Vielleicht kennen Sie das: Die Ernüchterung, wenn dann alles wieder vorbei ist. Die Vorfreude und Anspannung der Adventszeit. Glück, Trubel und Fülle der Weihnachtstage. Die Tage zwischen den Jahren, als ob da einer die Pausentaste gedrückt hat: das Alte ist nicht mehr, das Neue noch nicht. Ein jahresendliches Aufbäumen an Silvester, bis mit den Feuerwerkskörpern am Himmel auch der Zauber dieser besonderen Jahreszeit verglimmt und am Morgen Böllerreste auf den Straßen liegen.
Das war´s dann wieder. Die ersten Christbäume lehnen schon an den Gartenzäunen, bereit, abgeholt zu werden. Mein Blick fällt auf unseren Baum: Er wird auch nicht mehr lange im Wohnzimmer stehen bleiben, ich zupfe ein paar Nadeln aus dem Teppich. Die letzten Plätzchen liegen unbeachtet am Tellerrand, einige Engel auf dem Fensterbrett sind verrutscht, und auf dem Herrnhuter Stern, der seit dem ersten Advent im Fenster leuchtet, liegt feiner Staub.
Der Alltag kehrt zurück – und mit ihm all die nüchternen Wahrheiten, die für eine Weile in den Hintergrund getreten sind.
Aber ganz weg waren sie nie. Eingebrannt ins Gedächtnis: der schockstarre Blick auf die Wahlergebnisse in den USA am frühen Morgen des 6. November. Nie ganz heruntergeschluckt: den Kloß im Hals angesichts der zähen Verhandlungen und der Ergebnisse der Weltklimakonferenz in Baku. Und mit voller Wucht drängen jetzt auch die Bilder aus den Kriegsgebieten dieser Erde wieder nach vorne: die zerstörten Städte und Dörfer in der Ukraine, die Bombardierungen im Nahen Osten, die unzähligen Verletzten und Toten, hier und anderswo. Die Amokfahrt von Magdeburg.
"December never felt so wrong", singen Sara Bareilles und Ingrid Michaelson in ihrem Wintersong, noch nie hat sich der Dezember so falsch angefühlt. Das Lied erzählt von einem Menschen, der fehlt; vielen Menschen fehlt es gerade an Hoffnung. So vieles, was sich falsch anfühlt zur Zeit. Der Sturm wird bald da sein, er zieht vom Meer herüber, heißt es in dem Lied. Was wird auf uns zukommen in den nächsten Wochen und Monaten? Manchmal würde man sich am liebsten die Sofadecke über den Kopf ziehen. Ist die Liebe noch da? Is love alive? Ist sie am Leben, die Liebe?
Gott denkt uns groß
Die Liebe ist da, sie ist am Leben! Auftauchen unter der Sofadecke, heraus aus der Resignation. Ohren auf, damit sie uns erreichen: die Rufe aus der Ferne, die Worte des Propheten, vor über 2500 Jahren gesprochen. Sie tönen bis hin zu uns.
Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn, zu trösten alle Trauernden, zu schaffen den Trauernden zu Zion, dass ihnen Schmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauer, schöne Kleider statt eines betrübten Geistes gegeben werden, dass sie genannt werden "Bäume der Gerechtigkeit", "Pflanzung des Herrn", ihm zum Preise. (Jes 61, 1-3)
Wunderbare Bilder, die da gemalt werden. Ich möchte die Worte anhalten, um sie auszukosten, jedes für sich: Elenden wird Gutes zugesprochen. Zerbrochene Herzen werden verbunden. Trauernde werden getröstet. Duftendes Öl wird auf die Haut gegossen, wir tragen Schmuck statt Asche. Schöne Kleider – wir sind es Gott wert. "Bäume der Gerechtigkeit" sind wir für ihn, seine Pflanzungen, für die er sorgt mit Licht, Wasser, Luft zum Atmen. Er hat die Samen in guten Boden gesetzt, damit sie Wurzeln schlagen können in ihm. Wurzeln, die Bestand haben, die tragen. Gott denkt uns groß.
Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt. Denn gleichwie Gewächs aus der Erde wächst und Same im Garten aufgeht, so lässt Gott der Herr Gerechtigkeit aufgehen und Ruhm vor allen Völkern.[1] (Jes 61,10-11)
Einen Kontrapunkt setzen zur Wirklichkeit
Gott hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen. Die Rede ist im Buch des Propheten Jesaja überliefert. Meine Seele ist fröhlich in meinem Gott: Die Verse erklingen in einer Zeit, in der eher Trübsal als Jubel angesagt ist. Es ist im sechsten Jahrhundert vor Christus. Nach langen Jahren im Exil in Babylon konnten die Israeliten wieder zurückkehren nach Jerusalem. Voller Hoffnung haben sie sich auf den Weg gemacht in ihre alte Heimat. Und dann kommt die Ernüchterung. Stadt und Tempel liegen in Trümmern. Wie sollen sie das je wieder aufbauen! Dazu kommt der Spott anderer über ihren Gott, eigene Zweifel: Er scheint sich nicht allzu sehr um sein Volk zu kümmern! War alles falsch, ist alles falsch, wofür sie gelebt und gelitten haben?
Ich freue mich im Herrn, singt der Prophet. Es wird gut werden, Gott sorgt für Gerechtigkeit, sorgt für uns! Ein Lied, gesungen gegen den Augenschein. Ich kenne das als Stilmittel in Filmen: Die Musik steht im Gegensatz zu dem, was die Bilder mir gerade zeigen. Etwa, wenn zu einer düsteren Szene eine heitere Melodie erklingt. Als Zuschauerin irritiert mich das. Das passt nicht zusammen. Oder habe ich etwas übersehen? Passiert da vielleicht noch etwas, womit ich nicht rechne? Die Musik nimmt der Szene die Eindeutigkeit. Sie setzt einen Kontrapunkt zu dem, was ich sehe. Nicht nur in Filmen, auch in der Bibel geschieht das, immer wieder. Einen Kontrapunkt setzen zur Wirklichkeit, und damit das, was ich sehe, in ein neues Licht tauchen – der Glaube ist ein Meister darin.
Ich habe in der Weihnachtszeit oft an den Anschlag von Magdeburg gedacht: An die Toten, die Verletzten, an den Schmerz der Angehörigen. Wie können wir jetzt Weihnachten feiern, Lieder singen, die von Frieden erzählen und Freude? "Zerrissen, widersprüchlich, kaum auszuhalten – und trotzdem Hoffnung": So hat es der Magdeburger Bischof Gerhard Feige im Gottesdienst an Heilig Abend auf den Punkt gebracht.
Trotzdem Hoffnung: Das ist es, warum wir die Texte, die Lieder des Glaubens, die von Liebe und Rettung erzählen, auch und gerade dann brauchen, wenn das Leben ganz anders aussieht. Sie lassen dem Leid nicht die Deutungshoheit über das Leben. Sie erklingen, damit wir uns nicht lähmen lassen von der Gewalt, unserer Angst davor. Und sie vermögen ganz leise, mitunter fast unhörbar in den Schmerz wieder Hoffnung einsingen: Die Hoffnung, dass ein Morgen kommt, an dem vielleicht weniger Tränen fließen als heute. "Wenn du heute weinst, spricht das nicht gegen das Glück von morgen", sagt der Theologe Fulbert Steffensky. [2]
Das "Tagesgeschäft seiner Menschwerdung"
Ich schaue auf die kleine Holzfigur, den Gottessohn in der Krippe unter unserem Christbaum. Der Herr hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit. Genau diese Worte aus dem Buch Jesaja wird Jesus vorlesen, als er als Erwachsener in der Synagoge in Nazareth auftritt. Die Worte sind für ihn Programm. Dafür ist er auf die Welt gekommen.
Ich nehme das Jesuskind in meine Hand und streiche behutsam mit dem Finger über das glatte Holz. Morgen werde ich die Krippenfigur gemeinsam mit den anderen wieder sorgfältig einpacken, es geht weiter. Das passt auch zu den biblischen Texten, die in diesen Tagen und den kommenden Wochen in den Gottesdiensten zu hören sind: Es geht weiter. Jesus bleibt nicht das Neugeborene, das zarte Kind, er muss aufbrechen, hinaus ins Leben. Um die Welt zu einer anderen zu machen.
Bevor er aufbricht in die Weite, lauscht er als Zwölfjähriger im Tempel den Gelehrten, studiert die heiligen Schriften, seine Wurzeln. Er lässt sich von Johannes taufen, diesem aufrechten, kompromisslosen Mann, und stellt sich damit auf die Seite derer, die Haltung fordern und Umkehr: ein anderes Leben, um Gottes Willen. Und mit den Worten aus dem Buch des Propheten Jesaja, wie er sie in Nazareth vorliest, macht der Gottessohn klar, was die frohe Botschaft ist: Position beziehen für die Unterdrückten. Zerbrochene Herzen heilen. Trösten. Das Leben feiern, trotz allem. Schmuck statt Asche. In das Grau und Schwarz der Welt setzt Jesus seinen Kontrapunkt: Sein Licht, das irritiert, herausfordert und Hoffnung macht zugleich.
Ich lasse meinen Blick durch das geschmückte Wohnzimmer schweifen. Die Sterne am Fenster und die Wachsengel werden bald weichen. Aber das, wofür sie stehen, ist damit nicht vorbei. Ganz im Gegenteil: Jetzt geht es erst richtig los, eine andere Art von "Weihnachtsgeschäft", wie ein Gedicht des Autors und Theologen Thomas Schlager-Weidinger heißt.
wenn hirten
engel und weisen
wieder weg sind
bedürftige
und ausgestoßene
aber immer noch da sind
beginnt erst so richtig
das tagesgeschäft
seiner menschwerdung[3]
Gott geht hin zu den Bedürftigen und Ausgestoßenen, zu denen, die so dringend Trost brauchen und Hoffnung: So sieht es aus, das Tagesgeschäft seiner Menschwerdung. Gut, wenn viele daran mitarbeiten.
Hoffnungsinseln
We shall overcome: Mit diesem Lied singen Menschen seit über einem Jahrhundert an gegen Missstände und für Frieden und Gerechtigkeit. We are not afraid – wir haben keine Angst. Wir gehen Hand in Hand, wir werden in Freiheit leben. Deep in my heart, tief in meinem Herzen glaube ich daran.
Ich weiß nicht, ob er dieses Lied kannte, der russische Kremlgegner Alexej Nawalny, aber er hätte es wohl mitsingen können. Im vergangenen Februar hat die russische Gefängnisverwaltung seinen Tod in der Haft verkündet. Im Herbst ist seine Lebensgeschichte erschienen, darunter auch Aufzeichnungen aus dem Gefängnis. In ihnen wird deutlich: Neben der Liebe zu seiner Frau hat ihn sein Glaube gehalten. Seinen Anhängern hat Nawalny mitgegeben: "Gebt nicht auf. Ich fürchte mich nicht, und Ihr sollt euch auch nicht fürchten." Fürchtet euch nicht: Das rufen die Engel den frierenden Hirten in der Nacht von Bethlehem zu. Das hören die verängstigten Frauen am leeren Grab am Ostermorgen. Fürchtet euch nicht: Es ist einer der Kernsätze der Bibel.
Mit seiner Haltung, mit seinem Glauben an das "Fürchtet euch nicht!" hat Alexej Nawalny andere gestärkt – und andere haben ihn gestärkt. Nawalny erzählt von einem Erlebnis während seines Hungerstreiks. Auf ärztlichen Rat hin zwingt er sich, in Bewegung zu bleiben, macht täglich seine Rundgänge durch den Gefängnisschlafsaal. Den anderen Häftlingen ist es verboten, mit ihm zu sprechen, ein Mann tut es trotzdem: "Nimm das und behalte es", sagt er zu Nawalny und gibt ihm ein kleines Stück laminiertes Papier, eine winzige Ikone ist darauf abgebildet: ein Engel. Nawalny steckt das Papier in seine Brusttasche, geht weiter, allerdings, so schreibt er, tritt er jetzt vielleicht etwas fester auf als zuvor. "Seht ihr, ich bin nicht allein", möchte er den Bewachern entgegenschreien.
In den letzten Sätzen seines Buches heißt es: "Du liegst in deinem Stockbett, schaust auf das Bett über dir und fragst dich, ob du im tiefsten Herzen Christ bist. Es ist nicht entscheidend, ob du glaubst, dass ein paar alte Männer in der Wüste einst achthundert Jahre alt wurden oder dass sich tatsächlich das Rote Meer vor jemandem teilte. Aber bist du ein Anhänger der Religion, dessen Gründer sich für andere opferte und den Preis für ihre Sünden zahlte? Glaubst du ehrlich an die Unsterblichkeit der Seele und das ganze andere coole Zeug? Wenn du aufrichtig mit "Ja" antworten kannst, worüber musst du dir dann noch Sorgen machen? […] Sorgt euch nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Meine Aufgabe ist es, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen und es dem guten alten Jesus und seiner Familie zu überlassen, sich um alles andere zu kümmern. Sie werden mich nicht im Stich lassen und alle Probleme lösen, die mir Kopfschmerzen bereiten. Wie es hier im Gefängnis heißt: Sie werden für mich die Schläge einstecken."[4]
"Bäume der Gerechtigkeit", so heißt es bei Jesaja. Aufrecht. Standhaft. Gottes Pflanzungen: Das sind Menschen, die sich einsetzen für andere, die trösten und ermutigen, gemeinsam die Unbegreiflichkeiten des Lebens aushalten und trotzdem an der Hoffnung festhalten: Diese Welt kann und wird um Gottes Willen eine andere werden.
"Hoffnungsinseln in einem Ozean von Leid" wollen sie sein, sagt der Jerusalemer Benediktinerabt Nikodemus Schnabel. Deshalb will er mit seiner Klostergemeinschaft in Israel bleiben, trotz der Gefahr. Hoffnungsinseln. Ein Begriff, an dem ich hängenbleibe. Weil er das Leid, das Unrecht, das manchmal uferlos scheint, benennt, aber dennoch sagt: Wir können Orte schaffen, die anderen Halt und Zuflucht geben. Orte, an denen etwas aufscheint von dem, was die Bibel mit der guten Botschaft meint.
Hoffnungsinseln. Die vielen Menschen, die in Magdeburg mit Blumen und Kerzen zur Mahnwache gekommen sind und den Opfern und ihren Angehörigen gezeigt haben: Ihr seid nicht allein. Die Spendenaktionen, Sternstundentage und Adventskalender der guten Werke, mit denen Menschen in den vergangenen Wochen anderen, die in Not sind, geholfen haben. Hoffnungsinseln: Die Männer, Frauen und Kinder, die im vergangenen Jahr bei uns auf die Straße gegangen sind, um ein Zeichen zu setzen für Frieden und Demokratie. Inseln der Hoffnung: Sie können ebenso zu solchen Inseln beitragen wie ich. Und das Wenige, was wir tun können, ist viel.
Zeit zum Aufbruch
Ich stehe auf vom Sofa, öffne das Fenster, atme die frische Luft ein. Ich will nicht aus der Übung kommen, dieser Übung, die uns der Glaube geschenkt hat, und bei der jeder Teil seine Zeit und seinen Ort hat, alle Jahre wieder: An den Weihnachtstagen komme ich zur Krippe. Ich knie nieder vor dem Christkind und fühle mich geborgen bei ihm, mit allem, was mein Leben ausmacht. Dann, zu Beginn des neuen Jahres, strecke ich langsam die gebeugten Knie wieder aus, richte mich auf. Ich spüre den Boden unter meinen Füßen und das, was mich trägt. Jetzt ist die Zeit, wieder aufzubrechen und loszugehen. In Gottes Namen.
[1] Bibelübersetzung: Luther 2017.
[2] Fulbert Steffensky, Schutt und Asche. Streifzüge durch Bibel und Gesangbuch, Stuttgart 2023, S. 60.
[3] Thomas Schlager-Weidinger, gestundeter Atem. theopoetische texte zur advents- und weihnachtszeit, Würzburg 2022, 74.
[4] Alexej Nawalny, Patriot, Frankfurt am Main, 2024, S. 539f.
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