Historische Aufnahmen könnten jetzt gelingen: der leergefegte Stachus, der malerische, sonnenbeschienene Viktualienmarkt oder die verkehrsberuhigte Sonnenstraße in München. Und auch die Fahrtzeit zu den Drehorten halbiert sich. Anfang Mai packt Kameramann Ralf am Drehort seine Technik aus dem Auto. Er nennt es "das kleine Besteck", das er heute dabei hat.
Eine kleine Kamera also und ein einigermaßen leichtes Stativ. Alles riecht nach Alkohol, nach Desinfektionsmittel. Vier Leute stehen im Innenbereich einer sozialen Einrichtung gesichtsvermummt vor Ralfs Kamera.
Das wird nichts, sagt der Redakteur. Also alle raus an die frische Luft. Auf Abstand bleiben und Gefrierbeutel über Mikrofone stülpen.
Schnell noch zum Großvater
Drei Monate zuvor ahnten wir noch nicht, wohin die Reise pandemiemäßig geht. Für unser Evangelisches Fernsehmagazin "Lebensformen", das jeden letzten Samstag um 17 Uhr auf Sat.1 Bayern läuft, standen die Themen bis Weihnachten 2020 so gut wie fest. Autorin Maria Rilz drehte gerade für die April-Sendung einen 18-minütigen Film über Großeltern. Einer Intuition folgend, ging sie schon im frühen Februar auf Dreh, um einen 93-jährigen Großvater zu porträtieren.
Diese Aufnahmen wären wenige Wochen später wegen der Ausgangsbeschränkungen nicht mehr möglich gewesen. Der Lebensformen-Film "Fast ein ganzes Leben entfernt – und doch so nah" wird in Zeiten der Ausgangsbeschränkungen zu einem eindringlichen Appell für generationenübergreifende Solidarität und Nähe. Den Tränen nah
Viele geplante Themen haben sich mit den Ausgangsbeschränkungen erledigt. Die Sendung über Schulwege? Eine groteske Idee in Zeiten der Pandemie. Ein Portrait über "Fridays for future"? Schwierig, denn die Protagonisten müssen zu Hause bleiben. Und dann noch das: In der Karwoche verkündet Christian Stückl, Spielleiter der Oberammergauer Passionsspiele, das Passionsspiel in Oberammergau ist wegen der Corona-Krise auf 2022 verschoben. Ein großer Verlust für das ganze Dorf, die Hälfte der Menschen wirkt mit. Lebensformen-Autorin Heike Springer, wie Stückl selbst den Tränen nah, bricht zunächst ihre Dreharbeiten für die zweiteilige Oberammergau-Dokumentation ab. Fronleichnam wäre der erste Sendetermin gewesen. Hinschauen und hinfahren
Kein Film ohne Protagonisten. Kein Film ohne Kamera- und Tonleute, Cutter und die Postproduktion. Alle trifft es hart. Die Meisten arbeiten als Freiberufler. Auch sie sind wegen der Pandemie zunächst zur Untätigkeit verdammt. Doch weder sie, noch die Autorinnen und Autoren und schon gar nicht die Produktionsleitung will die nächsten Monate leere Sendeplätze akzeptieren.
Und so schauen wir nochmal genau hin. Was bedeutet denn tatsächlich die Absage der Passionsspiele für die Menschen in Oberammergau? Heike Springer fährt hin. Als Filmemacherin ist sie hier gut bekannt. Spricht mit den Menschen. Und filmt. Fängt den Mut der Menschen ein, zeigt wie sie aufstehen und versuchen, den durch die Pandemie öde gewordenen und doch weltbekannten Ort zu beleben. Und: Während wir noch gebannt auf die Infektionszahlen in den jeweiligen Bundesländer blicken, schauen die Autoren Martin Schwimmer und Dominik Utz nach Lesbos. Sie wollen hinschauen, wo im Moment nur wenige Menschen die Not der gestrandeten Flüchtlinge auf der griechischen Insel registrieren. Für diese Menschen mit Fluchterfahrung haben die Lockerungen der Pandemie-Beschränkungen keine Bedeutung, weil sie keine Auswirkung auf ihr Leben haben.
Mit Ralfs "kleinem Besteck", Marias Intuition und Heikes Entschlossenheit entstehen gerade berührende, weil nahe Geschichten. Dominik und Martin blicken auf die Vergessenen und geben ihnen damit ihre Würde zuück. "Lebensformen" bleibt sich dabei treu: Menschen und ihre Geschichten im Mittelpunkt. "Lebensformen" erzählt dichte Geschichten und nähert sich einfühlsam den Themen.
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