Andreas Boes beschäftigt sich seit seinem Studium mit der Frage, wie wir künftig arbeiten werden. Dazu untersucht der Soziologe die Digitalisierung bzw. Informatisierung der Gesellschaft. Er ist im Vorstand des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München und außerplanmäßiger Professor an der TU Darmstadt. Bis 2022 war er Direktor des Bayerischen Forschungsinstituts für Digitale Transformation (BIDT). Am ISF forscht er mit seinem Team zu den Herausforderungen, die der Übergang zur "Informationsökonomie" mit sich bringt – und zur Frage, wie sich dieser menschlich gestalten lässt.
Im Podcast "Ethik Digital" spricht Andreas Boes mit Rieke C. Harmsen und Christine Ulrich darüber, was sich in der Arbeitswelt durch die Digitalisierung grundlegend verändert hat, was Inverse Transparenz bedeutet und wie wir Daten für das Gemeinwohl nutzen können.
Am 28. Oktober ist Andreas Boes live in der Evangelischen Akademie Tutzing zu erleben: auf der Tagung "Der Traum vom freien Raum" hält er einen Vortrag mit dem Titel "Auf der Suche nach dem emanzipativen Potenzial des Internets – Chancen der digitalen Arbeitswelt nutzen". Hier geht es zur Tagung.
Digitale Ethik und Arbeitswelt: Andreas Boes
Herr Boes, sprechen wir über die Arbeitswelt. Ein Beispiel: Ich bin angestellt bei einem Autohersteller und montiere Geräte am Computer. Der Computer beobachtet mich, sieht, dass ich etwas falsch mache, korrigiert mich und erklärt mir, was ich zu tun habe. Da kommen viele Dinge zusammen, mit denen sie sich beschäftigen: Transparenz, soziale Fragen, Umgang mit Maschinen, Datenmengen. Sie sagen, sie wollen eine menschengerechte Gestaltung der Transformation bewirken – wie kann sowas aussehen?
Andreas Boes: Das war ein schönes und komplexes Beispiel. Da sind alle wesentlichen Fragen drin – und das Verrückte ist, es gibt solche Systeme tatsächlich. Wenn sie beispielsweise bei der Instandhaltung einer Maschine arbeiten, ist es häufig so, dass diese Systeme Ihnen sagen: jetzt hinten das Teil nehmen, dann die Schraube lockern, vorne aufpassen, die Schraube ist gekontert, und so weiter. Man erkennt an diesen Entwicklungen eine neue Möglichkeitsform.
Man erkennt, dass in der Arbeitswelt in Deutschland in den letzten fünf bis sechs Jahren, in anderen Ländern schon länger eine deutliche Veränderung stattgefunden hat, wo wir in allen Dimensionen gleichzeitig in der Arbeitswelt eine radikale Veränderung erfahren.
Hat die Corona-Pandemie das katalysiert?
Die digitale Entwicklung läuft natürlich schon länger. Aber Corona war in Deutschland der Durchbruch, wo plötzlich diese ganze digitale Welt erfahrbar wurde. Dann stellt man sich Fragen, die man vorher gar nicht auf dem Zettel hatte. Und jetzt konkret zur Transformation: Mich interessiert dieses ungeheure Potenzial, dass wir Arbeit positiv gestalten und anders arbeiten können, dass wir Dinge besser machen und schneller machen können.
Das kritische Potenzial haben Sie aufgegriffen: Wir müssen mit neuen Kontrollproblematiken umgehen und dafür sorgen, dass Menschen nicht ausspioniert werden. Dass sie nicht arbeitslos werden, weil Maschinen viel effizienter sind in bestimmten Punkten. Und so fort. Vor allem müssen wir dafür sorgen, dass Menschen diese Transformation überhaupt schaffen können, weil sich bei vielen doch vieles sehr sprunghaft und grundlegend verändert.
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Andreas Boes über den Paradigmenwechsel in der Gesellschaft
Sie sprechen in einem Aufsatz von einem "Paradigmenwechsel" in der Wirtschaft. Verändern sich in diesem Prozess auch Wertmaßstäbe oder bestimmte Herangehensweisen?
In einer repräsentativen Untersuchung haben wir kürzlich gefragt, wie tief diese grundlegende Veränderung schon in die Arbeitswelt reingeht. Es geben fast 50 Prozent der Beschäftigten an, dass sie seit einigen Jahren eine starke oder sehr starke Veränderung ihrer Arbeitswelt erleben. In bestimmten Branchen, etwa der Automobilindustrie, sind es 70, 75 Prozent. Da geht es jetzt im Grunde um alles – erstmal um neue Geschäftsmodelle, also um das, was ein Unternehmen macht, um Wert zu schaffen und Geld zu verdienen. Die ganze Frage der Wertschöpfung verändert sich radikal.
Das ist ein wesentliches Element des Paradigmenwechsels: dass Informationen und Daten zum Ausgangspunkt von Wertschöpfung werden.
Bei allem gucken wir auf die Daten; dann gucken wir, was machen die Kunden mit unseren Produkten; dann überlegen wir, wie können wir das besser machen? Und dann treten wir in einen Kreislauf permanenter Innovation ein. In der Automobilindustrie haben sie früher alle sieben Jahre einen neuen Golf auf den Markt gebracht, und nach dreieinhalb Jahren wurde der geliftet: Es wurden kleine Veränderungen gemacht, die aber nicht an die Substanz gingen.
Die Entwicklungsabteilung hatte also sieben Jahre Zeit für jeden neuen Golf. Ein Tesla dagegen wird permanent verändert, quasi jede Woche. Das Wesentliche an diesem Auto ist Software. Wenn Sie dem mitteilen, ich hätte gern für eine weite Reise mehr Reichweite auf der Batterie, dann kriegen Sie durch eine Software-Freischaltung gegen entsprechendes Geld die Kilometer drauf. Sie bekommen ein lebendiges Produkt, und Sie haben Menschen, die in einer permanenten Innovationssituation arbeiten – in einem Kreislauf: Daten sehen, Informationen daraus machen, Innovationen machen, an die Kunden zurückbringen. Das ist die Grundlage des neuen Paradigmas, und jetzt können Sie nach allen Seiten denken.
Okay, wir denken mal in die Richtung: Wie verändert sich die Arbeitskultur?
Was wir alle erfahren, ist eine neue Raum-Zeit-Struktur. Viele Menschen arbeiten mittlerweile von zuhause. Wir haben schon vor zehn Jahren Untersuchungen gemacht, dass internationale Softwareentwickler-Teams kooperieren, als wären sie nebeneinander im Büro, das war für die kein großer Unterschied – außer die Art und Weise, wie man miteinander umgeht. Plötzlich wird die Kultur, das Zwischenmenschliche, das Kommunizieren zu einer Schlüsselfrage.
Wir haben im Moment ein Projekt laufen von Kira Marrs vom ISF und Anja Bultemeier von der Universität Erlangen. Sie befassen sich mit 100 Frauen, die es in der Tech-Industrie geschafft haben. In den Interviews geht es nicht um Technik, sondern um Zusammenarbeit, darum, miteinander in Beziehung zu treten, gemeinsame Entscheidungen zu treffen und Dinge nach vorn zu bringen. Es geht darum, eine Kundin zu sehen und zu merken, was sie braucht.
Was müssen Arbeitgeber mitdenken, um diese Komplexität abzubilden und diese neue Kultur voranzutreiben?
Der entscheidende Punkt ist: Was ist Komplexität? Das ist ein Riesenproblem. Alle spüren, dass das Ganze total komplex geworden ist. Im Grunde ist Komplexität lediglich ein System, das nicht einfach steuerbar ist. Aber viele sehen in Komplexität nur die Summe aus vielen einzelnen Teilen, und dann versucht man, an vielen Teilen rumzuschrauben, und das funktioniert nicht mehr. Das ist die Erfahrung, die überall in den Unternehmen gemacht wird.
Das Problem ist, dass ein Mensch allein diese Komplexität nicht mehr in den Griff bekommen kann. Sie brauchen immer Teams, in denen verschiedene Stärken, Sichtweisen und Qualifikationen zusammengebracht werden.
Ohne die geht gar nichts mehr. Damit verbunden ist die Frage des Planungsparadigmas: Was können wir wie weit vorausplanen, und wie verhält sich der Plan zu dem, was wir tun? Wir planen oft sieben Jahre voraus: Wie soll der Golf aussehen? Und stellen nach einem halben Jahr fest, dass wir gar nicht wissen, ob wir dann überhaupt noch ein Auto brauchen oder ein ganz anderes Verkehrssystem. Die Planungsproblematik beruht auf der Illusion, Kontrolle über etwas zu haben, die man aber objektiv gar nicht hat. Und im Moment spüren wir, dass alles mit allem zusammenhängt. Plötzlich ist eine Entwicklung in Indien fundamental für die Wertschöpfungskette in Wolfsburg. Jetzt kommt der große Ruf nach Resilienz.
Resilienz, eine Art innere Widerständigkeit, ist schwer in Mode ...
Was heißt Resilienz? In der Materialwissenschaft beschreibt sie, wenn etwas zum Ursprungszustand zurückkehrt. Der Ruf nach Resilienz ist der Reflex auf eine Weltveränderung, die in ihrer Komplexität in klassischen Planungsvorstellungen nicht mehr bearbeitbar ist. Ein weiterer Punkt der Transformation ist: Es geht nicht um Technik, es geht um Kommunikation. Es geht um das Interpretieren von Daten und darum, Daten in Informationen, in nützliche Aussagen über die Welt zu verwandeln.
Es geht um eine Beziehung, die Gebrauchswerte schafft: Ist das wirklich nützlich, was ich mache, oder ist das nur eine technische Spielerei? Die Transformation macht in der deutschen Industrie große Probleme. Paradigmenwechsel heißt, ich muss bereit sein, all das, was ich in 30 Jahren an Erfahrung und Qualifikation gesammelt habe, auf neue Füße zu stellen. Es geht auch um die Entmystifizierung der Technik. Je komplexer und wirklichkeitsnäher diese Systeme werden, desto zugänglicher werden sie auch für Menschen, die nicht bis zum letzten Bit programmieren können.
Wie weit haben ethische Fragestellungen zur Digitalisierung Raum in den Unternehmen? Führen sie ein Schattendasein?
Ethik ist in unserer Gesellschaft aktuell ein Riesenthema. Nicht nur, weil wir alle viel darüber nachdenken und reden, sondern auch weil ein Ethikdiskurs entstanden ist, den ich nicht sehr produktiv für die Bewältigung grundlegender gesellschaftlicher Veränderung finde. Es geht ja zunächst darum: welche Ethik?
Es gibt viele verschiedene ethische Vorstellungen. Was wir mit Ethik wollen, ist, einen Grundsatz von Werten begründen und aus dieser Begründung heraus ein Übereinkommen in der Gesellschaft treffen, dass wir ungefähr in die gleiche Richtung gehen, dass wir uns um das Gleiche bemühen und dass wir auch unseren Kindern beibringen können, was wir für sinnvoll halten. Ethik ist für mich eine tiefere Begründung von Werthaltungen. Früher bekam man einfach nur regelorientiert gesagt: Das darfst du, das darfst du nicht.
Bei Ethik als praktischer Philosophie geht es doch erstmal darum, unser Handeln, unsere Moral zu reflektieren – und sie nicht gleich auf eine Seite zu ziehen.
Die Veränderungen durch die digitale Transformation stellen viele Grundlagen unseres ethischen Verständnisses zur Disposition. Sie erfordern eine Neubewertung, was gut ist und was nicht. Wenn ich sage, wir müssen uns neu erfinden in der Arbeitswelt, dann heißt das auch, wir müssen unser ethisches System mitverändern. In den Unternehmen gibt es einen starken Diskurs um ethische Fragen, der daraus resultiert, dass diese ganzen Veränderungen nicht mehr wie früher von oben runter eingebracht werden können.
Früher hat man einfach eine Technik eingeführt und die Maschinen hingestellt. Vielleicht hat der Betriebsrat ein bisschen quergeschossen, danach gab es eine Einigung. Heute ist das System so komplex und geht so tief in alle Bereiche rein, dass Sie die Menschen mitnehmen müssen. Und wenn Sie sie überzeugen wollen, geht es auch um ethische Fragen – Sie müssen begründen, warum das gut oder zumindest nicht schädlich ist. An diesen Fragen diskutieren wir in deutschen Unternehmen im Moment sehr viel, meiner Meinung nach häufig sehr unterkomplex. Wir haben zuviel Schwarzweißmalerei.
Einer begründet, warum etwas nicht günstig ist, schon kommt das Fallbeil: Du bist gegen Technik, du willst den Fortschritt aufhalten – und umgekehrt das gleiche. Das führt dazu, dass sich eine Gesellschaft in einer so grundlegenden Veränderung blockiert, weil sie keine Verbindung mehr herstellen kann, sondern nur noch im gegenseitigen "du bist im falschen Lager" oder "du hast die falsche Meinung" feststeckt. Das finde ich am deutschen Ethikdiskurs im Moment schwierig: dass wir Ethik benutzen zur Abgrenzung und nicht zur Integration. Das machen wir in der Arbeitswelt, bei Corona, im Ukrainekrieg – überall wird sortiert: Du gehörst zu mir, und du nicht. Dafür ist Ethik nicht da.
Wird Ethik in den Unternehmen eher bei den Bedenkenträgern verortet? Sind die, die "ethisch" denken, automatisch die, die eher den Datenschutz im Auge haben als das Ausprobieren?
Eine so grundlegende Veränderung zu vollziehen, erfordert eine Gesellschaft, die in Beziehung steht, die in Kommunikation bleibt, die darum ringt, gemeinsame Werte weiterzuentwickeln – und auch ihr ethisches System zu renovieren. Was uns im Moment nicht gelingt, ist, diesen Veränderungsprozess auch auf der ethischen Seite zu vollziehen. Die Konsequenz ist, dass wir uns paralysieren, dass wir Frontverläufe haben, wo Verständigung nicht mehr möglich erscheint, weil der eine den anderen stigmatisiert. Das Problem ist die Sprachlosigkeit der Gesellschaft im Umgang damit, dass wir herausgefordert sind, eine Veränderung zu vollziehen, und dass wir dabei Ethik häufig als Moment der Spaltung und nicht der Integration verwenden.
Das Modell der Inversen Transparenz
Das Datensammeln in Unternehmen hat gute und schlechte Seiten. Um die Fronten zu vereinen, haben Sie das Konzept der "Inversen Transparenz" entwickelt. Worum geht es da?
"Inverse Transparenz" war ein tolles Projekt. Es geht uns als Team vor allem darum, eine menschengerechte Gestaltung dieser Entwicklung zu bewirken. Wir sehen ein Potenzial zur Emanzipation und einen utopischen Überschuss in der digitalen Transformation, von dem wir glauben, dass man beides entwickeln sollte. Wir versuchen herauszuarbeiten, wofür man das positiv nutzen kann. Der Grundkreislauf der neuen Ökonomie lautet: Daten, Informationen und Innovation.
Was wir also brauchen, ist ein kreativer Umgang mit Daten, um daraus Informationen zu machen, also zu entscheiden: Ist das ein sinnvolles Produkt? Ist das eine Lösung für ein Problem, oder will das eigentlich keiner? Um diesen Kreislauf hinzukriegen, brauchen wir insbesondere in Deutschland einen anderen Umgang mit Daten.
Das Problem ist: Sobald wir in die Nähe dieses Themas kommen, rollen sich bei vielen die Fingernägel hoch, weil sie ein mulmiges Gefühl haben, ob Daten zu nutzen gut ist. Das ist auch vollkommen berechtigt. Wenn wir alles wüssten, was mit Daten heutzutage machbar ist, würden wir wahrscheinlich jede Maschine abstellen und sagen: nie mehr wieder. Das Problem ist aber: Ich will dieses Potenzial, diese Emanzipationsmöglichkeiten haben – und jetzt muss ich überlegen, wie finde ich einen Weg dahin?
"Inverse Transparenz" hatte die Idee: Wir stellen sicher, dass in einem Unternehmen die Beschäftigten sehen können, was mit ihren Daten gemacht wird. Die Firma, mit der wir das Projekt durchgeführt haben, hat ein leistungsfähiges Kommunikationssystem (Confluence), eine Art Unternehmens-Facebook. Dort teilen sie ihr Wissen über Projekte und Ideen – eine nützliche Sache, um gemeinsam schlauer zu werden, damit nicht alle die gleichen Fehler nochmal machen. Davon profitieren gerade auch Jüngere.
Wenn ich als Mitarbeiter aber Angst habe, dass diese Daten vom Arbeitgeber gegen mich verwendet werden – zum Beispiel zur Leistungskontrolle oder um Leute zu identifizieren, die man rauswerfen will, oder um Gehaltsforderungen zu kontern –, dann stelle ich da nichts rein, werde zurückhaltend. Wir haben mit Informatikern von der TU München und der LMU ein System geschaffen, das fälschungssicher Aussagen darüber trifft: Was wird mit diesen Daten gemacht, und von wem? Das ist die Vertrauensbasis, auf der wir Soziologen dann versuchen, eine neue Kultur des Umgangs mit Daten zu etablieren, bei der wir lernen, Daten so zu nutzen, dass wir Wissen teilen – weil wir wissen, wenn irgendwas Falsches passiert, ist das transparent. Wir haben mit den Betriebsräten ein System entwickelt, dass Datenmissbrauch sichtbar gemacht wird.
In Europa haben wir die Tendenz, überall Stoppzeichen zu machen und die Datennutzung einzuhegen, um unsere Arbeitswelt sicherer zu machen. Ihr Ansatz ist eher explorativ: Wir nutzen alle Daten und schauen, wie wir die Menschen integrieren – und das geht nur mit Vertrauen. Ist das auch Teil der Transformation zu sagen, wir müssen schneller Dinge ausprobieren?
Ich bin nicht bei der FDP – "Technik erst, Bedenken später" –, und ich bin auch nicht bei Google, die sagen: Lass mich mal alle Daten sammeln, und in fünf Jahren sage ich dir, was ich damit gemacht habe. Ich versuche, ein bestimmtes strategisches Problem bearbeitbar zu machen: Diese Daten können nützlich sein. Jetzt müssen wir Strukturen schaffen, die verhindern, dass das Nutzen dieser Daten schädlich für die Menschen ist. Zu sagen, jetzt machen wir erstmal, und dann gucken wir nachher, was wir uns eingebrockt haben – da bin ich total dagegen.
Ich würde auch alles blockieren, bei dem Folgen entstehen, von denen wir heute noch nicht wissen, was sie bedeuten. Das gilt gerade in unserem Land. Als die NSDAP 1933 an die Macht kam, haben sie als erstes den Datenfundus der Gesellschaft revolutioniert. Die Deutsche Hollerith-Maschinen-Gesellschaft war ihr Lieblingskind – die haben über alles Daten erfasst, und diese Daten haben sie mit einem Kontrollanspruch zu verbinden versucht.
Da haben wir Deutschen ein kollektives Gedächtnis, und das geht weit zurück in einer Gesellschaft, auch wenn die Menschen selbst es gar nicht erlebt haben. Wir wissen, dass da etwas ist, was gefährlich werden kann, und ich denke, da darf man keine Kompromisse machen. Zugleich sehe ich das Potenzial. Wie können wir die Chancen nutzen, ohne das Kontroll- und das Unterwerfungspotenzial zu haben?
Daten müssen für das Gemeinwohl genutzt werden
Ließen sich in Unternehmen gesammelte Daten auch gemeinschaftlich nutzen?
Wir müssen viel mehr darüber reden, dass wir den Besitz von Daten entkoppeln vom Gebrauch von Daten. In Gremien beharrt jede einzelne Partei darauf, dass das ihre Daten sind. Mit diesem "Meine Daten, deine Daten" blockieren wir uns. Wenn beispielsweise die Kommunen bestimmte Daten teilen würden, wäre viel möglich. Wir könnten die Daten anonymisiert in einen gemeinsamen Pool einspeisen und diesen von gemeinwohlorientierten Organisationen treuhänderisch verwalten lassen. Dann könnte ein Wettbewerb entstehen, nicht um den Besitz, sondern um die sinnvolle Nutzung der Daten.
Wir wissen beispielsweise, dass etwa 40 Prozent des innerstädtischen Verkehrs nur der Parkplatzsuche dienen. Wenn nun die Kommunen ihre Daten zur Parkhausbelegung teilen, dann kommen hunderte von Startups, die sagen: Ich habe eine super Idee, wie wir die Parkplatzsuche in der Stadt verändern oder die Leihfahrradstruktur verbessern können.
Dazu brauchen wir Datentreuhänder, eine radikale Orientierung auf Gemeinwohlorientierung von Datennutzung und Systeme der Anonymisierung. Da gibt es mittlerweile tolle Sachen. Wir arbeiten mit der SINE Foundation zusammen, die beispielsweise am Thema CO2-Footprint einer Wertschöpfungskette arbeiten. Da misstrauen sich die Unternehmen gegenseitig, denn jeder denkt: Wenn du meine Daten siehst, dann weißt du, wie ich das mache. Deswegen geben sie alle keine vernünftigen Daten weiter – und deswegen kann man den CO2-Footprint nicht einfach so berechnen. Diese Firma nun hat Anonymisierungsverfahren, was offensichtlich auch funktioniert.
Sind Sie optimistisch, dass sich Konzepte wie "inverse Transparenz" und gemeinwohlorientierte Datennutzung durchsetzen lassen? Die Entscheidungsprozesse dazu laufen auf der politischen Ebene genauso wie in den Unternehmen selbst. Kann das Datenpotenzial ausgeschöpft werden bei zugleich ausreichendem Schutz für die Menschen?
Vor drei Jahren noch wäre ich sehr optimistisch gewesen, dass wir das hinkriegen können. Das Dilemma ist, dass ich zuviel forsche und zu tief reingehe in das, was im Unternehmen geht, und auch zuviel in der Politik unterwegs bin und weiß, was sie wissen und was nicht. In Deutschland wird es sehr schwer werden. Wir haben dieses strategische Problem, dass wir keinen vernünftigen Umgang mit Daten finden. Wir haben bis 2012 oder 2013 überhaupt nicht verstanden, was Daten mit Ökonomie zu tun haben. Danach waren alle darauf erpicht, die Daten als Besitz zu sichern, weil sie Angst hatten, sie könnten die Verwertungsrechte daran verlieren.
Seit zwei, drei Jahren sagen sie nun, Daten sind ökonomisch, das Öl der Datenökonomie. Aber wenn man sagt, gut, dann lass uns über Datentreuhänderstrukturen nachdenken, was ein Kernelement sein könnte und sogar in EU-Strategien verankert ist, dann werden sie schmallippig. Denn sie wollen ja erstmal überlegen, die Daten selbst zu verwerten. Daten sind kein Öl. Wenn man das verfeuert hat, ist es weg – und macht Dreck. Daten lassen sich immer wieder nutzen. Aus Daten können Sie Daten machen, und je mehr Sie haben, umso mehr können Sie daraus machen.
Das Datenproblem in der Ökonomie ist ein ganz anderes. Wir müssten nicht nur das Problem mit dem Datenbesitz bearbeiten, sondern außerdem, und das ist hierzulande noch viel schwieriger: Dateninfrastrukturen schaffen. Die ganze Datenproblematik ist ja deswegen hochgepoppt, weil wir Cloud-Infrastrukturen haben.
In diese riesengroßen Datenspeicher speisen alle alles ein, und nur deswegen kann man da gigantische Querbeziehungen zwischen einzelnen Daten herstellen. Deutschland hat diese Entwicklung verschlafen und stellt jetzt fest: Amazon hat eine Cloud, Google auch, noch ein paar andere – aber wir haben keine. Oh, was machen wir jetzt? Wenn ich aber keine eigene Infrastruktur für die Datenhaltung habe, ist es natürlich viel schwieriger sicherzustellen, dass diese Daten nicht missbraucht werden. Stattdessen verlässt man sich jetzt auf die amerikanischen und chinesischen Anbieter und nutzt die Cloud von Alibaba und Tencent.
Sie kommen nicht aus der Technik, sondern aus der Sozialwissenschaft. Was ist Ihre soziologische Vision?
Was da im Moment mit dem Internet passiert, ist das Entstehen eines neuartigen sozialen Handlungsraums in der Welt. Es ist dieser Informationsraum, der mich interessiert. Darin entwickeln Milliarden von Menschen eine neue Form des Lebens, Arbeitens, Kommunizierens und Lernens, natürlich auch des Sich-Verletzens und Sich-Gewalt-Antuns.
In diesem neuen Handlungsraum liegt für mich die Wurzel dessen, woraus man Optimismus schöpfen kann für eine bessere Welt.
Wir schaffen einen gemeinsamen Informationsraum als Handlungsebene der Welt und gucken, was gut ist für uns als Menschheit. Das finde ich ein gigantisches Projekt, das es lohnt, jede Menge Arbeit reinzustecken. Ich habe seit den 80er-Jahren mit dem Thema zu tun, und ich habe nicht das Gefühl, dass ich müde werde, daran weiterzuarbeiten.
Es lohnt sich zu versuchen, eine neue Gesellschaft zu formen, die besser lebt, anders arbeitet und sich schneller entwickeln kann. In den 90er-Jahren war das Bestreben, eine soziologische Theorie der digitalen Transformation zu schreiben.
Die Quintessenz ist, dass in diesem neuen sozialen Handlungsraum Milliarden von Menschen übers Internet verbunden sind und in ihren Beziehungen etwas Neues entwickeln. Das ist nicht identisch mit der Struktur, dem Internet selbst, sondern die Menschen machen daraus etwas Neuartiges. Es ist wie Sprache: Sprache ist das, was Menschen an Beziehung und Verständigung damit schaffen, und das ist nicht nur die Anzahl der Wörter, die ich kenne, und die Grammatik.
Tagung: Der Traum vom freien Raum – Das Internet und seine Utopien
I COME FROM CYBERSPACE, THE NEW HOME OF MIND, schrieb J.P. Barlow 1996 in seiner Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. Was wurde aus diesem Traum der absoluten Demokratie und Informationsfreiheit im Netz? Wo endet der Mythos, wo beginnt die Realität?
Die Tagung beschäftigt sich mit Konzepten und Idealen, Hoffnungen und Visionen zum World Wide Web. Sie nimmt Utopien der kleinen, progressiven Netzcommunity der 1980er und 1990er Jahren in den Blick und setzt sie zu geschichtlichen Entwicklungen und der gegenwärtigen netzpolitischen Situation in Bezug. Auch neue, in die Zukunft gerichtete Utopien des digitalen Raums werden diskutiert.
Wie steht es um das politische Ideal der gleichberechtigten demokratischen Teilhabe in einer Zeit, in der autoritäre Regime neue Macht entfalten? Wie ist es um Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Wissen bestellt in einer Zeit, in der Fakten mit dem Postfaktischen im Streit liegen? Wie verhält es sich mit den Freiheitsversprechen einer selbstbestimmten und kreativen Ökonomie, die am Anfang der Netzgeschichte standen? Und: Was ist aus der Verheißung geworden, mit dem Cyberspace einen Ort neuer Möglichkeiten zu schaffen, in dem der Geist losgelöst ist von Begrenzungen durch Raum und Zeit?
Auf der Tagung analysieren wir den Status Quo und diskutieren neue Utopien: Was hat sich beim Erkunden des Digitalen bewährt, was nicht? Welche Lösungsansätze gibt es und wo sind noch neu oder weiter zu erkundende Potenziale? Würde J.P. Barlow heute noch eine Unabhängigkeitserklärung des Internets schreiben und wie sähe sie aus?
Alix Michell, Studienleitung für Kunst, Kultur, Digitales und Bildung Evangelische Akademie Tutzing
Prof. Dr. Thomas Zeilinger, Beauftragter für Ethik im Dialog mit Technologie und Naturwissenschaft der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern
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