Der junge evangelische Theologe könnte an der Friedenskirche nah am königlichen Hof in Potsdam Karriere machen: Doch gibt der 26-jährige Friedrich Siegmund-Schultze seine Anstellung und zieht in ein Berliner Elendsviertel, um dort eine soziale Einrichtung zu gründen. Zuvor hat der 1885 in Görlitz geborene Theologe viel gesehen, hat in Tübingen, Breslau, Marburg, Halle und Berlin studiert – und bei einer Studienreise 1908 in England im Londoner East End die Settlement-Bewegung kennengelernt.
Diese Art der sozialen Arbeit, die er in der "Toynbee Hall" in London sieht, beeindruckt den Theologen tief, weshalb er mit seiner Frau Marie von Maltzahn in das Arbeiterviertel Friedrichshain zieht. In einem alten Kriegslazarett gründet das Paar die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (SAG) mit dem Ziel, Arbeiter und Studenten zu verbinden und Armut mit Bildung zu bekämpfen. Er veranstaltet sozialpolitische Abende, bei denen Wissenschaftler referieren und Studenten als Dozenten arbeiten.
In den folgenden Jahren entstehen hier Beratungs- und Hilfseinrichtungen für Jugendliche und Erwachsene, eine Abendvolkshochschule und eine Einrichtung für Suchtberatung. In den Sommerferien werden die Stadtkinder auf das Land geschickt in eine Ferienkolonie. Für Siegmund-Schultze ist es der Versuch, die Sozialpädagogik einen Raum zu geben:
"Alles, was mit Fürsorge, Unterstützungswesen, Kranken- und Irrenpflege, Verwahrlosung und Gefängnis zusammenhing, betraf nach allgemeinem Urteil einen Teil der Menschheit, der am besten nicht vorhanden gewesen wäre", schrieb er im Rückblick 1950.
Siegmund-Schultze ist ein undogmatischer Praktiker, der etwas bewirken will. Für den Theologen steht fest: "Bloß Verkündung ist ein bequemes Schlagwort". Den Umgang der Kirche mit sozialen Fragen wollte er nicht so stehen lassen:
"Es war uns darum zu tun, daß an irgendeiner Stelle dem sozialen Gerede die Tat folgte."
Ab 1926 lehrt er als Honorarprofessor Jugendkunde und Jugendwohlfahrt an der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität und entwickelt mit den Studierenden soziografische Methoden, um auf der Basis lokaler Studien eigene Methoden und Therapien zu entwickeln und damit die Situation der Arbeiter zu verbessern.
Friedensarbeit und Pazifismus
Siegmund-Schultze engagiert sich ab 1909 im Komitee zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland. 1914 organisiert er in Konstanz die erste Weltkirchenkonferenz für den Frieden, aus der der Weltbund für internationale Freundschaftsarbeit der Kirche hervorgeht.
Die Haltung der Kirchen zum Ersten Weltkrieg kritisiert er scharf. Schon 1910 konstatierte er:
"Selbst wenn wir ganz genau wissen, daß Kriege in absehbarer Zeit nicht aufhören werden, so kann doch das Christentum von seiner Art nicht ablassen, kann den organisierten Massenmord nicht heilig sprechen, sondern muß erklären, daß Kriegführen gegen den Willen Jesu ist. Jesu wille ist: Du sollst Deinen Naächsten lieben als dich selbst… Die Undurchführbarkei eines Ideals darf auch kein Schlafmittel sein, das uns den Kampf um das Ideal, den Versuch einer Annäherung entlässt."
Als Reaktion auf den Kriegsbeginn gehört Siegmund-Schultze zu den Mitbegründern des Internationalen Versöhnungsbundes, dessen deutschen Zweig er von 1919 bis 1932 leitet. Während des Ersten Weltkriegs kümmert er sich um internierte Engländer und sorgt für eine Kriegsgefangenenhife. Diese "Caritas inter arma" führt zu Auseinandersetzungen mit dem Militär.
Als Siegmund-Schultze erfährt, dass ein Pfarrer, der die feindlichen Ausländer als Mitmenschen behandelt hat, zum Tode verurteilt wurde, lässt er seine Beziehungen spielen und erreicht, dass das Urteil aufgehoben wird.
"Unseren Kirchen", so notierte er rückblickend 1921, "gingen im großen und ganzen fast stets mit dem allweil Schärfsten, Unbrüderlichsten, Tollsten, was sich eine von Kriegsberichten (…) verdorbene Seele nur immer ersinnen konnte."
Der umtriebige Theologe begründet 1913 das Magazin "Die Eiche". Mit dem Titel erinnert er an die Eiche als Symbol des Friedens. Als Herausgeber veröffentlicht er in dem Magazin ab 1913 wichtige Texte zum Frieden – bis er 1933 gezwungen wird, die Zeitschrift einzustellen.
Für Siegmund-Schultze ist der Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine "christliche Mission". Er hofft, dass daraus eine "Keimzelle" für eine neue Volksgemeinschaft wird. Im Unterschied zu vielen Mitgliedern der Bekennenden Kirche betrachtet er den Kirchenkampf nicht als innerkirchliche Angelegenheit, sondern als "fundamentale, politische Auseinandersetzung zwischen staatlichem Nationalsozialismus und christlichem Universalismus.
Widerstand und Exil
Die Nationalsozialisten wollen Siegmund-Schultze aus dem Weg räumen. Im Juni 1933 wird die Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost von der SA besetzt und wird damit geschlossen. Kurz darauf wird der Theologe verhaftet und zur Emigration gezwungen.
Im Schweizer Exil in Zürich engagiert er sich in der Flüchtlingsarbeit. Sein Haus wird eine wichtige Anlaufstation für Menschen auf der Flucht. Vor allem wird er für den Widerstand eine wichtige Verbindungsperson. Hans-Bernd von Haeften, der im Außenministerium arbeitet und zum Kreisauer Kreis gehört, ist ein langjähriger Freund des Theologen. Haeften entsendet Mittelsmänner wie den Theologen Dietrich Bonhoeffer oder Carl Goerdeler in die Schweiz, die Dokumente transportieren, die wiederum an die Alliierten gegeben werden sollen. Vergeblich versuchen die Widerstandskämpfer, Friedensverhandlungen auf den Weg zu bringen.
Rückkehr nach Deutschland
Nach Deutschland kehrt Siegmund-Schultze erst 1947 zurück. Er lehrt Sozialpädagogik an der Uni in Münster und gründet 1948 die Jugendwohlfahrtsschule in Dortmund. Er übernimmt zahlreiche Ämter und mischt sich ein in der Zivilgesellschaft. Als Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände engagiert er sich für die Kriegsdienstverweigerer. So arbeitet er 1949 am Artikel zum Recht der Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz mit.
1957 wird er der erste Vorsitzende der neu konstituierten Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e.V. (KDV). Und 1958 begründet er das "Ökumenische Archiv" in Soest, das er bis 1968 leitet.
Seit 1994 erinnert der Friedrich-Siegmund-Schultze-Preis der "Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK)" für gewaltfreies Handeln an das friedensethische Wirken des Theologen.
Friedrich Siegmund-Schultze
- Friedrich Siegmund-Schultze, Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision. Texte 1910-1969
- Paul Vogt, Karl Barth und das Schweizerische Evangelische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland 1937-1947.
- Rieke C. Harmsen: Werner und Hans-Bernd von Haeften und der Widerstand des 20. Juli 1944.
- Linktipp: Evangelische-Friedensarbeit
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