Wir sind angekommen!  Nach vier Adventssonntagen, nach Wochen der Vorbereitung. Wir sind angekommen – an einem Zeitpunkt und an einem Ort, wo Zeit und Ort unwichtig werden. Die Kerzen brennen am Weihnachtsbaum. So mancher ist gerade unterwegs zu seinen Lieben. Eine andere spürt die Einsamkeit dieses Abends -heute schmerzt sie noch viel mehr als sonst. Und wieder andere wollen ausgehen, feiern gehen, auf ihre Weise ohne Familie und Traditionen diesen Abend verbringen. Oder ihn hinter sich bringen. Doch alle, verbindet eine Geschichte. Sie hält uns zusammen, sie bringt uns zusammen. Ohne sie gäbe es kein Fest. Und mit dieser Geschichte verschwinden Jahrhunderte, wir überspringen Länder und Grenzen, Raum und Zeit. Die Weihnachtsgeschichte des Evangelisten Lukas:

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, als Quirinius Statthalter in Syrien war.
Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger.
Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.
Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. (Lukasevangelium 2, 1-14)

…wie es nie war und immer sein wird

"Es begab sich aber zu der Zeit." So fängt die Weihnachtsgeschichte an.

Sie erzählt, wie es wahrscheinlich nie war, doch immer sein wird. Sie erzählt, wie es ist, ein Mensch zu sein: geboren werden und ankommen auf dieser Welt. Und sie erzählt am Ende auch von unserer Bestimmung, wozu wir als Menschen berufen sind.

Wer sie wie einen Tatsachenbericht liest, hat verloren. Und doch macht es Lukas, der Künstler dieses Textes, seinen Hörerinnen und Hörern heute nicht einfach. Er streut Fakten in die Geschichte ein, die bei näherem Hinsehen auch wieder keine sind. Quirinius war nicht Statthalter zur Zeit von König Herodes, der im Leben Jesu eine Rolle spielt. Als Heimatstadt Jesu wird Nazareth überliefert. Von einer reichsweiten Steuererhebung unter Augustus weiß kein römischer Geschichtsschreiber zu berichten. Und Steuern wurden dort eingetrieben, wo die Menschen leben, nicht an ihrem Geburtsort. Es begab sich aber zu der Zeit… wer so anfängt, möchte eine andere Geschichte erzählen, als die der Fakten.

Am Anfang steht der Name eines Kaisers und so ist es für jeden Menschen, der geboren wird. Lukas sagt, es ist der Friedenskaiser Augustus, mit dem der Friedensbringer Jesus verbunden ist. Über meinem Lebensanfang als gebürtige Siebenbürgerin steht der Name Nicolae Ceausescu. Er wird für immer mit meiner Biografie verbunden sein. Er hat meine Kindheit und Schulzeit geprägt. Ich musste ihm Loblieder singen, ihn verherrlichen als Führer und erlebte, wie er Angst und Schrecken, Hunger und Kälte verbreitete unter den Menschen. Und das kann jeder Mensch erzählen. Geboren zur Zeit, da der oder die das Land regiert. Keine Nebensache, unter welcher politischen Großwetterlage man geboren wird. Ob man eine Diktatur erlebt, sogar Krieg in seiner Kindheit. Oder im Wohlstand, in eine Demokratie hineingeboren wird, die die eigene Würde schützt. Der Kaiser Augustus ist als Friedenskaiser bekannt und Lukas erwähnt ihn keinesfalls als Negativfigur.

Dann tauchen die Eltern auf, die Teil dieses großen Systems sind. Sie sind zuerst Befehlsempfänger, oder man kann auch positiv formulieren: sie tun etwas fürs Zusammenleben mit anderen. Sie sind Staatsbürger, sie zahlen Steuern, sie sind Teil eines Verwaltungsapparats. Ob der gerecht ist, ob der das Leben dieses Paares unterstützt oder beschwert, erzählt die Geschichte nicht. Sie verliert sich nicht in Details. Aber sie gibt uns bis heute Stichworte zum Verweilen und Sinnieren. Kaiser, Verordnung, Verwaltung, Staat. Wer geboren wird, findet eine Welt vor, die sich diese Ordnung gegeben hat.

Und er findet eine Welt vor, die ihn zum Wanderer macht. Maria und Josef gehen von Nazareth nach Bethlehem. Warum brechen Menschen auf, ein Leben lang? Wer treibt uns, vertreibt uns von einem Land zum anderen, von einem Kontinent zum anderen? Äußere Befehle? Der Fluch tyrannischer Menschen, die einen für deplatziert erklären?  Innere Zwänge?

Die Sehnsucht nach Glück und Leben und Satt werden an Leib und Seele. Dürre, Überschwemmung, Feuer, Kriege. Verwaltungsakte, Gesetze, der Arbeitsplatz. Trennungen. Der Verlust eines lieben Menschen.

Kein Platz in der Herberge. Der Mensch ist ein Gast auf Erden – so sagt es in aller Klarheit und Wehmut ein Psalmbeter. Manchmal muss er sich mit einem Stall begnügen. Oder mit einem anderen Unterschlupf, wenn das Lebenshaus über ihm zusammengebrochen ist: Ein einfacher kleiner Unterschlupf im Mehrbettzimmer mit Fremden Bett an Bett, Wand an Wand. Im Asylbewerberheim, in der Klinik, im Pflegeheim.

Der Mensch ist Gast auf Erden. Und er ist ein Geschöpf voller Furcht. Die einzige seelische Regung, die Lukas in seiner Geschichte für erwähnenswert hält, ist Furcht.

Die Hirten fürchteten sich sehr. Der Mensch kennt die Furcht, sie gehört zu ihm wie essen und schlafen. Kleine und große Ängste, Versagen, Verlieren, die Angst vor dem Anderen, vor Gesichtsverlust und Machtverlust und ja – die Angst vor dem Fremden.

Diese Welt findet das Neugeborene vor. All das zeigt die Geschichte ganz schlicht und unverschnörkelt. All das, was uns auch das Jahr 2018 gezeigt von der Welt, von den Menschen und jedem und jeder auch von sich selbst.

Und doch gibt es in der Weihnachtsgeschichte noch etwas Anderes: etwas, das diese Welt überschreitet, was nicht Welt ist. Einen offenen Himmel, die Klarheit des Göttlichen. Augenblicke, wo sich das Ewige zeigt. Sogar in einem Unterschlupf und einer Futterkrippe. Es gibt das große Band der Liebe und Fürsorge zwischen den Menschen, die zum Kind gehören und es besuchen. Und da sind Engel, die Freude bringen, aus einer anderen Dimension. Freude und Musik.

Jedes Herz soll heute davon bewegt und berührt werden!  Zu Weihnachten gehört Musik wie zu keinem anderen Fest. Und in jedem Land klingt sie anders, die Weihnachtsfreude.

Das beliebteste spanische Weihnachtslied erzählt, wie sie in Bethlehem am Feuer musizieren und auch die Fische im Wasser vor Freude tanzen, und sogar das Wasser fängt an zu lachen!

Lass mich dein Kripplein sein

In den Krippen, die an diesem Abend in den Kirchen und in vielen Wohnzimmern stehen, ist die äußere Hülle der Weihnachtsgeschichte nie zu sehen. Kein Kaiser, kein Verwaltungsbeamter. Weil sie zu den zeitlichen Dingen gehört, die kommen und gehen und die sich auch Gott sei Dank manchmal innerhalb eines Menschenlebens verändern. Machthaber, Königreiche und Diktaturen kommen und gehen. In den Krippen steht die Innenseite der Geschichte. Bethlehem – der Ort, wo Gott zur Welt kommt. Maria und Josef, die Hirten mit ihrer Furcht, die Engel mit himmlischen Klängen. Und das Kind. Ihm neigt sich alles zu. Alles dient dem Kind, am Ende auch der Kaiser. Diese Innenseite ist ortlos und zeitlos. Die Weihnachtslieder und Bräuche dieser Welt holen die Geburt des göttlichen Kindes immer schon ganz unbekümmert in die eigene Lebenswelt. Natürlich lag Bethlehem für mich in meinem Siebenbürgischen Dorf, da wo wir das Krippenspiel spielten und die Geschichte sich ereignete. Bethlehem ist da, wo Menschen leben. Bethlehem - Haus des Brotes - wo sie ihr tägliches Brot für Leib und Seele suchen und hoffentlich auch finden.

Und Bethlehem mit seiner Krippe, mit Engeln und Hirten kann die eigene Seele sein. Dort soll Gott geboren werden. So sagt es auch Paul Gerhard in seinem Weihnachtslied, "Ich steh an deiner Krippen hier":

So lass mich doch dein Kripplein sein, komm komm und lege bei mir ein dich und deine Freuden…

…damit du herausgewickelt werden könntest

Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.

Dieser Satz, den man so leicht überhören kann, die Windeln – so gar nichts gegen den Chor der Engel mit ihrem Gloria, nichts gegen ihr "Fürchtet euch nicht" - für mich ist er zum Zentrum der Geschichte geworden.

Die Windeln sind zunächst das unzweideutige Zeichen, dass das Kind in der Krippe ein Mensch ist. Geboren wie du und ich und gewickelt in Windeln, die es auch benutzt. In vielen Kulturen wie auch bis vor kurzem noch bei uns wird ein Baby noch am ganzen Körper fest eingewickelt.  Es ist geschützt vor Keimen, vor Verletzungen, vor Ungeziefer und dadurch eher überlebensfähig. Und die vielen Lagen Stoff um seinen kleinen Körper sind ein guter Ersatz für die Wärme und den Schutz im Mutterleib.

Bischof Ambrosius von Mailand geht bereits im 4. Jahrhundert noch weiter. Für ihn steckt in den Windeln aus der Weihnachtsgeschichte mehr drin.

"Er wurde eingewickelt in Windeln, damit du herausgewickelt werden könntest aus den Netzen des Todes" – sagt Ambrosius.

Windeln sind Bänder der Liebe, der Fürsorge. Doch sie sind auch dazu da, um einmal abgelegt zu werden. Sie erzählen in der Weihnachtsgeschichte, dass es um einen Ent-wicklungsprozess im Leben geht, der jedem Menschen bevorsteht und den jede und jeder durchlaufen kann. Entbindung, Entwicklung, Selbstwerdung. Entwickelt und verwickelt werden - ein Leben lang. Wie das neugeborene Baby Jesus es im Laufe seines Erwachsen-Werdens selbst durchmacht.

Was lernen wir alles im Laufe des Lebens? Wie weit ist der Weg vom Baby zum Erwachsenen und dann wieder zum Greis? Immer ist da eine Sehnsucht nach dem Neuem, nach Größeren. All das treibt mich an. Und gleichzeitig muss ich etwas hinter mir lassen, mich ablösen und trennen von etwas Vertrautem, das zu eng, zu klein geworden ist.  Wie oft und wie lange ist ein Mensch damit beschäftigt, diese Trennung den Eltern gegenüber zu vollziehen, um das eigene Leben zu führen und nicht das ihre oder von ihnen gewünschte. Ausgewickelt werden, ein Leben lang dauert das. Ausgewickelt aus Bevormundung. Aus einer zu engen Dorfmoral, so würde ich das von mir sagen. Und so habe ich einmal Reinhold Messner es eindrücklich sagen gehört: das größte Geschenk seines Lebens war, das enge Tal in Südtirol hinter sich zu lassen, die Berge dieser Welt zu besteigen, sich zu verneigen vor der Kultur der Bergvölker, die er überall kennen gelernt hat und sich mit allen zu verbinden. Herausgewickelt werden, das heißt ein Mensch werden. Herausgewickelt aus Fundamentalismen, Nationalismen, Egoismen. Wie befreiend! Wie beängstigend zugleich! Und wie dringend notwendig auch in diesem Jahr 2018. Etwas Altes hinter sich lassen, weil es zu eng geworden ist für Geist und Herz. Wem das nicht gelingt, dem werden die Bänder, die ihm Halt geben sollten, zu Netzen des Todes. Er verharrt zu lange im Alten und erstarrt. Manchmal kann das ein ganzes Land oder einen ganzen Kontinent erfassen.

"Er wurde eingewickelt in Windeln, damit du herausgewickelt werden könntest aus den Netzen des Todes".

Wenn ich heute am Heiligen Abend das Kind in der Krippe anschaue, sehe ich eine doppelte Wahrheit:  Alle Menschen sind Kinder Gottes, Inkarnationen Gottes. Und: in jeder, in jedem von uns ist das unendlich große, namenlose EINE eingewickelt. In jedem lebt das göttliche Kind. So lesen Mystikerinnen und Mystiker die Weihnachtsgeschichte. Der eingewickelte Gott, der sich in meinem Leben entfalten möchte, wachsen, groß werden, mich erlösen von allem, was mich hindert, froh und frei und ein Mensch für andere zu sein. Am Ende seiner liebevollen Kindheitsgeschichten schreibt der Evangelist Lukas über Jesus: "Er nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen". Das ist der Sinn, das ist die Bestimmung jedes Menschen: Dass ich zunehme an Weisheit, an Liebe, an Friedfertigkeit.