»Jesus ist eine Provokation« - so empfand es der Politiker Heiner Geißler, der am 12. September 2017 im Alter von 87 Jahren gestorben ist. Geißler hielt die Bergpredigt für einen bedeutenden Text. In einem seiner vermutlich letzten Interviews im Thema-Magazin »Bergpredigt« forderte der Politiker eine Rückbesinnung auf den zentralen Text des Christentums. Geißler war von 1977 bis 1989 Generalsekretär der CDU.

Herr Geißler, Sie nehmen immer wieder auf die Bergpredigt Jesu Bezug. Würde Jesus heute noch genau dasselbe sagen, was er damals gesagt hat? Immerhin wurde er für diese radikale Haltung ans Kreuz geschlagen.

Heiner Geißler: »Ja, das würde er heute natürlich genauso sagen: Er hat es gesagt, und das ist maßgebend. Ob Gott existiert, weiß kein Mensch, an Gott kann man nur glauben. Und es gibt an diesem Glauben auch erhebliche und begründete Zweifel. Aber man kann trotz dieser Zweifel Christ sein. Denn zwei Fakten gibt es. Wir wissen, dass Jesus gelebt hat. Und wir wissen, was er gesagt hat. Das ist das Entscheidende. Leider spielt die Bergpredigt heute im kirchlichen und öffentlichen Leben nur eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Gebot der Gottesliebe.

Doch Gottesliebe ist nicht besser oder wichtiger als das Gebot der Nächstenliebe. Das sagt Jesus ausdrücklich, sie ist gleichwertig zur Gottesliebe. Aber die Gottesliebe hat heute den absoluten Vorrang: Liturgie, Feierlichkeit, Messgewänder, Posaunenblasen von den Türmen unserer Kirchen, die immer leerer werden. Die andere, eigentliche Botschaft der Nächstenliebe, der Bergpredigt, wird abgeschoben in die Caritas und in die Diakonie. Das ist ein ganz schwerer Fehler. In den Ordinarien und Büros der Oberkirchenräte regieren oft Betriebswirte.«
 

Müsste die Bergpredigt heute anders formuliert werden?

Heiner Geißler: »Nein, Jesus spricht die Menschen an, wie sie sind: In ihrer Armut, ihrem Hunger, ihrer Trauer, ihrer Verfolgung – eben im Elend der Welt. Und in Matthäus 25 hat er erklärt, was das heißt: Wer zu mir gehören will, der muss den Hunger bekämpfen, den Menschen Trinkwasser geben, den Obdachlosen eine Wohnung, Flüchtlinge aufnehmen, den frierenden Kleider geben, Kranke pflegen und Gefangene besuchen. Diese Forderungen sind die Konkretion der Nächs¬tenliebe. Moderner geht es nicht. Das ist der Kern der jesuanischen Botschaft. Eine glänzende Botschaft!

Es ist eine schwere Verfehlung der maßgeblichen Theologen und Kirchenführer, dies nicht in der heutigen Welt als die Hoffnung für die Menschen zu präsentieren. Franziskus und Bedford-Strohm allein schaffen es nicht. Das Gedenken an die Reformation darf sich nicht erschöpfen in Reden und Gebeten, Liedern und Musik und in was weiß ich allem. Die Kirchen müssen Widerstand leisten gegen die Mächte dieser Erde. In der Welt des Kapitalismus, der Investmentbanker, einer gigantischen Finanzindustrie mit ihren unchristlichen Leitbildern »Egoismus, Gier, Geld, Geiz, Erfolg, Dividende, Profit, Rang und Titel« ist Jesus eine totale Provokation und die Verkörperung von Menschlichkeit und Barmherzigkeit.«
 

Welche Bedeutung hat die Bergpredigt heute?

Heiner Geißler: »Die Bergpredigt ist auch der Aufruf zu einer neuen, friedlichen und gerechten Weltordnung. Doch das machen die Kirchen nicht. In einer Welt mit einem täglichen Umsatz von zwei Billionen Dollar an den Börsen müsste endlich eine Börsenumsatzsteuer eingeführt werden. Es gibt auf der Erde Geld wie Dreck, es haben nur die falschen Leute.«
 

 

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HEINER GEISSLER in einem seiner letzten Interviews: »Jesus ist eine Provokation« – Was würde Jesus heute tun? Die Bergpredigt Jesu gehört zu den Herzstücken des christlichen Glaubens. Jesu Predigt ist verstörend, erbauend und maßgebend. Mehr denn je hält der Text aus Matthäus 5-7 Leitlinien für die gesamte Gesellschaft vor.

Heiner Geißler: Christlicher Demokrat

Mit Ihren Schriften und Reden provozieren Sie vor allem die Konservativen innerhalb und außerhalb Ihrer Partei. Stimmt also der Spruch: Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche?

Heiner Geißler: »Nein, konservativ war ich nie. Ich bin ein christlicher Demokrat, das ist was anderes.«
 

Was ist ein christlicher Demokrat?

Heiner Geißler: »Ein christlicher Demokrat ist jemand, der seiner Politik das christliche Menschenbild zugrunde legt. Das bedeutet nicht, dass es christliche Politik gibt. Das Evangelium gibt uns keine Gebrauchsanleitung für politisches Handeln, aber das Evangelium gibt uns ein Bild vom Menschen. Und dieses Bild vom Menschen unterscheidet sich ganz wesentlich von den Menschenbildern anderer Religionen und anderer Ideologien. Ein Mensch war nur Mensch für die Marxisten, wenn er zur richtigen Klasse gehörte, für die Nationalsozialisten zur richtigen Rasse.

Bei den Nationalisten muss man zum deutschen Volk gehören. Bei den Fundamentalisten muss man die richtige Religion haben, sonst wird man ausgepeitscht wie in Saudi Arabien oder wie bei uns vor 400 Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Und bei wieder anderen Fundamentalisten darf man nicht das falsche Geschlecht haben, darf man keine Frau sein. Der Mensch wird zum Kostenfaktor degradiert. Er gilt umso mehr, je weniger er kostet. Und er gilt umso weniger, je mehr er kostet. Menschen, die zur falschen Kategorie gehörten, wurden liquidiert, vergast, zu Tode gefoltert, gesteinigt oder verhungerten. Die Antwort auf die Frage nach dem richtigen Menschenbild gibt uns das Evangelium. Und diese Chance dürfen sich die Kirchen nicht aus der Hand nehmen lassen.


Wenn Jesus heute wirklich unter uns Menschen wäre, wo würde er stören?

Heiner Geißler: Sie haben völlig recht; er würde stören. Wahrscheinlich würde er am meisten die Kirchen stören. Dostojewski hat ja diese Geschichte geschildert, wie Jesus in Sevilla Anfang des 17. Jahrhunderts plötzlich auf den Plätzen erscheint und predigt, und der Erzbischof von Sevilla lässt Jesus verhaften. Und dann trifft er ihn im Gefängnis und die erste Frage des Kardinals an Jesus lautet: Warum störst du uns? Wenn Jesus heute da wäre, würde er den Kirchen den Vorwurf machen: Ihr passt euch an. Ihr müsst für meine Botschaft der Liebe und Barmherzigkeit demonstrieren und auf die Straße gehen.«


Die Kirche würde sich an Jesus stören?

Heiner Geißler: »Ja! Er würde ihnen sagen, dass die Bergpredigt eine politische Dimension hat. Die Nächstenliebe ist keine Gefühlsduselei, sondern – das zeigt die Geschichte des Samariters – eine knallharte Pflicht. Wir müssen denen helfen, die in Not sind. Das kann sogar der Feind sein!

 

Die Bergpredigt ist Richtschnur für das politische Handeln

Also ist für Sie die Bergpredigt Richtschnur für politisches Handeln?

Heiner Geißler: Selbstverständlich. Das muss sie sein! Ihr Inhalt ist ja klar. Ich, Sie, wir alle sind die Nächsten für die, die in Not sind. Jesus kannte keine Grenzen, auch keine nationalen Grenzen. Diese Pflicht zu helfen, ist global und kann nur erfüllt werden, wenn die Botschaft befolgt wird: Geht hinaus und verkündet das, was ich euch gesagt habe. Nur so können wir die ungerechte Weltordnung verändern.«

Wann und wo haben Sie sich selbst in Ihrer politischen Karriere an die Worte Jesu gehalten?

Heiner Geißler: »Ich war ja 13 Jahre lang Minister: Sozialminister, Familienminister, Frauenminister, Jugendminister, alles Mögliche. Ich habe meine Entscheidungen immer an der Pflicht orientiert, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Ich hatte diese große Chance, die nicht viele Menschen haben. Ich konnte Gesetze vorschlagen, die den Menschen wirklich geholfen haben: zum Beispiel das Erziehungsgeld, die Anerkennung von Erziehungsjahren, die Sozialstationen, der Kündigungsschutz für Schwangere. Das hat Millionen von Menschen geholfen, ein besseres Leben zu haben.

Das kann nicht jeder, aber jeder kann in seinem Bereich dazu beitragen, dass die Lebensbedingungen der Menschen, für die er Verantwortung hat, sich verbessern: in der Familie, in der Gemeinde und im Unternehmen. Beim Roten Kreuz, bei der Jugendfeuerwehr oder bei Amnesty, Attac, Greenpeace, Caritas oder Diakonie können die Menschen sich einsetzen, damit das Leid auf dieser Erde zurückgedrängt wird.

Solches Engagement ist auch eine Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes auf Erden. Anders als durch eigenes Engagement können wir die Frage nicht beantworten: Warum versteckt sich Gott? Was ist es für ein Gott, der den einen heilt und den anderen nicht; der einen erhört, aber nicht jeden? Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Das muss man so klar sagen. Aber wir können etwas tun, wir können auf Jesus hören und selber einen Beitrag dafür leisten, dass das Elend und das Unglück auf der Welt sich immer weiter verringert. Das ist der Sinn des Lebens. Das können wir als Christen sagen.«
 

Es gibt provokante, auch verletzende Aussagen von Ihnen als Generalsekretär der CDU, die nicht so sehr zu diesen Aussagen passen.

Heiner Geißler: «Was diese Punkte anbelangt, habe ich überhaupt kein Problem mit mir selber. Ich habe eher ein Problem mit mir, dass ich nicht noch stärker auf die Pauke gehauen habe. Auch die Kirchen müssten dies stärker tun. Jesus und Luther zum Beispiel, die haben ja Streit angefangen und Krach gemacht. Im Evangelium hat Jesus auf jeder zweiten Seite sich mit denen angelegt, die an der Macht waren.

Mit den Pharisäern, mit den Sadduzäern, mit den Hohe Priestern. Er stand an der Seite der kleinen Leute, der ausgestoßenen Frauen, der Kranken und der Behinderten. Denen hat er geholfen, und das hat er mit Streit und Kampf bewerkstelligt. Das alles findet heute, vor allem vonseiten der Kirche, nicht statt.»

Vielleicht liegt das an der zu engen Verbindung von Kirche und Politik heutzutage?

Heiner Geißler: »Das glaube ich nicht, so eng ist die Verbindung nicht. Und Angst um ihre Kirchensteuer müssen die Kirchen auch nicht haben. Das ist gesetzlich geregelt. Das eigentliche Problem ist, dass die Kirchen nicht mehr das verkünden, was Jesus gesagt hat.


Wie kam es, dass sich die Kirchen von der Botschaft entfernt haben?

Heiner Geißler: Das ist die Schuld der Theologie. Die Kirchen haben Gottesbilder ermöglicht in ihrer Theologie, die ein Hindernis sind für die Botschaft der Nächstenliebe. Beide Kirchen haben die Botschaft von Jesus spiritualisiert. Es gab nur noch die vertikale Bedeutung, also die Beziehung des Menschen zu Gott. Und die wurde zu Tode theologisiert, übrigens auch bei Luther und vor allem durch Benedikt XVI. Da war nur noch von der Verbindung des Menschen zu Gott die Rede. Aber dass das Evangelium von Jesus und die Bergpredigt eine horizontale Dimension hat, auf die Breite und Vielfalt der Menschen und deren Schicksal zielt, ist fast völlig außer Acht geraten.«


Wie kann eine solche horizontale Dimension denn konkret aussehen?

Heiner Geißler: «Das beste Beispiel ist das, was vor 60 Jahren geschehen ist. Da ist wirklich ein Konzept auf der Basis des christlichen Menschenbildes in der Politik vorgeschlagen und realisiert worden. Die soziale Marktwirtschaft war ein geistiges Bündnis des Ordoliberalismus, der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik. Daraus ist eine Wirtschafts- und Sozialpolitik entstanden, die ein ethisches Fundament hatte, bis auf den heutigen Tag. Und deswegen geht es den Menschen in Deutschland auch besser als in Staaten, in denen es Klassenkampf gibt, oder der ökonomische Egoismus, wie jetzt in den Vereinigten Staaten, zum Kern der Gesellschaft erklärt wird.

Immer wenn der Gedanke der Union vorherrscht, geht es den Menschen besser: der Union zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, der Union zwischen Gesunden und Kranken, in der die Gesunden ihre Beiträge bezahlen, damit die Kranken versorgt werden können. Und der Union zwischen Alten und Jungen und umgekehrt. Dieser christliche Gedanke ist in Deutschland weitgehend realisiert worden; immer noch nicht vollständig, und er wird auch immer wieder angegriffen. Aber es ist diese Idee, die wir auf der ganzen Welt durchsetzen müssen. Und das geht nur mit der Politik. Doch die Politik allein kann das nicht, sie braucht die Unterstützung der geistigen Mächte auf dieser Erde und dazu gehören die beiden christlichen Konfessionen.»


Brauchen wir dazu alle beide? Würde nicht eine reichen?

Heiner Geißler: »Wir brauchen keine organisatorisch einheitliche Kirche. Wir müssen das bedenken, was Johannes XXIII. bei der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils gesagt hat: Wir brauchen im Notwendigen die Einheit, im Zweifel die Freiheit, in allem die Liebe. Und das Notwendige in der Botschaft des Evangeliums ist die Verpflichtung, den Pfusch auf dieser Erde Stück um Stück zu vermindern und die Lebensbedingungen der Menschen, und zwar aller Menschen, zu verbessern. Das erste Gebot für die Kirchen ist: denen zu helfen, die in Not sind. Das zweite notwendige Gebot ist natürlich auch das theologische, dass alle anerkennen, dass durch die Taufe Jesu jeder auch Christ ist.

Benedikt XVI. hat trotz des Zweiten Vatikanischen Konzils das Gegenteil behauptet. Benedikt hat schwerwiegende Fehler gemacht. Denn wenn alle dieselbe Taufe haben und Christen sind, dann müssen sie auch das Abendmahl gemeinsam feiern können. Nächstenliebe und Abendmahl, das ist es, was beide Kirchen zusammen machen müssen und nicht nur jede für sich allein. Viele andere Fragen in der katholischen Kirche, die nach wie vor ungelöst sind, müssen erst noch erarbeitet werden.

Wenn die katholische Kirche die Bergpredigt ernst nähme, wäre es völlig ausgeschlossen, dass in dieser großen Kirche die Frauen nach wie vor diskriminiert werden, indem man ihnen die kirchlichen Ämter vorenthält und sich dafür auch noch auf Gott beruft. Die Theologie der katholischen Kirche den Frauen gegenüber ist Blasphemie, ist eine Gotteslästerung. Es ist eine gotteslästerliche Theologie, wenn sie für ihre Diskriminierung der Frauen Gott in Anspruch nimmt. Das gilt ebenso für das Verbot der Empfängnisverhütung. Die Kirche behauptet einfach, dass das verboten und falsch ist. Das schöpfen die Theologen aber nur aus der eigenen Wertfindung. Wenn sie sich dabei auf Gott berufen, lästern sie ihn.«

Sie argumentieren im Grunde genommen immer wieder wie ein Protestant. Warum sind Sie eigentlich nicht evangelisch?

Heiner Geißler: »Ich bin nicht evangelisch, weil ich katholisch bin. Ich bin katholisch getauft, warum soll ich evangelisch werden? Jeder intelligente Katholik ist in seinem Inneren immer auch ein Protestant. Ich kann ein gut katholischer Christ sein. Aber ich orientiere mich an der Bergpredigt und nicht an der Glaubenskongregation im Vatikan oder an irgendwelchen Synodenbeschlüssen.«