Tutzing (epd). Soziale Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung und Bildungschancen: Mit diesen Schlagworten war der Neujahrsempfang der Evangelischen Akademie Tutzing am Mittwochabend überschrieben. Erstmals nach der Corona-Pause trafen sich wieder rund 350 Gäste aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Medien und Kirche im Schloss Tutzing am Starnberger See. Mit Blick auf das Stichwort der "Zeitenwende" zitierte Akademiedirektor Udo Hahn in seiner Begrüßung den Kirchenlehrer Augustinus: "So wie wir sind, sind die Zeiten." Deshalb dürften Menschen "zu keiner Zeit" die Kraft und den Mut zur Gestaltung der Welt verlieren, sagte der Theologe laut Redemanuskript. Dafür seien Denkräume wie die Akademie Tutzing wichtig, in denen die oft überhörte Perspektive von Betroffenen zur Sprache komme.

Staatsminister Florian Herrmann überbrachte in Vertretung des Ministerpräsidenten die Grußworte der Bayerischen Staatsregierung. Anschließend bezeichnete es Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm in seiner letzten Tutzinger Rede laut Manuskript als Pflicht von Kirche und Diakonie, sich politisch einzumischen, wenn es um Armut und soziale Gerechtigkeit gehe. Konkret forderte er "eine Versachlichung der Steuerdebatte". Die "Sozialpflichtigkeit privaten Eigentums" müsse angesichts eines Privatvermögens von 7,3 Billionen Euro und "riesiger Zukunftsherausforderungen" selbstverständlich sein.

Die Frage sei nicht, "ob es den Wohlhabenden zumutbar ist, sich stärker an der Finanzierung all dieser gesellschaftlich notwendigen Dinge zu beteiligen", sondern ob mit den Steuereinnahmen auch die gewünschten Effekte erzielt würden. Andernfalls sei das System "dysfunktional", so der Theologe, der im Herbst 2023 aus dem Amt scheidet. Wer als Landesbischof oder Landesbischöfin auf Bedford-Strohm folgt, entscheidet sich bei der Synodaltagung am 27. März in der Münchner Matthäuskirche.

Für die Einführung einer Kindergrundsicherung sprach sich die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, in ihrer Festrede im Musiksaal der Akademie aus. Aus armen Kindern würden "fast zwangsläufig arme Erwachsene und später arme Rentnerinnen und Rentner", sagte Bentele laut Manuskript. Eine Grundleistung für Kinder sei "staatspolitisch sinnvoll", weil sie durch mehr Bildungsgerechtigkeit einen "return on investment" erzeuge: "Künftig bekommt der Staat diese Ausgaben in Form von Steuern oder Sozialversicherungsbeiträgen mindestens in gleicher Höhe zurück", erklärte die 41-Jährige, die die 2,2 Millionen Mitglieder des Sozialverbands VdK Deutschland repräsentiert.

In ihrer Rede mit dem Titel "Ungleichheit ist kein Schicksal - Wie wir eine solidarische Gesellschaft werden" verwies Bentele auf Studien, nach denen von Armut betroffene Familien erst in der sechsten Generation ein Durchschnittseinkommen erreichten. Armut bedeute "täglich Stress und Sorgen" ohne eine hoffnungsvolle Perspektive, betonte die frühere Biathletin. Von Armut betroffene Menschen müssten endlich ermächtigt werden, sich aus ihrer schwierigen Situation zu befreien.

Schubladendenken und Vorurteile wies die VdK-Präsidentin strikt zurück: Armut sei kein "selbstgewähltes Schicksal", dem man leicht durch Leistung und Anstrengung entkommen könne. Das Bürgergeld, vormals Hartz IV, gelte bei den Ausgabestellen der "Tafeln" als Nachweis von Bedürftigkeit. Das sei "das staatliche Eingeständnis, dass der Regelsatz nicht reicht, um davon genügend Lebensmittel zu kaufen", sagte Bentele. Solidarität wiederum sei die beste Prävention "nicht nur gegen Armut, sondern auch gegen soziale Verunsicherung" und Demokratieverdrossenheit.

Verena Bentele ist seit 2018 Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland. Zuvor war die gebürtige Lindauerin, die von Geburt an blind ist, vier Jahre lang Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung. Nach ihrem Literaturwissenschaftsstudium arbeitete sie als Coach und Rednerin. Bentele gewann als Mitglied der Nationalmannschaft im Skilanglauf und Biathlon unter anderem vier Weltmeistertitel. Sie holte fünf Goldmedaillen bei den Paralympischen Winterspielen 2010 in Vancouver.

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