München, Murnau (epd). Herzinfarkt ist nicht gleich Herzinfarkt - es kommt darauf an, ob ein Mann oder eine Frau einen erleidet. Die Ärztin Astrid Bühren (Murnau), Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin, forscht seit Jahrzehnten zur geschlechtersensiblen Medizin und kommt zu dem Schluss: "Der Mann ist nicht das Maß aller Dinge." Warum früher vor allem an Männern Medikamente getestet wurden, welche Auswirkungen ein Satz wie "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" haben kann und wie man junge Frauen und Männer am besten vom Rauchen abhält, erzählt Bühren im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: Frau Bühren, Sie sind Expertin für geschlechtersensible Medizin. Kommen die Frauen in der Medizin tatsächlich zu kurz?

Astrid Bühren: Ja, bisher in vielerlei Hinsicht. Je mehr geschlechtersensibel geforscht wird, desto deutlicher wird, dass Frauen und Männer sich unterscheiden, zum Beispiel bei Diagnostik, Therapie, Vorsorge. Ein klassisches Beispiel für die Diagnostik sind die unterschiedlichen Symptome bei Männern und Frauen, wenn sie einen Herzinfarkt erleiden. Die allseits bekannten Symptome sind starke Schmerzen im Brustraum, die zum Beispiel auch in den linken Arm ausstrahlen, ein massives Engegefühl in der Herzgegend, kalter Schweiß und Todesangst. Davon sind aber vor allem Männer betroffen. Bei Frauen können es auch ganz andere, eher unspezifische Symptome sein, wie etwa starke Kurzatmigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Beschwerden im Oberbauch, Druck- oder Engegefühl in der Brust und Müdigkeit. Studien haben ergeben, dass es bei Frauen doppelt so lange dauert wie bei Männern, bis sie mit einem Herzinfarkt in die Klinik kommen.

epd: Warum hat die Forschung denn so lange nicht berücksichtigt, dass Männer und Frauen medizinisch gesehen unterschiedlich sind?

Bühren: Es war einfach kein Thema. Dazu kommt, dass die Medizin jahrhundertelang männlich dominiert war. Das liegt zum einen daran, dass Frauen in Deutschland erst ab Anfang des 20. Jahrhunderts Medizin studieren durften. Und es dauerte lange, bis die ersten Ärztinnen in Führungspositionen gelangten und bestimmen konnten, wie geforscht wird. Speziell die Chirurgie entwickelte sich besonders im Militär während Kriegszeiten und spielte eine wichtige Rolle bei der Versorgung der Soldaten. Und das waren halt nun mal nur Männer. Dass der Fokus über lange Jahre auf dem männlichen Körper lag und der ärztliche Blick männlich dominiert war und oftmals immer noch ist, lässt sich somit auch historisch gut begründen.

epd: Sie sind seit den 1990er-Jahren Expertin für gendersensible Medizin. Wie sind Sie dazu gekommen?

Bühren: Der Deutschen Ärztinnenbund (DÄB) hat 1999 seinen wissenschaftlichen Kongress ausgerichtet zum Thema "Schlagen Frauenherzen anders?". Damit waren wir Pionierinnen in Deutschland. Als DÄB-Präsidentin hat mich das Thema nicht mehr losgelassen. Freunde habe ich mir anfangs damit aber nicht gemacht. Mir wurde hauptsächlich von männlichen Kollegen vorgehalten, dass Frauen statistisch gesehen ohnehin fünf Jahre länger leben und warum man denn vor diesem Hintergrund noch mehr für die Frauen tun solle. Und außerdem würden sie nicht schlechter behandelt. Aber darum geht es ja gar nicht.

epd: Um was dann?

Bühren: Es braucht von Anfang an und in allen Bereichen eine geschlechtsspezifische medizinische Forschung. Männer- und Frauenkörper funktionieren vielfach unterschiedlich, das liegt auch an der unterschiedlichen hormonellen Ausstattung. Es gibt sehr wohl auch Bereiche, wo Männer Nachteile haben. Bis zu ein Prozent aller Fälle von Brustkrebs betreffen Männer. Brustkrebs gilt aber gesellschaftlich und auch medizinisch als typische Frauenkrankheit. Die Behandlung von Brustkrebs ist in Deutschland traditionell in der Frauenheilkunde angesiedelt, obwohl pro Jahr Hunderte Männer neu daran erkranken. Ähnlich sieht es bei Depressionen aus. Die werden bei Frauen laut Studien schneller diagnostiziert.

epd: Was tun?

Bühren: Geschlechterspezifische Unterschiede in allen Bereichen mitdenken. Schon bei Medikamententests im Anfangsstadium zum Beispiel müssen männliche und weibliche Mäuse verwendet werden. Jahrzehntelang wurde nämlich nur an männlichen Mäusen getestet. Die gewonnenen Daten waren also von Anfang an nicht sehr aussagekräftig. Der weibliche Körper unterliegt stärkeren Hormonschwankungen, je nachdem in welcher Zyklus- oder in welcher Lebensphase sich die Frau befindet. Hat sie gerade ihre Periode oder nicht, ist sie vielleicht unerkannt schwanger, ist sie in den Wechseljahren, und und und. All das beeinflusst natürlich Medikamententests, die dadurch aufwändiger und teurer wurden. Daher wurden früher Medikamente vor allem an Männern getestet. Aber auch um das Risiko in einer nicht bekannten Frühschwangerschaft zu vermeiden.

epd: Welche negativen Auswirkungen können denn Medikamente auf Männer und Frauen haben? Sind die Unterschiede da tatsächlich so groß?

Bühren: Bei Kindern wird ein Medikament bekanntlich nach Gewicht dosiert. Bei Erwachsenen hingegen heißt es in der Packungsbeilage standardmäßig "dreimal täglich". Der 90 Kilogramm-Mann erhält die gleiche Dosierung wie die Frau mit 65 Kilogramm - unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Fett- und Wasserverteilung ergeben sich Dosierunterschiede bis zu 40 Prozent!

Nehmen Sie die Digitalis-Medikamente, die noch bis in die 1990er-Jahre gegen Herzschwäche verordnet wurden. Sind sie unterdosiert, haben sie keine Wirkung. Sind sie überdosiert, sind sie Gift für den Körper. Oder das Schlafmittel Zolpidem, das 1992 in den Markt eingeführt wurde: Erst 2013 wurden die Daten geschlechtsdifferent reanalysiert und daraufhin die Dosis für Frauen halbiert. Ich habe in großen Apotheken nachgefragt, aber dies ist oft immer noch nicht bekannt.

epd: Was können Ärztinnen und Ärzte tun, um Männern und Frauen gleichermaßen gerecht zu werden?

Bühren: Sich erst einmal bewusst machen, dass es kein Behandlungsschema F für alle gibt. Das fängt schon bei Gesprächsführung mit den Patienten und Patientinnen an. Alle Menschen haben eine bestimmte Sozialisation durchlaufen und haben bestimmte Rollenbilder verinnerlicht. Viele Männer - Mediziner wie Patienten - sind beispielsweise mit dem Satz groß geworden: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Männer spielen Krankheitssymptome daher vielleicht eher herunter, gehen nicht sofort zum Arzt. Hinweise auf eine Depression wollen sie sich vielleicht weniger eingestehen als Frauen. Das müssen Ärztinnen und Ärzte im Blick haben.

epd: Wie soll das gehen? Das Gesundheitssystem steht unter großem finanziellem Druck. Es wird oft beklagt, dass Ärztinnen und Ärzte zu wenig Zeit für ihre Patienten haben.

Bühren: Zeit ist natürlich ein Faktor. Es kommt aber vor allem auf die richtige Gesprächsführung an - und die erfordert nicht unbedingt mehr Zeit, sondern die richtigen Fragen und Ansagen. Die höchste Wahrscheinlichkeit, dass die richtige Diagnose gestellt wird, hat man übrigens, wenn man die Patienten von ihren Symptomen erzählen lässt und dann gezielt nachfragt. Studien haben ergeben, dass Ärztinnen sich da mehr Zeit nehmen.

Oder wenn es darum geht, junge Leute auf die gesundheitlichen Risiken beim Rauchen hinzuweisen: Rauchen begünstigt frühzeitige Faltenbildung und Erektionsstörungen. Frauen erreichen sie eher mit dem ersten Punkt, während Männern die Faltenbildung wahrscheinlich ziemlich egal sein dürfte, aber der zweite nicht. Es ist entscheidend, was bei den Patienten ankommt, deshalb müssen Ärzte und Ärztinnen sie entsprechend motivieren.

epd: Wäre denn eine geschlechtersensible Medizin unterm Strich teurer oder kostengünstiger?

Bühren. Sie wäre kostengünstiger. Denn wenn gleich zu Beginn die richtige medikamentöse Behandlung für Frauen verordnet wird, kommt es seltener zu Nebenwirkungen und Krankschreibungen. Männer gehen nach wie vor deutlich seltener zu Krebsfrüherkennungsuntersuchungen als Frauen. Hier gilt es, eine größere Sensibilisierung für Männergesundheit und eine männerspezifischere Aufklärung zu entwickeln, die auch das traditionelle Rollenbild des immer starken Mannes berücksichtigt. Damit ließe sich zum Beispiel ein fortgeschrittener Prostatakrebs verhindern.

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