Johannes Hepp ist Psychologe, systemischer Familientherapeut und Psychotherapeut. Im Podcast "Ethik Digital" spricht er mit Rieke C. Harmsen und Christine Ulrich über "Die Psyche des Homo Digitalis" und erklärt, wie die Digitalisierung zu Neurosen führt – und was wir dagegen tun können. 

In Ihrem Buch beschreiben Sie 21 Neurosen der digitalen Gesellschaft. Was verstehen Sie unter einer Neurose?

Hepp: Der Neurose-Begriff füllt Bücherregale. Er wurde vor über 120 Jahren von Sigmund Freud geprägt und wandelt sich ständig. Ich beschreibe in meinem Buch Gegenwartsneurosen und beziehe mich dabei auf die Computerwissenschaften. Im Digitalen ist das Konzept der Neurose eigentlich zum ersten Mal wissenschaftlich belegt: Der Neurotizismus ist eine der Hauptdimensionen für das persönlichkeitstheoretische Modell des Menschen, das inzwischen fast ausschließlich angewandt wird für Marketing oder Werbung und von Konzernen und Ingenieuren aus dem Silicon Valley genutzt wird. 

Und diese Hauptdimension des Neurotizismus – also wie neurotisch ist ein User, ein Konsument, ein Bürger, ein Wähler und in welchen Bereichen – kann man schon anhand von 70 Datenpunkten festmachen. Mit diesen Daten kann man ein komplettes Persönlichkeitsprofil nach den fünf Hauptdimensionen der "Big Five" erstellen, und dadurch wissen alle größeren Akteure in der Digitalwirtschaft längst, wer von uns wie neurotisch ist. Über Microtargeting und Nudging kann ich die User ganz leicht schubsen und zupfen, damit, wenn ich zum Beispiel eine leichte Erhöhung in puncto Angstneurose habe, beispielsweise die Ängste vor Ausländern verstärkt werden.

Die US-amerikanische Firma Cambridge Analytics hat das vorgemacht, sie hatte von jedem Wähler der USA 2000 bis 5000 Datenpunkte. Damit kann ich eine Wahlkampagne gezielt für meine Neurose starten und Meinungen anheizen, damit ich Lügen glaube oder glaube, dass Qualitätsjournalisten lügen und die Lügenden die Wahrheit sagen. Wir haben heute über die gezielte Beeinflussung völlig neue Möglichkeiten, und diese übertreffen alles, was sich George Orwell ausgedacht hat, denn er ging nur von einer allgemeinen Beeinflussung aus. 

Das Wesen der Neurose ist die Maßlosigkeit

Die digitalen Entwicklungen treffen also auf eine Grunddisposition des Menschen, und bestehende Neurosen werden verstärkt?

Hepp: Das Wesen der Neurose ist die Maßlosigkeit. Ich spreche vor allem von Verhaltenssüchten. Wir konsumieren alle, aber jemand, der eine Konsumsucht hat, konsumiert weiter, auch wenn er verschuldet ist. Die Maßlosigkeit zeigt sich in einem inneren Drang, einer extremen Situation, der das Maß fehlt. Und das beschreibe ich in meinem Buch. Und darin wird sich jeder irgendwo wiederfinden. 

Ich werde in Interviews immer nach einem Tipp gefragt, wie wir gesund bleiben können. Man sollte sich selber fragen, was ist meine Schwäche? Wo gehe ich leicht in ein Extrem? Ist es die Datingneurose, also bin ich ständig auf der Suche nach dem Traumprinzen oder der Traumfrau? Dann entwickle ich mich aber beziehungsmäßig nicht weiter, sondern bleibe ewig am Werben und auf der Jagd. Oder habe ich eher eine Zwangsneurose und bin empfänglich für paranoide Geschichten, Verschwörungstheorien oder Fake News? Habe ich einen Hang zum Gaming oder Zocken? Viele junge Menschen steigen heute aus und entfliehen der Realität, weil sie sie überfordert, sie ziehen nicht als Hippies nach Marokko, sondern fliehen in die virtuellen Welten. 

Nicht jeder muss seine Neurose behandeln lassen

Ich habe ja eine Praxis in München, meine Hauptklientel ist zwischen 18 und 28. Weil es weniger männliche Therapeuten gibt, kommen viele junge Männer zu mir. Natürlich hat nicht jeder gleich eine behandlungswürdige Neurose im pathologischen Sinn. Vielen reicht diese Reflexion, es geht darum, Zusammenhänge zu verstehen und zu schauen, wo sind meine Schwachstellen, und genau da anzusetzen. Und die Menschen müssen erkennen, wann Dating zum Selbstzweck wird oder nur zur Evaluierung des Marktwertes dient. Und da ist es wichtig, früh gegenzusteuern, damit eben keine Neurose daraus wird. 

In ihrem Buch beschreiben Sie Neurosen in den Bereichen Arbeit, Liebe und der Sinnfrage, und schildern eine starke Entfremdung. Wie ist Ihre gesellschaftliche Diagnose? 

Hepp: Diese extrem schnell voranschreitende Kultur der Virtualisierung lässt sich nicht aufhalten, weder von der Politik noch von uns. Wir haben in Bayern etwa 40 Prozent mehr Therapieanfragen bei Erwachsenen und 60 Prozent mehr bei Kindern und Jugendlichen als vor der Pandemie. Wir sind als Gesellschaft etwas naiv in die Pandemie gestolpert und haben geglaubt, wir könnten virtuell unser Leben fortführen, und dieser gigantische Feldversuch liefert uns nun die Rechnung. 

Andererseits gab es bei allen großen technologischen Neuerungen der Menschheitsgeschichte ähnliche Prozesse. Erst mal finden wir das toll, und dann gibt es eine Gegenbewegung, und erst mit der Zeit lernen wir, besser damit umzugehen.

Johannes Hepp über die Gefahr der Manipulation im Internet

Im Digitalen wird der Mensch immer mehr zum Produkt. Was verändert das?

Hepp: Ja, vor allem die Gefahr der Manipulation besteht. Meine größte Sorge ist, das maligne Narzissten – der "Guardian" nennt sie die neuen "Arschlochherrscher" – die Menschheitsgeschichte prägen. Und die unglaubliche Beeinflussung: Sie haben heute ganz neue Möglichkeiten des Deepfake. Heute klingt das Video nicht nur nach Trump oder nach Biden, es sieht auch so aus. Und wir sind aber immer noch der Homo Sapiens, ein Rudeltier, ein schlichtes Gemüt. 

Wir haben uns zwar über die Jahrtausende unfassbar gut angepasst. Aber noch nicht die Genetik, die braucht dafür Generationen. Aber wir müssen in kürzester Zeit Tönen und Bildern misstrauen lernen. Wir dürfen erst einmal gar nichts mehr glauben. Deswegen glaube ich, dass wir Quellenkritik als neues Hauptfach in den Schulen etablieren müssten. 

Müssten Sie Ihr Buch heute schon wieder ergänzen? Haben Sie weitere Neurosen diagnostiziert?

Hepp: Nein, denn ich decke Arbeit, Liebe und Sinn ab. Freud hat gesagt, und das gilt immer noch: Das Ziel einer gelungenen Psychotherapie ist, dass man erfüllend und gelungen lieben kann, dass man erfüllend und wirksam arbeiten kann und weiß, welchen Sinn das für einen hat. 

Wird es schwieriger, menschliche Werte hochzuhalten, also so etwas wie Freiheit oder Gemeinschaft oder Gerechtigkeit? 

Hepp: Ja klar. Denn umso stärker ich manipuliert werde und umso weniger es mir bewusst ist, umso weniger Freiheit habe ich auch. Denn was ist Gerechtigkeit, wenn ich der Lüge glaube? Wie kann ich gerecht sein, wenn ich Wahrheit und Lüge nicht mehr unterscheiden kann? Dann helfe ich den Falschen, und dann sind diese in der Folge ungerecht – und so weiter. Neu ist, dass die Menschen meinen, sie wären gerecht, agieren aber mit einem falschen Grundparameter. Die Menschen, die das Kapitol gestürmt haben, dachten ja, sie sind die Demokratie. – Und damit bin ich bei Freuds Grundtheorie: Umso unbewusster uns Prozesse sind und umso unbewusster die Abwehrmechanismen, umso stärker ist die Beeinflussung meines Verhaltens. Und das betrifft Freiheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit.

Wir müssen digitalen Inhalten misstrauen und dürfen gleichzeitig nicht verlernen, den Menschen zu vertrauen?

Hepp: Ja, aber rein virtuell vertrauen geht nicht. Ich habe während der Pandemie auch Meetings über Zoom gehalten. Aber das hat nur geklappt mit Patientinnen und Patienten, die ich schon länger hatte und zu denen ich schon in der realen Begegnung eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut hatte.

– Deshalb rate ich allen, die Datingportale nutzen, nur kurz ein Videochat zu machen und dann schnell in die reale Begegnung zu gehen, sonst gibt es einen Realitätsschock. Und eine rein digitale Präsentation hat auf uns eben nicht den gleichen psychischen Effekt. 

 

Johannes Hepp über die Angst, etwas zu verpassen

Ich sehe das bei Kindern mit getrennt lebenden Eltern. Da gibt es die FOMO-Neurose, also die Angst, etwas zu verpassen. Der Vater meint, er müsse in Australien leben und dann will er ständig Meetings über Skype abhalten, aber das hat Null Wirkung bei den Kindern. Und dann wundert sich der Vater, dass er keine emotionale, vertrauensvolle, eben wirklich psychisch spürbare Bindung aufbauen konnte. 

Sie plädieren für die reale Begegnung – sind wir verloren im Digitalen?

Hepp: So krass würde ich das gar nicht formulieren. Aber es geht um das Maß. Statistische Erhebungen zeigen, dass wir in Deutschland seit der Pandemie durchschnittlich zehn Stunden im Netz sind. Aber für unsere psychisch gesunde Entwicklung brauchen wir den realen Kontakt. Auch den Körperkontakt. Der ist nicht zu ersetzen. Als Kind, aber auch als Erwachsene: Wir müssen sie spüren, die Geborgenheit. Wir müssen spüren, dass wir gehalten werden, dass wir in einer Gemeinschaft sind. 

Es gibt dazu Studien, zu Facebook beispielsweise, die zeigen, dass umso höher die Zahl der "friends" ist, umso höher ist mein subjektives Erlebnis von Einsamkeit. Völlig paradox. Deswegen sind "friends" auch keine Freunde.

Freunde haben mit Körperkontakt zu tun. "friends" heben dich nicht auf, wenn du gestolpert bist. Das Internet hebt dich nicht auf und küsst dich auch nicht.

Und wo müsste sich in der Gesetzgebung etwas ändern?

Sex und Pornografie sind ein Riesenthema. Hier könnte die Politik etwas ändern. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass es 2023 in Deutschland so gut wie keine Pornoseite gibt, bei der man das Alter nachweisen muss. Jeder Zehnjährige kann auf einen Button "ja, ich bin 18" klicken. Viele Seiten haben noch nicht mal das.

Und diese Seiten zeigen nicht mehr Playboy, sondern da ist Gewalt und ein fließender Übergang in der Entwertung von Menschen. Ich verstehe nicht, dass der Gesetzgeber da nicht handelt. 

Pornografie-Zugriff sollte eingeschränkt werden

Denn für die Eltern wird das immer mehr zu einer Überforderung. Eltern können das heute nicht mehr kontrollieren. Ich habe zwei Söhne, zehn und zwölf, ich weiß, wie mühsam das ist, wenn man am Handy alles einstellen will. Im Zweifel werden alle Sperren umgangen oder Ihre Kinder gehen einfach woanders hin. 

Heute müssen die Eltern die Werte selbst verkörpern. Nur so bekommen die Kinder das irgendwann mit. Wenn die Eltern selber ständig am Handy sind, dann können sie ihren Kindern erzählen, was sie wollen. Ebenso, wenn sie keine wertschätzende, liebevolle Paarbeziehung leben oder selber konsumsüchtig sind. Aber das ist auch nicht neu. 

Wie lautet ihre Botschaft an den Homo Digitalis?

Hepp: Der Mensch sollte sich selbst reflektieren können. Wir müssen uns selbst besser verstehen, und auch zu einem gewissen Grad technisch verstehen, wie wir manipuliert werden, um dann bewusst gegensteuern zu können.

Dabei hilft, die Schwachstellen im eigenen Charakter und in der Persönlichkeitsstruktur zu erkennen.

In der Psychoanalyse spricht man vom grundlegenden Konflikt in der eigenen Geschichte. Also da hat ein Mensch ein übertriebenes Sicherheitsbedürfnis aufgrund der geringen Sicherheit, die er als Kind erlebt hat. Und dagegen muss er ansteuern. 

 

Der Text ist eine gekürzte und redigierte Version des Video-Gesprächs.

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Johannes Hepp Podcast Ethik Digital
Johannes Hepp spricht im Podcast Ethik Digital über 21 Neurosen des Homo Digitalis.

Johannes Hepp: Die Psyche des Homo Digitalis

21 Neurosen, die uns im 21. Jahrhundert herausfordern

Der Psychologe und Psychotherapeut Johannes Hepp zeigt, was uns im Zuge der rasant voranschreitenden Digitalisierung neurotischer werden lässt, welche Gründe dafür verantwortlich sind, wie wir uns dieser Entwicklung bewusst werden und wie wir selbstbestimmt und selbstwirksam gegensteuern können.
Unterteilt in Liebe, Arbeit und Sinn stellt Hepp dazu 21 Neurosen des 21. Jahrhunderts vor. Er spannt dabei einen Bogen von Internet- und Online-Sexsucht, Beziehungsängsten und wachsender Einsamkeit (trotz globaler Vernetzung), von der Dating- und Profilneurose über Erziehungswettstreit und krank machenden PerfektionismusSelbstoptimierungs- und Einzigartigkeitszwängen bis hin zu den Ewigkeitsversprechen der Altersforschung und neuen Datenreligion.Damit wir zu diesen schwindelig machenden Prozessen ein gesundes Verhältnis entwickeln können, liefert der Autor für unsere Turbozeit aus Bits und Bytes eine scharfsinnige, aber auch hoffnungsfrohe und humorvolle Auseinandersetzung. Durch konkrete Hinweise, persönliche Erfahrungen und Beispiele aus der psychotherapeutischen Praxis hilft Hepp dabei, unsere psychische Widerstandskraft zu stärken und heil durch den digitalen Dschungel zu finden.

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mehrLUTHER am Di, 19.12.2023 - 09:06 Link

Herr Hepp,
folgende Anmerkung von Ihnen finde ich verantwortungsvoll und lobenswert:
"Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass es 2023 in Deutschland so gut wie keine Pornoseite gibt, bei der man das Alter nachweisen muss. Jeder Zehnjährige kann auf einen Button "ja, ich bin 18" klicken. Viele Seiten haben noch nicht mal das."
Friedliche Grüße
Sebastiano Caruso

mehrLUTHER am Di, 19.12.2023 - 09:02 Link

Die digitale Gefahr Herr Hepp, Frau Harmsen, Frau Ulrich,
ist nicht das "Haupt-Übel" zudem sie den Neurotizismus thematisieren.
Unsere falschen Lebenseinstellungen unsere "Gewissens-Schlampigkeiten" auch von Geisteswissenschaftlern und "Psyche-Spezialisten", die die Missstände allerorten klar beim Namen nennen müßten sind das Problem. Lassen Sie uns uns nicht mit Titeln und mit der Herausgabe von Bücher und sonstigen Ehrengesuche schmücken, sondern mit der Bennung von unangenehmen Wahrheiten, welche die Kraft und Wirkungen beinhalten tatsächlich WERTVOLLES in Gang zu setzen!
Friedliche Grüße und Glückwünsche
Sebastiano Caruso
sc454530@gmail.com
Philosoph o.A. Hagiograph-Amateur