München (epd). Dass Religionen in westlich-demokratischen Staaten immer unwichtiger würden, hat der Philosoph Otfried Höffe in Frage gestellt. "Dem widerspricht die Wirklichkeit", sagte Höffe laut Redemanuskript am Mittwochabend in seinem Festvortrag "Ist Gott demokratisch?" beim Jahresempfang des evangelischen Dekanats München im Alten Rathaus. Ob in Redensarten oder der bildenden Kunst, im Landschaftsbild oder im Sozialwesen: Nach wie vor sei vor allem das Christentum vielfach gegenwärtig. Vom Weihnachtsoratorium beispielsweise ließen sich "Atheisten kaum weniger als Gläubige beeindrucken", sagte der emeritierte Professor. Niemand käme auf die Idee, Kantaten und Requiems aus der Musikliteratur zu streichen.

Als paradox bezeichnete der Leiter der Tübinger Forschungsstelle politische Philosophie die Rolle der Zehn Gebote: "Unsere unstrittig säkularen, gegen die Religionen zumindest fremdelnden Gesellschaften, erkennen ein nicht minder unstrittig religiöses Dokument als (…) Gemeinsamkeit an." Dies sei möglich, weil der Rechtskodex aus Juden- und Christentum der Überlieferung zufolge auf zwei Tafeln notiert gewesen sei. Alle Gebote der zweiten Tafel - vom Respekt gegenüber den Eltern bis zur Warnung vor Habgier - würden dabei nicht religiös, sondern weltlich begründet. Die Verpflichtungen, nicht zu lügen, zu töten oder zu stehlen, "erleichtern unabhängig von jeder Religion ein humanes Zusammenleben", erklärte der Ethikexperte. Drei der Verbote gehörten sogar weltweit zum Kernbestand allen Strafrechts.

Während Religionen vom demokratischen Staat die Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit einforderten, erwarte eine freiheitliche Demokratie von jeder Religionsgemeinschaft ein Minimum von Toleranz sowie Respekt vor Andersdenkenden. Entscheidend sei, dass die Demokratie auf religiöse Ansprüche und dass Religionsgemeinschaften auf alle Arten von weltlicher Herrschaft verzichteten, betonte Höffe, dessen Arbeiten zur angewandten Ethik sowie zu Aristoteles und Kant in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Trotz aller Diskussionen sei das Verhältnis von Demokratie und Religion zwar "störanfällig", befinde sich aber nicht in einem Dilemma, so sein Fazit.

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