochen werden: Vater unser (Matthäus 6, 9-13).

Die freundliche Zuwendung Gottes schafft Vertrauen, Vertrauen in Gott und Vertrauen in die Möglichkeit des Guten. Dieses Gute bleibt zwar eine »außerordentliche Möglichkeit« (Karl Barth), aber es ist eine Möglichkeit des neuen Menschen in Christus. Die Zumutung der ethischen Forderungen der Bergpredigt wird begleitet von einem großen Zutrauen, dass diese bessere Gerechtigkeit auch Gestalt gewinnen kann. »Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt« (Matthäus 5, 13f). Das ist ein Zuspruch, der Wirklichkeit schafft, die neue Wirklichkeit des Reichs Gottes. Von dieser zugesprochenen Wirklichkeit her ist viel mehr möglich als nach der Logik der Welt vorstellbar.

Ethik des Übergangs

Die Bedingung der Möglichkeit der besseren Gerechtigkeit ist nicht das menschliche Vermögen, ist keine philosophische Ethik oder Pragmatik. Auch wenn diese in der Goldenen Regel (»Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!« Matthäus 7, 12) ihren Platz hat. Das Überschießende, das Radikale der Bergpredigt kann Wirklichkeit werden durch die Liebe. Freilich, oft ist gut gemeint das Gegenteil von gut. Die Alternativen von Gesinnung oder Verantwortung, von Regiment zur Rechten oder zur Linken, von eschatologisch oder präsentisch greifen allesamt zu kurz. Sowohl die Forderung nach dem radikalen Gehorsam wie auch die Auflösung der Radikalität durch historische oder psychologische Betrachtung verkennen die Zielrichtung der Bergpredigt. Denn die Bergpredigt bezieht sich nicht auf einen Zustand oder eine Fähigkeit, sondern auf eine Bewegung, auf einen Übergang: Den Übergang vom Reich Gottes in unsere Wirklichkeit, den Übergang von menschlichen Grenzen zu göttlicher Freiheit, den Übergang vom Gesetz zum Evangelium, den Übergang vom Bösen zum Guten. Die Ethik der Bergpredigt ist eine Ethik des Übergangs.

 

Es ist eine Ethik, die auf Altes und Bewährtes sich bezieht und mit Neuem konfrontiert.

»Ihr habt gehört - Ich aber sage euch…« (Matthäus 5, 21ff)

Es ist eine Ethik, die herkömmliche Werte und Urteile umkehrt.

»Selig sind… « (Matthäus 5, 3ff) »Sorgt nicht…« (Matthäus 6, 25ff)

Es ist eine Ethik, die zuallererst entlastet, weil sie auf der bedingungslosen Zuwendung Gottes und seinem Zutrauen in uns ruht. Eine Ethik aber auch, die klare Grenzen zieht und darin zur Entscheidung ruft.

»Niemand kann zwei Herren dienen...« (Matthäus 6, 24)

Jeder Einzelne, aber auch Gesellschaften und Staaten befinden sich im Übergang, sind ständig Veränderungen unterworfen. Die Bergpredigt kann durchaus Hilfe bei anstehenden Entscheidungen sein. Auch wenn Politiker in der Regel der Meinung sind, mit der Bergpredigt kann man die Welt nicht regieren, gibt sie Impulse für neue politische Optionen. »Liebet eure Feinde«, das kann eine Aufforderung sein, mit den Taliban oder Terroristen besser zu verhandeln, als Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Die Bergpredigt leitet an, nicht nur nach dem zum Schutz und Leben Notwendigen zu fragen, sondern auch nach dem in der Liebe Möglichen zu fragen. Und aus der Spannung zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen in der noch nicht erlösten Welt das Angemessene zu tun. Weil Gottes Zuwendung der Grund der Zumutung ist, können Christen über das Notwendige und Angemessene auch das der Liebe Mögliche und dem Reich Gottes Entsprechende tun - die andere Wange hinhalten, mehr nach dem anderen als nach sich selbst zu fragen, auf Recht zu verzichten, um Liebe erfahrbar zu machen. Die Bergpredigt als eine Zumutung traut Christen das zu, auch im Alltag.