Eine Mundharmonika, griffbereit neben der Kaffeetasse: Das ist ein Bild, das ich in mir trage. Das Instrument gehört zu meiner vor über zwanzig Jahren verstorbenen Tante Margarete. Ohne ihre Mundharmonika kann ich sie mir nicht denken. Genauso wenig wie ohne die Aufforderung, die ich bei jedem Besuch gehört habe: Tut beten, gut oberfränkisch gesagt. Auch das hat untrennbar zu ihr gehört.
Margarete war keine richtige Tante von mir. Meine Großmutter war mit ihrem Bruder verheiratet gewesen, eine Kriegshochzeit, er fiel im Zweiten Weltkrieg. Die Verbindung der Schwägerinnen blieb. Und manchmal war ich mit dabei, wenn meine Großmutter sich aufmachte hin zu dem winzigen Haus, zurückgesetzt von der Hauptstraße, als würde es sich hinter den großen Gebäuden verstecken. Drumherum ein paar Bäume, Blumenbeete, eine Bank. Der Besuch folgte jedes Mal derselben Choreographie: Margarete erwartet uns, steht in der Tür: klein, sie reicht mir, dem jungen Mädchen, kaum bis zur Schulter, der dünne Haarknoten ordentlich gesteckt. Sie strahlt.
Wir trinken Kaffee, unterhalten uns, mag sein über den gefallenen Bruder, den Krieg, der wohl auch ihr eine große Liebe genommen hat. Margarete blieb unverheiratet, ohne Kinder. Ihr Leben spielte sich weitgehend auf wenigen Quadratmetern ab – ein Leben gleichsam im Austragshaus, ohne dass ihr je zuvor die Rolle einer Hofherrin vergönnt gewesen wäre.
"Tut beten"
Sie sind nie lange, unsere Gespräche, die Mundharmonika wartet ja bereits. Margarete beginnt zu spielen, vor allem Choräle. Meine Großmutter und ich singen mit, da gibt es kein Entrinnen. Gut, dass wir unter uns sind. Zum Abschied dann der immer selbe Gruß, von der Haustür aus hinterhergerufen: Ade – und: Tut beten.
"Tut beten". Damals habe ich die Worte nicht wirklich ernst genommen. Später, lange nachdem meine Tante gestorben war, habe ich bedauert, dass wir nie darüber gesprochen hatten: Was ist ihr so wichtig gewesen am Beten? War es vielleicht, dass Gott der einzige war, an den sie sich immer wenden konnte in ihrem nicht einfachen Leben? Weil er der war, der mit ihr in der offenen Haustür geblieben ist, wenn wir gegangen waren? Der sie begleitet hat in der Stille ihrer Tage?
Ob sie etwas geahnt hat davon, dass wir ihren Abschiedsgruß oft leise lächelnd, auch mit einem leichten Kopfschütteln zitiert haben? Falls ja, hat sie sich davon nicht beirren lassen. Sie wollte wohl unbedingt weitergeben, was man irgendwie spüren konnte bei ihr: Es ist wichtig, es ist schön, das Leben zu teilen mit Gott. In Worten. Und in der Musik.
Gott spricht zwischen den Zeilen des Lebens
Rogate. Nichts anderes als meine Tante sagt dieser Sonntag: Tut beten. Betet.
Betet: Wie oft das zu lesen ist in der Bibel. Manchmal eindringlich, auch mahnend. Meistens aber einladend und mitunter: zum Niederknien schön. So, wie im 95. Psalm.
Kommt herzu, lasst uns dem Herrn frohlocken und jauchzen dem Hort unsres Heils! Lasst uns mit Danken vor sein Angesicht kommen und mit Psalmen ihm jauchzen! Denn der Herr ist ein großer Gott und ein großer König über alle Götter. Denn in seiner Hand sind die Tiefen der Erde, und die Höhen der Berge sind auch sein. Denn sein ist das Meer, und er hat’s gemacht, und seine Hände haben das Trockene bereitet. Kommt, lasst uns anbeten und knien und niederfallen vor dem HERRN, der uns gemacht hat. (Ps 95)[1]
Kommt, lasst uns beten. Am Morgen beim Frühlied der Amsel. Am Mittag, weil es nicht selbstverständlich ist, was vor mir auf dem Tisch steht. Zur Nacht, um zu danken und auch, um die Schatten zu vertreiben. Kommt, lasst uns beten. Allein auf einer Gartenbank vor einem kleinen Haus. In einem Gottesdienst gemeinsam mit anderen. In Versen, seit Generationen weitergegeben. Stumm, wenn das Leben mir die Sprache verschlägt. Dann wieder in einem Loblied, weil mein Glück tiefer wird, wenn ich es in den Himmel rufe.
Beten: Reden und hören. Im Gespräch sein mit Gott. In der Bibel ist das der Grund dafür, dass es uns überhaupt gibt: Gott ist sich nicht selbst genug, er sehnt sich nach einem Gegenüber. Er schafft den Menschen und beginnt ein Gespräch mit ihm, das bis heute andauert. Anfangs erzählen die Geschichten des Alten Testaments noch von richtigen Dialogen, Gott und Mensch sprechen direkt miteinander.
Auf eine Frage folgt eine Antwort, es wird diskutiert, Gott lässt sich mitunter sogar umstimmen. Aber so unmittelbar bleibt es nicht in der biblischen Überlieferung: Zunehmend verhaltener wird von solchen Erfahrungen mit Gott berichtet. Dann sprechen nur noch Propheten und Engel in seinem Namen, und schließlich ist es so, wie auch wir es kennen: Menschen versuchen, die Antworten Gottes aus ihren Erfahrungen abzulesen. Gott spricht zwischen den Zeilen unseres Lebens.
Eine Herausforderung mitunter, dieses Gespräch mit Gott. Umso wichtiger, dass wir es suchen, sagt Jesus: Bittet. Betet. Der Nachdruck, mit dem Jesus das sagt, erinnert mich an meine Tante. Und ebenso wie sie betont er es in dem Moment, in dem man oft sagt, was einem besonders wichtig ist: im Moment des Abschieds. In vielen Kirchen wird heute, wenige Tage vor Himmelfahrt, aus den letzten Reden Jesu an seine Jünger gelesen, so, wie sie im Johannesevangelium überliefert sind. Wie wird es sein, wenn die Freunde ohne Jesus zurückbleiben, wenn er sie nicht mehr hautnah begleiten und trösten, mit ihnen leben, weinen und lachen kann? Sie sollen keine Angst haben, sagt Jesus ihnen: Sie werden nicht allein sein. Sie können beten.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben. Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei. (Johannes 16,23b-24)[2]
Zwischen Erwartung und Ergebung
"In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet". Gott loben, zu ihm beten – und seine Nähe, seine Hilfe spüren: Es gab und gibt immer wieder Menschen, die das genau so erleben. "Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er´s euch geben", sagt Jesus.
Es gibt auch andere Erfahrungen: In meinen ersten Berufsjahren als Pfarrerin gebe ich Religionsunterricht in einer dritten Klasse. Ein Junge stört die Stunden regelmäßig und über das normale Maß hinaus. Als wir darüber sprechen, dass Gott uns liebt, bricht es aus ihm heraus: "Mich nicht. Mich hasst er." Ich spreche mit der Klassenlehrerin. Sie erzählt mir, dass sie Ähnliches erlebt hat mit dem Jungen und deswegen mit seiner Mutter gesprochen hat.
Ich höre seine Geschichte und beginne zu verstehen: Der Junge war im Kindergarten, als sich langsam abzeichnete, dass die Ehe seiner Eltern wohl auseinandergehen würde. Die Großmutter hat ihn ermutigt: Wenn du fest betest, dann bleiben Mama und Papa zusammen. Das Kind betete. Die Eltern trennten sich. Was konnte für das Kind anderes dahinterstecken, als dass Gott ihm einfach nicht helfen wollte?
Ich habe den Jungen nicht vergessen. Seinen Schmerz nicht, seine Bitterkeit, und auch nicht die Konsequenzen, die er aus seinem offensichtlich folgenlosen Gebet gezogen hat. Ich empfinde es als unverantwortlich, was die Großmutter dem Kind über das Beten vermittelt hat, welche Hoffnungen sie geweckt hat in ihm, welche Last sie auf seine schmalen Schultern gelegt hat. Und zugleich sehe ich ihre gute Absicht – und dass sie nicht weit weg war von dem, was Jesus uns mitgegeben hat: Bittet, so wird Euch gegeben.
Wir haben zu beten, zu hoffen. Und zugleich zu akzeptieren: Ja, es geschieht immer wieder, dass Gebete Folgen haben, die Menschen ersehnen; oft aber auch nicht. Warum das so ist, bleibt ein Geheimnis. Das Gebet wird nicht gerechtfertigt dadurch, dass seine Bitten erfüllt werden. Auch das hat Jesus vorgelebt: "Vater, ist´s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber", betet er im Garten Gethsemane, den Tod am Kreuz vor Augen, und sagt im gleichen Atemzug: "Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst." Dein Wille geschehe.
Sie ist alles andere als einfach, diese Gratwanderung zwischen Erwartung und Ergebung. Sie kann nicht nur ein Kind überfordern, sondern auch mich. Es tut weh, wenn dringende Bitten einfach so zu verhallen scheinen. Wenn ich nichts mehr davon spüre, dass da einer ist, der mich hört. Und ich dastehe vor Gott mit leeren Händen.
Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?
"Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr. Fremd wie dein Name sind mir deine Wege". Der Priester Huub Oosterhuis hat dieses Lied geschrieben, nachdem ein junger Mann aus seiner Studentengemeinde gestorben war. Unfassbar, und da sind so viel Schmerz und so viel Bitterkeit, die die Freunde, die Familie umtreiben: "Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott; mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen?" Ein Lied wie ein Psalm. Offen und schonungslos wendet es sich an Gott, mit allen Klagen. Und allen Fragen.
An einer bleibe ich besonders hängen: "Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?". Mich berührt, dass diese Frage überhaupt gestellt wird. Weil sie ausdrückt: Ich gebe dich nicht auf, Gott, auch, wenn ich dich nicht verstehe. Ich höre nicht auf zu hoffen, dass ich Dich und Deine Nähe wieder erleben werde. Ich denke an Tante Margarete und ihr einsames Leben. Auch sie scheint es nie ganz aufgegeben zu haben, das Vertrauen auf die Güte Gottes, auch wenn sie sicher nicht immer an ihrem Leben abzulesen war.
Tut beten. In Zeiten, in denen es mir schwerfällt, eigene Worte zu finden, helfen mir Lieder wie das von Huub Oosterhuis. Mir helfen die Psalmen, in denen Glaube und Zweifel von unzähligen Menschen mitschwingen. Und wenn mir sogar das schwerfällt: ihre Verse zu sprechen, dann hilft es mir, anderen dabei zuzuhören. Ich lasse mich tragen vom Beten der anderen. Und einmal dann kann ich es wieder sein, die andere Menschen trägt.
Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen? Der Satz drückt für mich nicht nur den Willen aus, in Verbindung zu bleiben mit Gott. Es ist auch eine Frage, die ich mir stelle, gerade, was das Beten betrifft. Dass es oft vor allem mit Erwartungen verbunden wird: Das habe ich selbst so erlebt, sicher hat mich auch die Auswahl der Geschichten in meiner Kinderbibel geprägt, in denen Bitten und Beten eng zusammenhingen. Im Neuen Testament ist das häufig so; als ob es das Gleiche wäre.
Dabei gibt es noch andere Perspektiven: Ich lese, dass im Judentum ein häufiges Wort für Beten das hebräische Wort lehitpalel ist. Man kann es deuten mit "sich selbst prüfen" und: sich im Licht Gottes ändern. Es ist ein Gedanke, der meinen Blick auf das Beten weitet: Es geht nicht in erster Linie darum, dass es mir gelingt, Gott mit meinem Bitten zu mir zu ziehen, ihn zu bewegen. Ich bewege mich, indem ich bete. Ob laut oder leise: Ich stelle mich mit allem, was mich umtreibt, in Gottes Licht. Und werde dadurch eine andere.
Wenn ich das Vaterunser bete etwa. Dein Reich komme, beten wir. Und jedes Mal, wenn ich diesen Satz spreche, weckt er neu meine Sehnsucht und auch meinen Widerstand: Die Welt darf und wird nicht aufgehen in dem, was wir sehen und erleben an Dummheit, an Hass, an Ungerechtigkeit. Dein Reich komme: Ich bitte Gott darum, erinnere ihn an seine Verheißung. Und zugleich werde ich selbst unruhig in einem guten Sinn: Dein Reich komme: Auch ich kann etwas beitragen zu einer Welt in Gottes Sinn. Ich und all die anderen, die diese Worte sprechen überall auf der Welt. Ich denke an die Friedensgebete, zu denen sich Menschen an so vielen Orten am 8. Mai versammelt haben, um vor Gott an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren zu denken und gemeinsam um Frieden und Geschwisterlichkeit zu bitten. Was für eine Kraft da spürbar war. Dein Reich komme: Wir beten miteinander, füreinander, für diese Erde. Das Gebet verbindet uns untereinander. Und mit dem Himmel.
Ich stelle mich in Gottes Licht
Der Theologe Fulbert Steffensky sagt:
Die Glaubenden tanzen ihren Glauben ohne die Sicherheitsnetze der sinnlichen Wahrnehmung.[3]
So ist es mit dem Beten: Ich bete, auch ohne die Sicherheit, immer gleich eine Antwort zu hören, zu spüren. Ich muss es einfach wagen. Aber eben auch: Ich darf ihn wagen, diesen heiligen Tanz, der mein Leben reich macht, der mich verändert und diese Welt. Der Glaube tritt auf mich zu, streckt mir seine Hand aus. Es ist an mir, seine Aufforderung anzunehmen. Über das Beten und seine Kraft lerne ich nur, indem ich es tue.
Die Gewissheit, dass Gott unsere Gebete hört, finden wir nur im Beten selbst. […] Nur die Betenden können die Frage vergessen, ob Gott hört.[4]
Dass Gott hört, lässt sich nicht beweisen, lässt sich nicht erzwingen. Aber erleben lässt es sich. Nur die Betenden können die Frage vergessen, ob Gott hört: Ich denke an meine Kindheit: Ich liege im Bett, die Vorhänge sind geschlossen, die Lampe brennt nicht mehr. Meine Mutter kommt ins Zimmer. Wir falten die Hände. Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Augen zu. Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein. Alle Abende wieder, bis hin zum letzten Vers, zum Amen. Meine Mutter geht aus dem Zimmer, schließt die Tür. Ich bleibe allein zurück und bin doch nicht allein.
Die Gewissheit, dass Gott uns hört, finden wir nur im Beten selbst. Eine ganz andere Situation, Jahrzehnte später: Als Pfarrerin stehe ich am Sarg eines jungen Mädchens. Für die Wucht dieses Todes sind meine Worte zu klein und wohl auch mein Glaube. Nichts, was ich hier irgendwie verstehen könnte, ich sehe keinen Trost. "Herr, neige deine Ohren zu mir", bete ich mit der Trauergemeinde, "hilf mir eilends! Sei mir gnädig, denn mir ist angst." Wir bergen uns in diesem Psalm, den Menschen seit Jahrtausenden beten, reihen uns ein mit unserer Fassungslosigkeit. Wort um Wort, Zeile um Zeile. Lange spüre ich nichts, bis sie dann auf einmal da ist, diese leise Ahnung: Da ist jemand. Ich begreife ihn nicht. Aber er ist da bei uns.
Gott hört uns: Ich bin auf einer Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing. Ein kleines Schloss, direkt am Ufer des Starnberger Sees. Es ist früh am Morgen. Das Haus schläft noch. Vorsichtig ziehe ich die Tür hinter mir zu, gehe den kleinen Kiesweg vor zum Wasser. Die Wellen plätschern leise ans Ufer. Keiner da außer mir und dem Entenpaar im Wasser. Ich habe nicht gut geschlafen, so vieles, was mich gerade umtreibt. Die Sonne malt eine glänzende Spur in den See, ihre Strahlen umspielen sanft die Bäume am Ufer, zartes leuchtendes Grün. Eine Schar Vögel fliegt über das Wasser. Wie schön diese Welt ist. Deine Welt, Gott. Ich stelle mich in das Licht deiner Morgensonne. Hier bin ich. Mit meiner Unruhe und meinen Fragen. Mit meiner Dankbarkeit und meiner Sehnsucht. Ich möchte nicht allein sein damit. Ich bete.
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