Viele Betroffene glauben, sie seien die Einzigen, die in Deutschland nicht lesen und schreiben können. Andrea Kuhn-Bösch, Fachbereichsleiterin für Alphabetisierung und Grundbildung bei der Münchner vhs erklärt, was funktionaler Analphabetismus bedeutet.

Tim-Thilo Fellner hat erst mit Mitte 20 richtig lesen und schreiben gelernt. Er kommt aus einer "guten" Familie, der Vater war Geschäftsmann, die Mutter Hausfrau. Er erzählt im Beitrag davon, wie er sich durch Schule und Ausbildung gemogelt hat. Und wann er den Entschluss gefasst hat, etwas gegen seinen Analphabetismus zu tun. Heute ist er Kinderbuchautor und Verleger.

In fast jeder Stadt werden Alphabetisierungs-Kurse angeboten. Nicht nur Asylbewerber und Flüchtlinge brauchen diese, sondern auch viele muttersprachlich deutsch aufgewachsene Menschen verlassen die Schule, ohne lesen und schreiben zu können. Tim-Thilo Fellner hat mit Mitte 20 seine Chance wahrgenommen und ist heute Autor und Kinderbuchautor.

Wie die UNESCO mitteilt, haben weltweit mindestens 750 Millionen Erwachsene keine grundlegenden Lese- und Schreibkenntnisse. Zwei Drittel von ihnen sind Frauen und 102 Millionen junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren. Damit hat sich die Lage im Vergleich zum Jahr 2017 kaum verbessert. Viele der weltweit 192 Millionen Erwerbslosen finden keine Arbeit, weil ihnen grundlegende Fähigkeiten fehlen. Darauf macht die UNESCO anlässlich des Welttags der Alphabetisierung am 8. September aufmerksam.

Bis 2030 soll durch die "Globale Nachhaltigkeitsagenda" allen Menschen weltweit Lesen und Schreiben beigebracht werden. Auch in Deutschland. Trotz bestehender Angebote muss hier aber noch mehr getan werden. Bildung ist eine wichtige Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Wer sich jahrelang durchgemogelt hat, bleibt immer auf Hilfe von anderen angewiesen. Es kostet eine große Überwindung, diese fehlende Kompetenz zuzugeben. Das soll geändert werden. In Deutschland gibt es zahlreiche Angebote. Die meisten Kurse bieten die Volkshochschulen (vhs) an.

Wie Schreib- und Lesekompetenzen erfolgreich vermittelt werden können, zeigen die in diesem Jahr mit den UNESCO-Alphabetisierungspreisen ausgezeichneten Projekte.

Die Preise sind mit insgesamt 100.000 US-Dollar dotiert:

  • Bildung für ausgeschlossene Frauen und Mädchen (Afghanistan): Dieses Programm von Aid Afghanistan for Education soll Frauen und Mädchen Lernchancen außerhalb des formalen Bildungssystems ermöglichen. Es bietet ihnen eine zweite Chance, ihre Schul- oder Berufsschulbildung abzuschließen, um Arbeit aufzunehmen oder ein eigenes Unternehmen zu gründen.
  • Alphabetisierung und Computerkenntnisse (Iran): Diese Initiative der Literacy Movement Organisation setzt sich für die Alphabetisierung von Frauen und Mädchen in ländlichen Regionen, von Minderheiten, Fabrikarbeitern und Häftlingen ein. Sie vermittelt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zudem grundlegende Computerkenntnisse.
  • Bildungsprogramm für Häftlinge (Nigeria): Das Alphabetisierungs- und Berufsbildungsprogramm der nigerianischen Haftanstalten soll Haltungen, Werte und Verhalten der Häftlinge verändern, um ihnen eine Reintegration in die Gesellschaft zu erleichtern.
  • Spanisch als Zweitsprache für Immigranten (Spanien): Die Initiative der Stiftung Elche Acoge hilft Immigranten bei der Integration durch die Vermittlung von Spanischkenntnissen und weiteren Fähigkeiten.
  • Immer Lernen (Uruguay): Immer Lernen wurde vom Kultur- und Bildungsministerium in Uruguay ins Leben gerufen. Es ermöglicht Häftlingen Schreib- und Lesekompetenzen sowie Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt zu erwerben. 

 

Globale Nachhaltigkeitsagenda

Eine universelle Alphabetisierung ist für den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt von grundlegender Bedeutung. Mit Ziel 4 der Globalen Nachhaltigkeitsagenda hat sich die Weltgemeinschaft dazu verpflichtet, bis zum Jahr 2030 den Erwerb ausreichender Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten für alle Jugendlichen und für einen erheblichen Anteil der Erwachsenen sicherzustellen. Die UNESCO koordiniert die internationalen Aktivitäten zur Alphabetisierung und setzt eigene Programme um. Mit dem UNESCO-Institut für Lebenslanges Lernen (UIL) in Hamburg ist der zentrale Akteur für die Alphabetisierungsarbeit der UNESCO im Bereich der Erwachsenenbildung in Deutschland angesiedelt.