"Meine erste Heimat war die einst berühmte Theaterstadt Meiningen", schreibt Paul Oestreicher in seiner Autobiografie.

Dort in Thüringen wurde er vor 90 Jahren geboren, am 29. September 1931. Der Sohn eines zum Christentum konvertierten jüdischen Kinderarztes und einer Kammersängerin lebt während des NS-Regimes über Monate versteckt in einem Berliner Keller.

1939 gelingt ihm mit seinen Eltern die Ausreise nach Neuseeland. Später geht er nach Großbritannien. Dort setzt er sich für die Versöhnung zwischen Ost und West und zwischen Briten und Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ein.

"Nagel-Kreuz" - Symbol des Versöhnungszentrums

Oestreicher arbeitet bei der BBC, ist Vorsitzender der britischen Sektion von Amnesty International. Mitte der 1980er Jahre wird er als Leiter des Versöhnungszentrums der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft ins Domkapitel der Kathedrale von Coventry berufen - der englischen Stadt, die bei deutschen Bombenangriffen die meisten Todesopfer zu verzeichnen hatte.

Ein aus drei Zimmermannsnägeln aus den Dachbalken der verbrannten mittelalterlichen Kathedrale zusammengefügtes "Nagel-Kreuz" wurde zum Symbol der Organisation. Seit den 1940er Jahren setzt sie sich weltweit für Frieden und Versöhnung ein.

Paul Oestreicher habe dort "eine ganz entscheidende Rolle gespielt, da er wie kaum ein anderer Engländer Kontakte in die DDR und nach Mittelosteuropa hinein hatte" - Vorsitzende der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland, Oliver Schuegraf, im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Zwischen 1956 bis zur politischen Wende habe Oestreicher die DDR fast 80 Mal besucht. Er setzte sich stark für die politischen Häftlinge in der DDR ein. Unter anderem nahm er an Verhandlungen teil, die zur Abschiebung der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley (1945-2010) aus DDR-Haft führten, berichtet Schuegraf, der für das Deutsche Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes (LWB) arbeitet.

Überwindung des Kalten Kriegs

So habe Oestreicher mit seiner Versöhnungsarbeit an der Überwindung des Kalten Krieges mitgearbeitet. Als anglikanischer Geistlicher und Quäker - einer religiösen Bewegung, der 1947 wegen ihres humanitären Engagements der Friedensnobelpreis verliehen wurde - habe er ganz neue Formen von Ökumene zwischen Deutschland und England möglich gemacht.

In dieser Zeit habe Gewicht gehabt, "dass sich hier einer für die Versöhnung mit den Deutschen einsetzt, der selbst wegen den Nazis aus Deutschland fliehen musste", betont Schuegraf.

Das Leben von Paul Oestreicher ist auch ein Spiegel der deutschen Nachkriegsgeschichte: Er war befreundet mit dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann und dessen Frau Hilda, studierte in den 1950er Jahren bei dem evangelischen Theologieprofessor Helmut Gollwitzer und war Gast-Pfarrvikar in der evangelischen Kirche Hessen-Nassau, auf Einladung des damaligen Kirchenpräsidenten und Hitler-Gegners Martin Niemöller.

In den 70ern besuchte er die RAF-Gefangenen wenige Monate vor ihrem Tod in Stuttgart-Stammheim.

Einsatz für Frieden und Menschenrechte

"Oestreicher bezeichnet sich selbst als Grenzgänger, der sich für Versöhnung einsetzt. Eine sehr treffende Charakterisierung, finde ich. Er versucht, andere Menschen in verschiedenen Kontexten zu verstehen", sagt Schuegraf:

"Was ich an ihm bewundere, ist seine scharfe Deutlichkeit und auch seine prophetische Rede."

Auf der einen Seite sei Oestreicher radikal, wenn es um Frieden und Menschenrechte gehe. Auf der anderen sei er eine "unglaublich zugewandte Persönlichkeit", klar in der Sache, aber versöhnlich im Umgang. Er gehe auf Menschen anderer Meinung mit Respekt zu - und bis heute halte er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg.

Als Brite mit deutschen Wurzeln habe Paul Oestreicher auch den Grundstein für die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft gelegt:

"Das hat er sehr intensiv begleitet, auch durch die Nagelkreuze, die er in der damaligen DDR, aber auch auf westdeutscher Seite verliehen hat", sagte Schuegraf. "Dafür sind wir ihm sehr dankbar, dass wir diese Strukturen haben, in denen wir als deutsche Nagelkreuzgemeinschaft heute agieren."

Zwischen England und Neuseeland

Seit Jahrzehnten fordert der asketisch wirkende Oestreicher eine sozialere und solidarischere Weltordnung. Neben dem deutsch-deutschen Verhältnis war der Kampf gegen die Apartheid im südlichen Afrika ein weiterer Schwerpunkt seines Lebenswerks. Lange sind Oestreicher und seine Frau, die Friedensaktivistin und Soziologin Barbara Einhorn, zwischen England und Neuseeland gependelt, wie Schuegraf berichtet.

Aus gesundheitlichen Gründen hätten beide beschlossen, den Rest ihres Lebens in Neuseeland zu verbringen. Zum 80. Geburtstag hatte Oestreicher seine Heimstadt in Thüringen noch besucht. Doch "ein Besuch Meiningens wird mir nicht mehr möglich sein", sagte er im Frühjahr dem "Meininger Tageblatt".

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