"Was ist für dich sozial ungerecht?", will meine Patentochter von mir wissen. "Wie kommst du darauf?", frage ich zurück. Am 20. Februar ist der Welttag der sozialen Gerechtigkeit, klärt sie mich auf. Und drei Tage später Bundestagswahl.

Mit ihrer Pfarrerin und ihrer Jugendgruppe will sie eine Veranstaltung mit den Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten für den Bundestag vorbereiten. Die evangelische und die katholische Kirchengemeinde laden zum Gespräch ein. Das Thema: "Gut zusammenleben – Wie geht das?"

"Ich habe mir schon ein paar Gedanken gemacht", sagt sie und liest mir vor, was sie für sozial ungerecht hält: "wenn Menschen nicht von ihrer Arbeit leben können"; "wenn Kinder aus sozial schwachen Schichten weniger Bildungschancen haben"; "wenn Reiche immer reicher und Arme immer ärmer werden"; "wenn Millionen Menschen hungern müssen"; "wenn wir im Blick auf das Weltklima auf Kosten kommender Generationen leben".

Was ist sozial ungerecht?

Die Liste geht endlos weiter. Wir kommen im Gespräch vom sprichwörtlich Hundertsten ins Tausendste. Schließlich landen wir bei ihrem Lieblingssport: Fußball. Sie ist noch immer empört, dass ihr im letzten Spiel vor der Winterpause ein Handelfmeter verwehrt wurde. "Es war genau so wie im Spiel bei der Europameisterschaft, Deutschland gegen Spanien. Alle haben gesehen, dass die Verteidigerin meinen Schuss mit der Hand blockt, nur der Schiedsrichter nicht. Das war ein klarer Elfmeter! Total ungerecht."

Die Frage, was gerecht ist und was nicht, stellt sich immer wieder aufs Neue. Auch mir, wenn ich auf so manche Lebensgeschichten schaue. Ein Ehepaar bleibt mir besonders in Erinnerung. Beide betreiben eine Reinigung. Ihr Markenzeichen ist die besondere Sorgfalt im Umgang mit den Kleidungsstücken. Das erfordert viel Handarbeit. Ich weiß das sehr zu schätzen, denn die Falte bei meinen Anzughosen ist stets exakt, als wären sie neu. Das Paar hat einen Traum, von dem sie immer wieder erzählen: einmal im Leben eine Reise nach Australien und Neuseeland. Leider erfüllt sich der Traum nicht. Eine Woche nach Übergabe des Geschäfts an einen Nachfolger stirbt der Mann an einem Herzinfarkt. Ist das gerecht? Nein!

Das Leben ist nicht fair

Und dann ist da Anna. So heißt der Titel eines Liedes, das Herbert Grönemeyer auf seinem dritten Album "Total Egal" veröffentlicht. "Anna" ist ein Lied über eine eigenwillige, charakterstarke Frau, von der der Sänger sagt: "In Dich könnt ich mich immer aufs Neue verlieben." Die beiden heiraten. Doch 1998 stirbt sie mit 45 Jahren an Brustkrebs. Nur wenige Tage zuvor stirbt sein Bruder. Ist das gerecht? Nein! Nach einer längeren Auszeit kehrt Herbert Grönemeyer wieder auf die Bühne zurück. In dem Lied "Der Weg" verarbeitet er seine Trauer. Mehr als zwanzig Jahre ist das jetzt her. Aber mich berührt es immer wieder, wenn ich es höre:

"Es war ein Stück vom Himmel / Dass es dich gibt", dichtet Herbert Grönemeyer. Und dann wird es ihm förmlich entrissen: "Das Leben ist nicht fair."

Die Frage, ob es fair oder gerecht ist, stellt sich auch im Blick auf noch ganz andere Erfahrungen: Da pflegt jemand einen ungesunden Lebenswandel, raucht viel, trinkt viel – und wird fast einhundert. Ist das gerecht? Nein!

Da ist der wohl reichste Mensch der Welt, der nach noch mehr Macht giert und historische Wahrheiten nach Belieben verbiegt. Und sein Einfluss in den USA und weltweit wächst immer mehr. Ist das gerecht? Nein!

Oder ich denke an die vielen, die während der Diktatur des Nationalsozialismus an der Tötungsmaschinerie in den Konzentrationslagern beteiligt waren, denen aber nie der Prozess gemacht wurde. Nein, das ist nicht gerecht.

Auch das Leben mit Gott ist nicht fair

Ja, das Leben ist oft ungerecht. Das weckt Zweifel und nagt an der Glaubensgewissheit vieler Menschen. Auch an meiner. Die Bibel weicht diesem Thema nicht aus, müht sich um Antworten. Eine lautet so:

15 Beides habe ich beobachtet in meinem Leben, das rasch vorüberzieht: Da ist ein gerechter Mensch. Der kommt ums Leben, obwohl er die Gebote befolgte. Und da ist ein ungerechter Mensch. Der hat ein langes Leben, obwohl er Böses tat. 16 Darum rate ich dir: Sei nicht übertrieben gerecht und bemühe dich nicht, überaus klug zu sein! Warum willst du dich selbst zerstören?
17 Handle aber auch nicht allzu gottlos, und tu nicht so, als wärst du dumm! Warum willst du vor deiner Zeit sterben?
18 Man sagt: "Gut ist es, wenn du das eine anpackst und auch von dem anderen deine Hand nicht lässt." Denn wer Gott ernst nimmt, dem gelingt beides.[1]

Ich bin überrascht. Der Autor dieser Bibelverse teilt meine Beobachtung: Das Leben ist ungerecht! Er redet nichts schön. Zugeschrieben werden diese Worte aus dem Alten Testament dem "Prediger", wie er genannt wird. Er schaut sich alles ganz genau an. Macht den Realitätscheck. Was er erlebt, stellt gängige Erwartungen auf den Kopf und rüttelt auch an den Grundfesten seines Glaubens. Nicht allen, die sich an Gottes Gebote halten, geht es gut. Zugleich stellt er fest: Nicht allen, die lügen, betrügen oder morden geht es schlecht.

Das Leben ist nicht fair. Auch das Leben mit Gott nicht.

Zahlt sich ein moralisches Leben aus?

Das Leben folgt nicht dem Automatismus, dass gute Taten positive Folgen haben und üble Taten bestraft werden. Oft sogar im Gegenteil: Menschen, die sich um ein redliches Leben mühen, haben es besonders schwer und leiden bitter. Und andere, die scheren sich nicht um Gottes Gebote und leben in Saus und Braus und viele Jahre lang. Ein moralisches Leben, so könnte man meinen, zahlt sich also nicht zwingend aus. Kommentiert mit den Worten der Volksweisheit: "Undank ist der Welten Lohn." Oder: "Der Ehrliche ist der Dumme."

Aber was folgt daraus? Welche Schlüsse zieht der Prediger? Er rät: Sei nicht übertrieben gerecht und halte dich nicht für neunmalklug. Das lohnt sich nicht. Sei auch nicht allzu böse und gottlos und bitte nicht über die Maßen töricht. Das könnte genauso schiefgehen.

Maß halten

Weder übergerecht noch allzu gottlos sein – also die Mitte suchen, den Mittelweg gehen, Maß halten. Bereits in der Antike ist die Idee des rechten Maßes von zentraler Bedeutung. Aristoteles, einer der bedeutendsten Universalgelehrten seiner Zeit, widmet sich genau diesem Thema. Er behauptet: In Maß und Mitte liegt die Vernunft. Das klingt doch überzeugend.

Ein gutes Leben führen heißt: Maß und Mitte halten. Extrempositionen vermeiden. Wenn zum Beispiel Verschwendung einerseits und Geiz andererseits die beiden Extreme sind, wäre Großzügigkeit die tugendhafte Mitte. Laut Aristoteles.

Mir gefällt dieser Gedanke. Ihm zu folgen, würde bedeuten, sich der üblichen Logik zu verweigern: Gut – böse, schwarz – weiß, entweder – oder. So betrachtet, haben beide Seiten das rechte Maß verloren.

Polarisierung nimmt zu

Für mich ist dabei klar: Wo sich rechtsradikales, nationalistisches, antidemokratisches, rassistisches und antisemitisches Gedankengut ausbreitet, da kann es kein Maß und keine Mitte geben.

Seit Jahren nimmt in Deutschland die Polarisierung zu. Mir macht das Sorgen, wenn sich eine Position zu einhundert Prozent durchsetzen will. Und nicht einmal bereit ist, auch andere Meinungen gelten zu lassen. Unsere Gesprächskultur hat bislang immer zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beigetragen. Die Erziehung in Kitas und Schulen fördert Kooperation. Zur Verständigung gehört das Bemühen um Konsens und Kompromiss. Für das Gegenprogramm stehen Putin und Trump. Nicht die Stärke des Rechts zählt da, sondern das Recht des Stärkeren.

Konsens und Kompromiss

Ich bevorzuge weiter Konsens und Kompromiss. Nichts könnte den Charakter der Demokratie und das Wesen der Bundesrepublik Deutschland besser beschreiben. Zuhören, verstehen wollen, eine gemeinsame Perspektive entwickeln. Konsens heißt Übereinstimmung – und ein Kompromiss ist das Ergebnis eines Prozesses, der Übereinstimmung erreichen will. Das ist etwas Gutes. Steckt doch dahinter die Überzeugung: Ein Konflikt kann gemeinschaftlich gelöst werden. Es gibt Phasen in der deutschen Geschichte, in denen Konsens und Kompromiss mit allen Mitteln bekämpft wurden: in der Diktatur des Nationalsozialismus und in der DDR. Die Folgen sind bekannt.

Vor diesem Hintergrund ist die Bundesrepublik der erklärte Gegenentwurf. Eine Gesellschaft, in der Meinungsverschiedenheiten und Konflikte zum täglichen Leben gehören. Dieser Gesellschaft ist es bislang immer gelungen, Konflikte politisch auszutragen und sozial verträglich. Ich hoffe inständig, dass uns dies weiterhin gelingt.

Das bedeutet auch: Mehrdeutigkeit zulassen. Es ist nicht immer alles eindeutig. Genau das gehört zum Wesen der Demokratie. Und es ist ihre Stärke. Hier, so scheint es, zerbricht gerade der Konsens.

Unsere Konsensdemokratie schwächelt. Die Unzufriedenheit wächst, gerade am rechten Rand. Aber auch in der Mitte. Menschen verlieren Vertrauen, wenn Politik und Verwaltung Missstände nicht wirksam bekämpfen und beseitigen. Am Ende wird das ganze System in Frage gestellt. Demokratie erhalten wir nur, wenn wir uns gemeinsam um Konsens und Toleranz bemühen, um Maß und Mitte.

Es ist die Stärke der Demokratie, dass sie den Ausgleich zwischen den Extremen sucht. Zum Beispiel beim Thema Migration zwischen völliger Abschottung und schrankenloser Öffnung. Hier ist es notwendig, den Vereinfachern nicht das Wort zu reden, wenn sie behaupten: "Alle wollen zu uns." "Die nehmen uns die Arbeit weg." "Die kriegen alles, wir nichts."

Den Kompromiss wertschätzen

Vor vielen Jahren habe ich in einem Essay gelesen, es seien die Kompromisslosen, die unsere Freiheit bedrohen, nicht die Kompromissbereiten. Die Überschrift hieß: "Lob des Kompromisses"[2]. Ja, ich denke, das stimmt!

Die Kompromissbereiten suchen nach einem Ausgleich, wägen zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten. Und sie berücksichtigen Einsprüche. So gelingt es, Mitte und Maß zu halten. Hier ist Mittelmaß der gute und nicht der faule Kompromiss. Wir sollten das nicht verächtlich machen, sondern wertschätzen. Und alle, die in dieser Weise Verantwortung übernehmen – in der Gemeinde am Ort, in den Landtagen oder im Deutschen Bundestag – unterstützen.

Maß und Mitte finden. Nicht übertrieben gerecht, nicht überaus klug sein. So heißt es im Buch des Predigers in der Bibel. Und: Wer Gott fürchtet, so übersetzt Martin Luther, der zieht die richtigen Konsequenzen. Oder mit den Worten einer modernen Übersetzung: Wer Gott ernst nimmt, dem gelingt es, sich vor den Extremen zu schützen: der meidet das Böse – und übertreibt es auch nicht mit der eigenen Gerechtigkeit.

Gott ernst nehmen – das ist der biblische Kompass für die Suche nach dem Kompromiss, der allen dient. Diese Suche hilft, das dem Menschen Mögliche zu entdecken. Wenn das Leben nicht fair ist, dann muss es darum gehen, die Folgen für den Einzelnen möglichst gering und erträglich zu halten. Sich auf das Machbare und Erreichbare zu konzentrieren, ist für mich immer wieder der Impuls, das Vertrauen nicht zu verlieren: das Vertrauen auf Gott. Dass ich vieles, was geschieht, nicht verstehen kann, dass ich akzeptieren muss, dass die Welt unvollkommen ist. Ich möchte da nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und sagen: Was soll’s?! Ich will … – ja, was denn? 

"Ich möchte ein guter Mensch sein", sagt einer in einem Podiumsgespräch zu seiner Motivation, sich für Geflüchtete zu engagieren. "Ein Gutmensch!", ruft jemand aus dem Publikum. Unruhe kommt auf, denn der Ton signalisiert alles andere als Anerkennung. Vielmehr: "Wie kann man nur!"

Die Welt braucht keinen Zynismus

"Gutmensch" war lange positiv besetzt. Das ist jemand, der an das Gute glaubt, sich auch dafür einsetzt und der die Welt menschlicher machen will. 2015 ist "Gutmensch" zum Unwort des Jahres gewählt worden. Viele, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagierten, wurden plötzlich als "Gutmenschen" beschimpft, meist aus der politisch extrem rechten Ecke heraus. Mich macht das bis heute sprachlos. Wer ein aktives Füreinander als naiv und weltfremd betrachtet, der hat eine ziemlich hartherzige Sicht auf die Welt.

Die Welt braucht keinen Zynismus. Ganz und gar nicht. Ich glaube, wir brauchen Gutmenschen. Die Brücken bauen. Die mit Realitätssinn Lösungen suchen. Und die Widersprüche überwinden. Das ist gerade beim Thema Migration nötig. Deutschland ist doch ein Einwanderungsland und braucht Migration. Wir haben einen Mangel an Arbeitskräften. Um diesen zu beheben, sind jährlich bis zu 400.000 Menschen nötig. Und die werden zum Beispiel in Indien, Mexiko und Kenia händeringend gesucht. Da braucht es konstruktive Lösungen, wie soziale Integration gelingen kann.

Ich lese gerne im Buch des Predigers. Ich mag, wie er sich immer wieder gegen die aufkommende Resignation stemmt und den Blick schärft, dass das Leben kostbar ist. Eines der Kapitel trägt die Überschrift "Alles hat seine Zeit" und ist ein Stück Weltliteratur geworden. Auch für Menschen, die im jüdisch-christlichen Glauben gar nicht verwurzelt sind. Das Kapitel "Alles hat seine Zeit" ordnet das menschliche Leben in seinem ganzen Hin und Her – der Mensch im Wechsel der Zeiten:

Für alles gibt es eine bestimmte Stunde. Und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit: Eine Zeit für die Geburt und eine Zeit für das Sterben. Eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen des Gepflanzten. Eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen. Eine Zeit zum Einreißen und eine Zeit zum Aufbauen. Eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen. Eine Zeit zum Klagen und eine Zeit zum Tanzen. Eine Zeit, Steine wegzuwerfen, und eine Zeit, Steine zu sammeln. Eine Zeit, sich zu umarmen, und eine Zeit, sich zu trennen.

Eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren. Eine Zeit zum Aufheben und eine Zeit zum Wegwerfen. Eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen. Eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden. Eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen. Eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.[3]

Und wie ist das jetzt mit der Gerechtigkeit? Das Leben ist nicht fair. Es hat nur alles seine Zeit?! Und soll man darin Gottes Handeln sehen? Der Prediger gibt keine schlüssige Antwort. Auch eine Art Kompromiss – wenn einfach alles seine Zeit hat. Also: Gott ist unberechenbar, menschliches Handeln Stückwerk und die Welt vergänglich. Da kann man nichts machen. Oder doch?

Der Prediger ist kein Zyniker. Gott sei Dank. Was du ändern kannst, sollst du ändern. Damit es in der Welt ein Stück gerechter zugeht. Ich muss es ja nicht allein tun, sondern am besten zusammen mit anderen. Das Vertrauen in Gott suchen und in andere Glaubensgeschwister. Glaubende sind "Statthalter des Vertrauens", so hat es der Ethik-Professor Trutz Rentdorff einmal formuliert. Statthalter des Vertrauens in eine Zukunft, "auf die wir – obwohl sie im Einzelnen ungewiss ist – im Ganzen doch in der Zuversicht des Glaubens zugehen dürfen"[4].

Im Kern lautet die Frage: Vertraue ich Gott? Bei allem Zweifeln, will ich mir meine Zuversicht nicht nehmen lassen. Ja, ich vertraue. Alles kommt aus Gottes Hand. Ich nehme das Leben als Geschenk – und genieße es. "Von Gott will ich nicht lassen, denn er lässt nicht von mir… Er reicht mir seine Hand". Und die möchte ich festhalten.

 

[1] Prediger 7,15-18 Zit. nach BasisBibel

[2] Kurt Sontheimer, "Lob des Kompromisses, Die Zeit, 31/1997

[3] zit. Nach BasisBibel

[4] Trutz Rendtorff, "Vielspältiges. Protestantische Beiträge zur ethischen Kultur", Stuttgart 1991, S. 263.

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