Die Schweizer Politikerin und Ethnologin Ruth-Gaby Vermot ist Präsidentin und Gründerin des Vereins FriedensFrauen Weltweit/PeaceWomen Across the Globe, der aus der Initiative "1000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005" entstanden ist. Im Interview spricht sie über die Entstehungsgeschichte der Aktion, über die besondere Rolle von Frauen in Friedensprozessen und warum sie auch heute nicht die Hoffnung verliert.
Frau Vermot, wie kam es dazu, dass Sie 1000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005 vorgeschlagen haben?
Ich war lange Jahre Politikerin, Mitglied des schweizerischen Parlaments und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Während meiner politischen Arbeit habe ich mich mit Menschen in Kriegssituationen befasst. Ich war in vielen Kriegsländern und habe Flüchtlingscamps besucht, etwa in Armenien, Aserbaidschan, Tschetschenien, Serbien, in Georgien und Bosnien-Herzegowina. Überall habe ich sehr aktive Frauen gesehen, die Häuser wiederaufgebaut, Schulunterricht erteilt, Kinder und alte Menschen gepflegt und damit die Lebenssituation der Flüchtlinge verbessert haben.
Ich habe überall erlebt, dass die Frauen die Pflegearbeit machen und sich für die Gesellschaft verantwortlich fühlen.
Während meist Männer, Regierungen, Kriege lostreten, tragen diese Frauen die ganze Bürde der Zerstörung und die Sorge für die Gesellschaft – und zwar unbezahlt und unbeachtet.
Als im Oktober 2002 die Vergabe des Friedensnobelpreises an den ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter verkündet wurde, und der Preis damit wieder mal an einen Mann ging, habe ich zu meinem Umfeld gesagt: "Ich werde 1000 Frauen für den Friedensnobelpreis nominieren." Das ist mir so rausgerutscht und meine Freundinnen und Frauenorganisationen haben gesagt: "Mach doch! Wir helfen dir."
Das war eine Art Auftrag! Wir haben Überlegungen angestellt, uns über Ziele unterhalten, einen Verein gegründet und Geld gesammelt. Viele Menschen, Organisationen, Stiftungen, haben uns geholfen, so dass wir mit unserer Arbeit beginnen konnten.
Warum gerade 1000 Frauen?
Es gibt ja Millionen Frauen auf der ganzen Welt, die unbezahlte Gesellschafts- oder Care-Arbeit leisten und dafür kaum Wertschätzung erhalten. Eines unserer Ziele war es, die Arbeit all dieser Frauen, die Friedensarbeit ist, sichtbar und öffentlich zu machen. Die 1000 Frauen waren eine symbolische Zahl.
Wie haben Sie die Frauen gefunden?
Wir haben weltweit 15 Koordinatorinnen gesucht, in Gesprächen unsere Idee und ein umfassendes Friedensverständnis skizziert. Bei einem ersten Treffen in der Schweiz haben wir gemeinsam strenge Kriterien definiert, denn nicht jede Frau ist ja eine Friedensfrau. Es ging uns darum, Frauen für den Friedensnobelpreis 2005 zu nominieren, die sich in ihren Ländern, Regionen oder international langfristig stark machten für eine Welt ohne Kriege, Frauen, die Armut, Ungerechtigkeiten und Gewalt bekämpften und sich für Frauenrechte politisch exponierten zu Gunsten einer besseren Gesellschaft. Die Koordinatorinnen haben anschließend zwei Jahre lang in ihren Regionen nach diesen Frauen gesucht und nach intensiven Diskussionen haben wir schließlich 1000 Frauen für die Liste an das Friedens-Nobelpreiskomitee in Oslo ausgewählt.
Im Juni 2005 haben wir die Namen der FriedensFrauen bei mehr als 40 Pressekonferenzen weltweit zur gleichen Uhrzeit verkündet. Das war ein Riesenhighlight. Viele Medien haben sichtbar gemacht, was Frauen eigentlich zum Frieden beitragen. 2004 haben wir die Biographien der nominierten Frauen im Buch "1000 PeaceWomen Across the Globe” veröffentlicht. Die Ausstellung "1000 Gesichter des Friedens” wurde 2005 in Zürich und anschließend tausende Male weltweit gezeigt. Auch der UNO-Sicherheitsrat lieh uns seine Vorhalle, um die Ausstellung zu präsentieren.
Den Friedensnobelpreis 2005 hat der Direktor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), Mohammed el-Baradei, bekommen. Wir waren sehr enttäuscht und haben uns überlegt, ob wir weitermachen wollten. Aber wir konnten gar nicht aufhören. 2006 haben wir die Nachfolge-Organisation "PeaceWomen Across the Globe - FriedensFrauen Weltweit", gegründet.
Was ist die besondere Rolle von Frauen in Friedensprozessen?
Dringlich ist die tatsächliche Partizipation der Frauen in allen Phasen der Konfliktlösung - das ist ihre Rolle. Frauen gehören immer an die Verhandlungstische und in die Friedensprozesse. Mit Friedensprozessen verbinden wir bis heute ja diese etwas unglücklichen Bilder aus den Medien, wo Männer am Tisch sitzen, ein Papier unterschreiben, sich die Hände schütteln und dann ist es das gewesen. Verhandlungen sind jedoch nur ein kleiner Teil der Friedensprozesse, die nie linear verlaufen. Es gibt zwar Erfolge, aber oft erleben wir Rückschritte und neue Kampfhandlungen.
Friedensprozesse beginnen lange vor dem Krieg, bevor Spannungen und Feindschaften entstehen und Konflikte eskalieren. Frauen müssen von Anfang an einbezogen werden, ihre Sicht einbringen, auf die Schäden für die Gesellschaft hinweisen. Sie müssen Alternativen zum Krieg vorschlagen und dafür sorgen, dass staatliche Gelder in die Erziehung und Gesundheit oder die Verbesserung der Infrastruktur des Landes fließen und nicht für Aufrüstung, Militarisierung und Kriegshandlungen missbraucht werden.
Wenn es dann doch zu einem bewaffneten Konflikt kommt, müssen viele Hürden überwunden werden. Es geht zum Beispiel darum, Friedensabsichten zu schaffen, bevor überhaupt Friedensgespräche geführt werden können. Denn zu Friedensgesprächen gehören alle sich bekriegenden Parteien. In der Ukraine arbeiten wir mit Frauenorganisationen zusammen. Frieden ist jedoch nicht denkbar, wenn sie nicht auch mit russischen Frauen zusammenarbeiten. Das ist sehr kompliziert. Aber trotz all dieser Schwierigkeiten und oft unterschiedlicher Meinungen innerhalb der Organisationen lassen sich viele Frauen nicht von ihren Zielen in der Friedensarbeit abbringen.
Was ist der nächste Schritt?
In einem nächsten Schritt beginnen dann die Friedensverhandlungen und -abschlüsse. Aber auch wenn ein Friedensabkommen vereinbart ist, kann man nicht von Frieden sprechen, denn Friedensabkommen müssen umgesetzt werden. Und da gibt es unendlich viele Widerstände. Es braucht die Sorgfalt und Geduld aller Beteiligten und der ganzen Zivilgesellschaft.
Ist der Krieg vorbei, versucht man weiter zu leben. Aber da sind all die traumatisierten Menschen, all die Toten, die man nicht geborgen hat und nicht begraben konnte, all die Ängste, die entstanden sind und die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Es geht immer auch um die Aufarbeitung der Kriegsgräuel und um die Wahrheitssuche.
In Kolumbien begleiten wir zum Beispiel eine Wahrheitsfindungskommission, denn ohne die Wahrheit des Krieges annähernd zu kennen, ist Versöhnung unmöglich. In Bosnien-Herzegowina gibt es immer noch Kriegsverbrecher, die nicht verurteilt sind, die in der Regierung und in der Verwaltung sitzen. Wer eine Dienstleistung des Staates in Anspruch nehmen will, steht plötzlich vor einem Menschen, der eigentlich verurteilt sein sollte. Das ist unhaltbar.
Es braucht Wiedergutmachungen, Garantien für eine Nichtwiederholung des Krieges. All diese Arbeit muss getan werden. Die Menschen müssen einen Friedensprozess wirklich in allen Phasen bis zum Ende gehen, damit sich ein Krieg nicht wiederholt und ein Strukturwandel und langfristig ein friedliches Zusammenleben der Gesellschaft möglich wird.
Seit 2015 organisieren wir mit unseren lokalen Projektpartnerinnen FrauenFriedensTische, um die Teilnahme von Frauen in Friedensprozessen zu stärken und ihr Engagement sichtbar zu machen. Da sitzen alle möglichen Frauen zusammen, Grassroot-Frauen (Frauen aus Graswurzelbewegungen, also aus politischen oder gesellschaftlichen Initiativen oder Bewegungen, die aus der Basis der Bevölkerung entstehen, Anm.d.Red.), Frauen aus Universitäten, aber auch Frauen, die Soldatinnen waren.
Was sind FrauenFriedensTische?
Unsere Partnerorganisationen diskutieren gemeinsam über Sicherheit, die Auswirkungen des Krieges auf die Zivilgesellschaft, über Bedrohungen und nächste Friedensschritte. Die Frauen nehmen Kontakt mit Behörden, Parlamentariern und Parlamentarierinnen und der Regierung auf und unterbreiten ihre Forderungen. Sie reden darüber, was im Krieg passiert ist und machen ihre Erfahrungen öffentlich.
In Nepal haben Frauen an einem FriedensTisch erstmals auch mit Männern über ihre Kriegserlebnisse und Vergewaltigungen gesprochen. In dieser Kultur redet man nicht über sexualisierte Gewalt, über Ängste und Traumata. Wenn man sich damit aber gar nicht auseinandersetzen kann, ist Frieden in weiter Ferne.
Frauen stoßen einen Wandel an, indem sie eine kritische Auseinandersetzung mit Tabuthemen fordern.
Was können speziell Frauen hier einbringen?
Wenn wir zum Beispiel von Sicherheit reden, meinen wir meist eine militärische, bewaffnete Sicherheit. Aber je mehr Waffen wir haben, desto weniger sicher sind wir. Wir brauchen eine Sicherheit, die dem Frieden dient und nicht dem Krieg.
Frauen haben oft ein anderes Verständnis von Sicherheit. Die wollen sicher wohnen in einer guten Nachbarschaft, Arbeit haben und einem gerechten Lohn, gute Bildung für die Kinder und, wie es eine Ukrainerin sagte, "eine verlässliche Polizei zum Schutz gegen häusliche Gewalt".
Frauen sind durch ihre Care-Arbeit sehr viel näher beim Alltag der Menschen. Sie sind es, die fähig sind, der kriegstriefenden Sicherheitskultur eine wirksame Friedenskultur für alle entgegenzusetzen. Es braucht jedoch Mut und viel Überzeugungsarbeit, nicht der herrschenden Kriegsrhetorik zu verfallen, sondern Friedensabsichten zu vertreten.
In welchen Ländern auf der Welt sind Sie im Moment aktiv?
In Palästina-Israel werden wir mit einem neuen Team wieder ein Programm aufbauen. Wir sind in der Ukraine sehr aktiv, in Brasilien, Indonesien, Kolumbien, in Nepal und den Philippinen. Der Sudan ist im Gespräch und weitere kriegsbetroffene Länder in Afrika.
Wir haben im Moment aber Finanzprobleme wie viele Friedensorganisationen. Die massive Aufrüstung und der Verteidigungswahn der Welt verschlingen Unsummen. In Friedensarbeit wird nicht investiert.
Was hat sich seit dem "1000-Friedensfrauen-Projekt" 2005 geändert? Sind Frauen in der Friedensarbeit sichtbarer geworden?
Ich sage ganz selbstbewusst, dass wir mit der Nominierung der 1000 Frauen einen Wandel angestoßen haben. Vor 2005 hatten ja in über 100 Jahren nur elfmal Frauen den Friedensnobelpreis bekommen. In den letzten 19 Jahren wurde der Preis immerhin an neun engagierte Menschenrechts- und Friedensaktivistinnen verliehen. Dazu haben wir sicher unseren Beitrag geleistet.
Aber noch immer sind die Frauen in der Friedensarbeit viel zu wenig sichtbar. Sie müssen ihre Beteiligung erkämpfen und stehen noch viel zu oft in der zweiten Reihe. Es geht viel zu langsam voran.
Im Moment machen wir Rückschritte in der Beteiligung von Frauen in allen gesellschaftlichen Belangen. Das sehen wir zum Beispiel beim Thema Abtreibung oder Gleichstellung. Viele Frauenrechte werden wieder beschnitten. Je militarisierter die Welt ist, desto weniger können Frauen ihre Rechte wahrnehmen.
Was sind die drängendsten Herausforderungen im Moment?
Was jetzt gerade weltweit passiert, ist schlimm. In 56 von 193 UNO-Ländern herrscht aktuell Krieg – eine ganz brennende Situation! Mit viel Sturheit werden einfach weiterhin Waffen eingesetzt, in Russland und der Ukraine, in Israel und Palästina, im Sudan, in Syrien... Ich befürchte, dass noch mehr Kriege explodieren werden.
Menschen werden weiterhin ermordet, verjagt. Was passiert mit all diesen 110 Millionen Menschen, die intern vertrieben oder in andere Länder geflohen sind und die sich nirgends zu Hause fühlen können, weil man sie nicht haben will? Was macht man mit diesen Menschen, die zutiefst verletzt, verunsichert und heimatlos sind?
Wie machen Sie es, dass Sie die Hoffnung nicht verlieren für Ihre Arbeit?
Ach, die verliere ich bestimmt nicht! Wir sind als Organisation gut aufgestellt, wir sind ein starkes Team mit selbstbewussten Partnerorganisationen und wir sind überzeugt von unserer Arbeit. Und wir haben ja unser Netzwerk, das wächst und immer mehr starke Frauen miteinander verbindet.
Wenn wir die kleinen Schritte sehen, die überall passieren, macht das Mut und gibt Zuversicht. Ich glaube, es ist ein ganz wichtiger Weg und wir werden nicht aufgeben und unsere Friedensarbeit jeden Tag leisten. Wir lassen doch die Welt nicht zugrunde gehen!
Literaturtipps
Literaturangaben zum Text und weiterführende Informationen
- Homepage der Organisation "1000FriedensfrauenWeltweit" mit umfassenden Informationen zur Geschichte der Organisation und zu ihrer aktuellen Arbeit
- Der Film "1000 Frauen und ein Traum" erzählt die ganze Geschichte der Initiative "1000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005"
- Biographien der 1000 Frauen, die für den Nobelpreis 2005 nominiert wurden finden sich hier
- Grafik zu verschiedenen Phasen von Friedensprozessen, auch als Download verfügbar
- Im Podcast "Feminism and Development" spricht die Programmverantwortliche Andrea Filippi 2022 mit der Oxford Society for International Development über den Einsatz von FriedensFrauen Weltweit für nachhaltigen Frieden und Geschlechtergerechtigkeit
- Podcast von 2020 mit Ruth-Gaby Vermot, Präsidentin und Gründerin FriedensFrauen Weltweit über die Geschichte der Organisation (Deutsch, Englisch)
- Youtube-Kanal mit Videos von den Projektpartnerinnen zu gemeinsamen Projekten und Aufnahmen von Online-Veranstaltungen
Ausstellung "Frieden schaffen" mieten
Die Ausstellung "Frieden schaffen" stellt berühmte und ungewöhnliche Persönlichkeiten vor, die sich für den Frieden engagieren oder stark gemacht haben. Vorgestellt werden historische und lebende Personen aus Politik, Gesellschaft, Kultur oder Wissenschaft.
Die Plakatausstellung ist ab 299 Euro in den Formaten A1, A2 und A3 erhältlich. Die Ausstellung eignet sich besonders für Bildungseinrichtungen wie Bibliotheken, Schulen, Volkshochschulen, aber auch für Gemeinden, Kommunen oder Verbände. LeihnehmerInnen erhalten kostenloses Pressematerial sowie eine Plakatvorlage und Pressefotos für die Werbung.
- Die Plakat-Ausstellung kann gebucht werden bei Ausstellung-Leihen.
- Die digitale Ausstellung mit allen Porträts sowie Material zu Friedenssymbolen, Organisationen usw. gibt es hier.
- Ein Sonntagsblatt-Dossier zum Thema Frieden findet Ihr hier.
- Wer eine eigene Geschichte zum Frieden veröffentlichen will - das geht hier.
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