München (epd). Was ist seit der Vorstellung des zweiten Missbrauchsgutachtens für das Erzbistum München und Freising vor gut einem Jahr alles geschehen? Vieles - und noch immer nicht genug, könnte man die Bilanz von Erzbischof Kardinal Reinhard Marx vom Dienstag zusammenfassen. Bei einer Pressekonferenz zogen Marx und weitere leitende Mitarbeitende des Erzbistums in der Katholischen Akademie in München eine erste Bilanz. Das von der Kirche selbst bei der Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) in Auftrag gegebene Gutachten hatte auch den verstorbenen Papst Benedikt XVI. belastet.

Marx bat zu Beginn der Pressekonferenz darum, Hinweise auf mögliche Missbrauchsfälle im Raum der Kirche zu melden: "Wir bitten alle, die von Grenzverletzungen, Missbrauch und sexuellen Übergriffen durch kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen sind, sich bei den externen unabhängigen Ansprechpersonen zu melden." Die Perspektive der Betroffenen sei anfangs vonseiten der Kirche zu wenig berücksichtigt worden. Dies sei das "größte Defizit" gewesen: "Das müssen wir als Kirche, das muss ich als Erzbischof selbstkritisch einräumen." Für das bei den Betroffenen entstandene Leid bat Kardinal Marx daher erneut um Verzeihung.

Generalvikar Christoph Klingan erläuterte die konkreten Schritte, die das Erzbistum seit der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens am 20. Januar vergangenen Jahres unternommen habe. Zentraler Baustein sei dabei die Einrichtung der neuen Stabsstelle "Beratung und Seelsorge für Betroffene von Missbrauch und Gewalt in der Erzdiözese". Diese verstetige seit Sommer 2022 das Angebot der bereits vor der Gutachten-Präsentation vorhandenen Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene und habe deren Angebot "um die Möglichkeit einer niedrigschwelligen seelsorgerlichen Begleitung erweitert", heißt es in einem "Factsheet" des Erzbistums.

Dem Erzbistum zufolge sind nach der Vorstellung des Gutachtens durch die Rechtsanwaltskanzlei WSW bei der Anlauf- und Beratungsstelle 316 Anrufe eingegangen. Es habe sich nicht nur um Missbrauchsbetroffene gehandelt, die Stelle sei zum Beispiel auch für Angehörige ansprechbar. Viele der Anrufe stammten auch aus anderen Bistümern und Erzbistümern, hieß es weiter. Seit Veröffentlichung des Gutachtens seien zudem 57 Meldungen bei der unabhängigen Ansprechperson für die Prüfung von Verdachtsfällen eingegangen - darunter auch etliche Hinweise zu schon bekannten Missbrauchsfällen oder zu nicht sexuellen Grenzverletzungen.

Trotz mehrfacher Nachfragen keine Stellung nehmen wollten Marx, Klingan und auch die Amtschefin des Erzbischöflichen Ordinariats, Stephanie Herrmann, zu einem Verfahren vor dem Landgericht Traunstein. Ein Missbrauchsopfer hatte im Juni 2022 eine Feststellungsklage unter anderem gegen den emeritierten und inzwischen verstorbenen Papst Benedikt XVI., gegen den ehemaligen Münchner Erzbischof Kardinal Friedrich Wetter sowie den Ex-Priester H. eingereicht. Am 28. März soll im Verfahren ein erster mündlicher Verhandlungstermin stattfinden, ob dieser trotz des Todes des Ex-Papstes zu halten ist, ist unklar, sagte eine Gerichtssprecherin am Dienstag.

Laut Recherchen von "Bayerischem Rundfunk" (BR) und "Correctiv" will das ebenfalls beklagte Erzbistum "keinen Verzicht auf die Einrede der Verjährung erklären" heißt es in einem Schreiben der Anwaltskanzlei, die das Erzbistum vertritt, an den Anwalt des Klägers. Generalvikar Klingan betonte auf der Pressekonferenz, es handle sich um ein laufendes Verfahren, weshalb man sich nicht dazu äußern könne. Amtschefin Herrmann betonte, es gebe "keine Klage-Erwiderung", die Frist dafür laufe noch. Marx sagte auf Nachfrage, beim Thema Verjährung müsse man "jeden Einzelfall" betrachten und könne keine generellen Aussagen dazu treffen.

Laut dem vom Erzbistum selbst in Auftrag gegebenen Missbrauchsgutachten gab es in den Jahren 1945 bis 2019 Hinweise auf mindestens 497 Betroffene sexualisierter Gewalt im Bereich des Erzbistums. Die meisten Taten passierten zwischen Anfang der 1960er und Mitte der 1970er-Jahre. Dem verstorbenen Papst Benedikt XVI. warfen die Gutachter vor, als Münchner Erzbischof (1977-1982) in vier Fällen nicht ausreichend gegen Täter vorgegangen zu sein.