Zu meinen Adventsritualen gehört es, dass ich am ersten Adventssonntag die Bachkantate "Nun komm, der Heiden Heiland" (BWV 61) höre. Als ich sie in diesem Jahr hörte - in der Aufnahme von Karl Richter - , legte ich mich aufs Bett und legte den Kopfhörer an. Da fielen die Worte der Sopran-Arie in einer bisher noch nie gekannten Zärtlichkeit in mein Herz: "Öffne dich, mein ganzes Herze, Jesus kommt und ziehet ein." Immer wieder sang Edith Mathis mit ihrem hellen Sopran diese Worte. Ich spürte im Hören, wie Jesus selbst einzog in mein Herz.
Ich musste gar nicht glauben, dass wir im Advent das Ankommen Jesu feiern, nicht nur seine Ankunft vor zweitausend Jahren, sondern sein Ankommen hier und jetzt. Im Hören geschah der Glaube, da geschah das Ankommen Jesu im Herzen. Und ich spüre, wie ich durch sein Ankommen auch bei mir selbst ankam. Ich war nicht mehr draußen bei den Gedanken über die Arbeit und über das, was mich nächste Woche erwartet. Ich war ganz im Hören, ganz bei mir. Das Hören brachte mich in Berührung mit meinem Herzen. Und dieses Herz war offen für den Einzug Jesu in dieses Herz. Es wurde warm beim Hören der Musik. In der Musik geschah das, was sie besang.
In der Arie heißt es: "Dass ich seine Wohnung werde. O wie selig werd ich sein!"
Etwas von dieser Seligkeit spürte ich im Hören dieser wunderbaren Melodie. Ich hatte im Hören teil am Glauben eines Johann Sebastian Bach. Ich spürte, dass er diese Arie nicht einfach nur so komponiert hat, sondern dass er in ihr seinen Glauben an das Kommen Jesu in unser Herz ausgedrückt hat. Und ich spürte, dass Edith Mathis diese Worte auch so sang, dass sie aus ihrem Herzen kamen. Ich hatte im Hören teil am Glauben des Komponisten, aber auch am Glauben von Karl Richter, der diese Kantate mit besonderer Inbrunst dirigierte. Und ich hatte teil am Glauben von Edith Mathis.
In mir wurde der Wunsch wach, dass ich im Advent und an Weihnachten auch so vom Kommen Jesu in unser Herz sprechen könnte, dass die Menschen an meinem Glauben teil haben, der verwurzelt ist im Glauben vieler Menschen vor mir.
Pater Anselm Grün (72) aus der Benediktiner-Abtei Münsterschwarzach ist ein weltweit gelesener Bestseller-Autor geistlicher Literatur - zudem gilt der ehemalige Cellerar seiner Abtei als Wirtschaftsexperte.