Die Lage in den bayerischen Krankenhäusern ist in der vierten Corona-Welle angespannt. Inzwischen muss sogar die Bundeswehr helfen, indem sie Patient*innen mit Flugzeugen in andere Kliniken transportiert. Neben den Ärzt*innen und Pfleger*innen gibt es eine weitere Berufsgruppe, die diese dramatische Situation direkt zu spüren bekommen: Die Krankenhaus-Seelsorger*innen.
Pfarrer Harald Richter ist Vorsitzender der Evangelischen Krankenhausseelsorge Bayern. Im Sonntagsblatt-Gespräch erklärt er, unter welchen Bedingungen er und seine Kolleg*innen momentan arbeiten, was ihnen dabei Kraft gibt und ob sie sich von der Landeskirche ausreichend unterstützt fühlen.
Herr Richter, die vierte Welle trifft Bayern weiter mit voller Wucht. Wie wirkt sich die aktuelle Situation auf die Krankenhaus-Seelsorge aus?
Harald Richter: Es ist schon anders als bei der ersten und zweiten Welle, wo zumindest in der Anfangsphase an manchen Häusern nicht klar war, wie die Krankenhaus-Seelsorge eingebunden ist und ob der Zugang zu den Patienten weiter besteht. Da gab es eine gewisse Unsicherheit, aber das hat sich relativ schnell in den allermeisten Häusern geklärt. Es wurde zum Glück verstanden, dass Krankenhaus-Seelsorge ein Teil des Systems ist.
Wie stark hat sich die Arbeit im Krankenhaus verändert?
Richter: An vielen Häusern sind die Besuche wieder eingeschränkt worden oder nur noch in Ausnahmefällen möglich. Auch das hebt den Bedarf bei den Patienten nach Gespräch und Kontakt, weil die Angehörigen nicht immer rein können. Das kann man natürlich nicht alles kompensieren, aber man merkt, dass der Bedarf nach Gespräch, Kontakt und Austausch bei den Patienten groß ist. Übrigens auch beim Personal. Das war immer ein Teil unserer Aufgabe, aber jetzt ist es noch mal wichtiger geworden. Auf der anderen Seite ist es auch so, dass das Personal und die Krankenhäuser die Klinik-Seelsorge durch diese Zeit noch einmal anders sehen gelernt haben, nämlich als einen wichtigen Teil des ganzen Unterstützungssystems.
Sie können Ihre Arbeit also ohne Einschränkungen fortsetzen?
Richter: Insgesamt auf jeden Fall. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, wo Kliniken ganz zugemacht und die Krankenhaus-Seelsorge als auswärtige Besucher gesehen haben. Aber das sind eigentlich eher Einzelfälle. Wir hatten vor ein paar Wochen einen großen ökumenischen digitalen Kongress für die Krankenhausversorgung in Deutschland. Und da haben 90 Prozent der Kollegen gesagt, sie haben eigentlich durchgehend Zugang gehabt. Insofern sind manche Vorwürfe, die gerade in der ersten und zweiten Welle kamen, die Kirche sei nicht dagewesen, haltlos.
"Gestandene Kolleginnen und Kollegen sagen mir: Ich merke langsam, es geht doch an die Substanz."
Pfarrer Harald Richter
Harald Richter ist Vorsitzender der Evangelischen Krankenhausseelsorge Bayern. Er ist ausgebildeter Pastoralpsychologe und seit 1997 Teil des ökumenischen Seelsorge-Teams am Rhön-Klinikum und im Heilbad in Bad Neustadt an der Saale.
Wie gehen Sie und Ihre Kollegen mit der gewachsenen Belastung um?
Richter: Gestandene Kolleginnen und Kollegen sagen mir: Ich merke langsam, es geht doch an die Substanz. Ich muss deutlicher auf mich aufpassen. Auch das kostet Kraft, immer wieder da zu sein, auch unter Stress da zu sein, immer wieder Entscheidungen zu treffen. Wie geht es weiter mit Gottesdiensten? Wie verhalte ich mich richtig? Die Abwägung zwischen Selbstschutz und Fremdschutz und dabei trotzdem die Aufgabe wahrnehmen. Und immer wieder zu den Patienten zu gehen und das alles auszutarieren. Nach zwei Jahren geht das auch bei den stabilen Leuten an die Substanz.
Was hilft in dieser Situation durchzuhalten?
Richter: Unser Team zum Beispiel. Das ist schon eine große Ressource. Es gibt ja auch Kollegen, die allein arbeiten, in kleineren Häusern. Das ist, glaube ich, durchaus eine zusätzliche Belastung, immer alles alleine entscheiden zu müssen.
"Man sieht ja auch plötzlich junge Leute, die auf der Intensivstation liegen. Ungeimpft. Und man erlebt diese Schicksale und denkt sich: Was ist das für ein Wahnsinn?"
Und das, wo man vielleicht selbst Seelsorge bräuchte…
Richter: Ja, genau. Wir hatten heute beispielsweise eine ganz kritische Situation auf einer Station, wo eine Ungeimpfte ins Haus kam. Die wollte zu ihrer sterbenden Mutter und hat einen Riesenkonflikt vom Zaun gebrochen. Diese eskalierenden Geschichten nehmen im Moment zu, auch im Krankenhaus, in Verbindung mit Leuten, die einfach nicht einsichtig sind. Mancher Kollege spürt jetzt auch menschlichen Ärger hochsteigen bei diesem Thema „geimpft – nicht geimpft“. Man sieht ja auch plötzlich junge Leute, die auf der Intensivstation liegen. Ungeimpft. Und man erlebt diese Schicksale und denkt sich: Was ist das für ein Wahnsinn? Das hätte man alles verhindern können, mit ein bisschen Vernunft. Da ist man selber als Mensch manchmal wütend oder erschöpft. Und auf der anderen Seite haben meine Kollegen und ich Glück, denn wir arbeiten eigentlich in einem System, in dem relativ geordnet die Regelungen eingehalten werden. Wir sind schnell geimpft worden. Also ich arbeite lieber im Krankenhaus, auch auf Covid-Stationen als dass ich mir vorstelle, an der Kasse im Supermarkt zu sitzen. Da würde ich mir viel unsicherer vorkommen oder gefährdeter.
"Die biblischen Traditionen, in denen die wichtigen, Hoffnung stiftenden Erzählungen entstanden, waren lauter Grenzsituationen: Die Exodus-Geschichte, der Auszug aus Ägypten, das babylonische Exil."
Was gibt Ihnen noch Kraft?
Richter: Die Erfahrung, dass die Menschen sehr dankbar sind für unsere Arbeit. Ob das Patienten, Ärzt*innen, Pflegende oder andere Berufsgruppen im Krankenhaus sind. Es gibt Momente, wo ich merke, dass in den letzten zwei Jahren der Kontakt noch enger geworden ist, die Vertrautheit, die Gespräche. Wir müssen doch zusammenhalten hier. Und dann die Rückmeldung von den Patienten, wirklich zu merken, dass die das brauchen und dass sie dankbar sind, dass jemand Zeit hat und da ist. Das gibt Motivation. Ich bin sehr widerstandsfähig. Ich komme eigentlich gut zurecht mit der Situation, aber ich merke zum Beispiel, ich brauche mehr Ruhezeiten, ich muss bewusster darauf achten, auch mal abzuschalten und mal einen Tag zu Hause verbringen. Und ich denke schon, dass mein Glaube mir insofern hilft, als dass er der Grund von Zuversicht ist. Wir brauchen ein positives Narrativ. Eines, das uns sagt: Wir schaffen das und wir können das. Wie Frau Merkel so schön sagte. Das ist zutiefst biblisch. Die biblischen Traditionen, in denen die wichtigen, Hoffnung stiftenden Erzählungen entstanden, waren lauter Grenzsituationen: Die Exodus-Geschichte, der Auszug aus Ägypten, das babylonische Exil.
"Man wird erfinderisch, wie man das Evangelium unter die Leute trägt."
Also machen Sie aus der Not auch eine Tugend?
Richter: Solche Grenzerfahrungen und solche Fremdheits-Erfahrungen sind tatsächlich etwas, wo wir weiterkommen, wo was Neues entwickelt wird. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Aspekt. Gottesdienste müssen wir gerade wieder absagen, aber was können wir da machen, um Kontakt herzustellen, zum Beispiel mit Streaming? Da haben wir viel Neues entdeckt in letzter Zeit. Und so entstehen dann völlig neue Geschichten. Wir verändern uns. Wir passen uns an und entdecken neue Möglichkeiten, die man sonst nie ausprobiert hätte. Man wird erfinderisch, wie man das Evangelium unter die Leute trägt.
Fühlen Sie sich von der Landeskirche denn ausreichend unterstützt bei Ihrer Aufgabe?
Richter: Krankenhaus-Seelsorge wird manchmal auch in unseren Kirchen übersehen. Wir haben gerade bei der Landessynode erlebt, dass sie vom Status her einen gewissen Verlust erlebt hat. Manchmal fragt man sich, ob die eigentlich merken, wie wertvoll diese Arbeit wirklich ist. Aber klar: Was in den Krankenhäusern passiert ist, sieht nur der, der selber dort ist.