Bürokratie …
Ich hatte ein Gespräch mit einem Bürokraten – in welcher Einrichtung ist nicht wichtig. "Bürokrat" war weder seine Dienstbezeichnung noch seine Aufgabenbeschreibung. Aber so freundlich er auch war und so gut wir Smalltalk machen konnten: Der Eindruck, den er hinterließ, war "Bürokrat".
Es gab kein Durchkommen mit meinem Anliegen. Ich habe ausgeführt, dass es schon mal Entscheidungen in meinem Sinn gegeben hatte – in ganz ähnlicher Situation! Galt nix. Ich habe geschildert, dass die gleiche Behörde anderswo in meinem Sinn entscheiden würde. Galt nix. Ich konnte noch so gute Argumente vorlegen. Galt alles nix - entscheidend war nur, was die Vorschrift vorschrieb und was der Chef anschaffte. Deprimierend.
Nun schätze ich sogar eine gewisse Vorschriftendichte. In dieser Hinsicht bin ich wohl ziemlich deutsch. Zum Beispiel hat die Hochschulgemeinde, in der ich als Pfarrer arbeite, ein neues Lastenfahrrad. Auf die Ladefläche passen genau zwei genormte EU-Boxen drauf. So was mag ich. Oder wenn ich neu auf einer Arbeitsstelle bin, freu ich mich ein paar Ablaufpläne vorzufinden. Bürokratie kann Sicherheit schaffen.
Aber man kann es wirklich übertreiben.
Anträge zum Beispiel. Eine Bekannte – ich nenn sie mal "Heike"- muss ständig was beantragen. Heike ist Mitte dreißig und ihr Rollstuhl wiegt mehrere Zentner. Zumindest der elektrische Rollstuhl. Für den hat sie sogar einen extra umgebauten Bus hat, um mobil zu sein – fahren muss natürlich jemand anderes. Sie braucht insgesamt viele Hilfsmittel und viele Hilfsmenschen und die gibt es Gott sei Dank auch. Denn Heike lebt seit Jahrzehnten mit einer Erkrankung, bei der die Muskulatur schwindet und die Knochen sich versteifen. Sie hat viele Schmerzen.
Heike ist ein erstaunlicher Mensch. Erstaunlich stark in ihrer Zartheit, ja fast Zerbrechlichkeit. Unheimlich dankbar für das, was sie kann – auch wenn es immer weniger wird. Froh über das Studium, das sie durchgezogen hat, sogar mit Semester im Ausland. Dankbar für Familie und Freunde, die sie unterstützen. Dankbar auch dafür, dass sie in einem bestimmten Rahmen autonom leben kann, z.B. hat sie ein Stück Freiheit durch eine eigene Wohnung.
Gleichzeitig gibt es nichts schönzureden: Sie trägt eine Last die schwerer ist als die von vielen anderen. Der Himmel über ihr fühlt sich manchmal wolkenverhangen an, natürlich! Weil sie spürt, was sie alles nicht tun kann. Ihre Operationen, Medikamente, Behandlungen kann man nicht zählen.
Und dann ist da eben auch noch die Bürokratie. Krankenkassen. Behörden. Formulare. Gutachten. Anträge über Anträge stellen – und am Ende doch selber zahlen.
Weniger Bürokratie, bitte! Nicht nur für die Wirtschaft, sondern in unserem Zusammenleben. Weniger Vorschriften und mehr Großzügigkeit.
… oder Großzügigkeit
Schenke ein. Leg in die Mitte. Sei großzügig. Großzügig, das ist z.B. nach einer Hochwasserkatastrophe "unbürokratische Hilfe". So wie im Frühsommer. Überflutete Keller, weggerissene Mauern, zerstörtes Inventar. Und in den Nachrichten habe ich von einer tollen Unterstützung gehört, bei der hieß es: Du brauchst keinen Beweis, dass du das Geld brauchst. Keine Fotos, keine Gutachten, keine Formulare. Nur die Erklärung: Ich bin davon so und so betroffen. Und das wird geglaubt. Punkt. Wie wunderbar.
Könnte unser Zusammenleben so funktionieren?
Immer wieder wird diskutiert, dass so etwas nicht geht – wir Menschen seien dafür zu schlecht! Das Geld würde dafür nicht langen! Und ungerecht sei es doch auch, am Ende bekomme ICH dann weniger als ich verdient habe und DER DA mehr!
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – ein Ur-Satz aller Bürokratie.
Dabei kostet auch Bürokratie, sie kostet Geld und sie kostet Zeit. Das Leben hat mich gelehrt, dass es manchmal billiger und schneller ist, dass halt jemand etwas zu Unrecht bekommt. Und es hat mich gelehrt: Menschen verändern sich eher, wenn man ihnen vertraut, als wenn man sie kontrolliert.
"Spar deinen Wein nicht auf für morgen …" – der Bibeltext für diesen Sonntag erzählt eine Geschichte ganz in diesem Sinne. Sie beginnt so:
Die Frau und der Bürokrat
Jesus lehrte in einer Synagoge am Sabbat. 11 Und siehe, eine Frau war da, die hatte seit achtzehn Jahren einen Geist, der sie krank machte; und sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten.
Die Synagoge eines namenlosen Dorfes. So ziemlich der ganze Ort ist da – nicht nur wegen Jesus, sondern einfach, weil Sabbat ist, Ruhetag. Es ist Zeit für das Gebet und dafür, aus der Torah zu hören, deswegen sind sie alle da.
Unter den Leuten ist eine Frau, die schon achtzehn Jahre lang krank ist. Ich stelle sie mir nicht als die ungewöhnliche Ausnahme vor. Damals hinterließen sicherlich mehr Krankheiten bleibende Schäden als heute. Fast jeder Unfall sowieso – wenn er nicht zum Tod führte. Da wird so mancher gehumpelt haben, hier ein steifer Arm und dort Narben. Ganz abgesehen von den unsichtbaren Nöten, seelische Last, soziale Anstrengung.
12 Als aber Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit! 13 Und legte die Hände auf sie; und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott.
Jesus ruft sie. Ob ihr das unangenehm ist? Oder Angst macht? Was will er von ihr?
Die Frau bewegt sich nach vorn, vom Rand der Aufmerksamkeit in die Mitte und alle schauen auf sie.
Dann spricht Jesus und er berührt sie. Wie auch immer es geschieht – sie ist geheilt. Sie "richtet sich auf und preist Gott". Ein wunderbarer Satz. Sich aufrichten und Gott preisen. Da bewegt sich was gleich zweifach von unten nach oben: Gelenke, Wirbel, Muskulatur streckt sich. Bindegewebe, Sehnen, Bänder dehnen sich. Alles zieht nach oben, genau das, was unmöglich geworden war, weil alles verspannt, verhärtet war, dabei zu verknöchern.
Und gleichzeitig die zweite Bewegung: Die Seele richtet sich auf. Über die Jahre hatten sich so viele Gefühle grau eingefärbt. Manches war auch da starr geworden. Und jetzt: Ihr Selbst richtet sich auf. Der Blick geht dorthin, wo alle Religionen Gott bildlich beschreiben: Oben. Mit einem Aufatmen und einem Juchzen vielleicht oder einem Seufzen. Lob so tief wie die Seele nur loben kann – vermutlich ohne Worte. Laute, die Gott preisen – die Seele richtet sich auf.
Künstlich und fein bereitet, Gesundheit wiedergeschenkt. So schön.
Aber jetzt betritt ein Bürokrat die Bühne, ein Religionsbürokrat.
14 Da antwortete der Vorsteher der Synagoge, denn er war unwillig, dass Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag.
Wunder nur zu Öffnungszeiten! Bitte kommen Sie morgen wieder, Heilungen nur Montag bis Freitag, bzw. Sonntag bis Freitag in diesem Fall. Grad, dass der Vorsteher Jesus nicht auffordert, die Heilung rückgängig zu machen, diese vorschriftswidrige Wunderbehandlung, weil doch am Sabbat nicht gearbeitet werden darf!
Warum in aller Welt, sagt der Synagogenvorsteher so was? Bestimmt nicht aus bösem Willen! Bürokraten wollen einfach ihre Aufgabe richtig erfüllen, so ist meine Erfahrung. Und immerhin ist unser Bürokrat von Jesus so beeindruckt, dass er ihn nicht selbst angreift. Stattdessen spricht er zu den Leuten – ich deute es mal positiv: Die sollen bitte jetzt nicht alle nach vorne strömen, um sich heilen zu lassen! Die Dinge sollen unter Kontrolle bleiben, das sieht er als seinen Job.
So ein religiöser Kontrollwunsch kann unterschiedlich klingen, z.B. "Es steht doch in der Bibel …" oder "Wir müssen erst im Vatikan fragen …" oder "Im Koran heißt es doch …" oder "Und was sagt der Landeskirchenrat dazu?" In der Sache ist es immer dasselbe. Es ist nicht böse gemeint. Aber das Ergebnis kann das Leben behindern.
Religionsbürokraten gibt es in jeder Religion oder Weltanschauung. Überall gibt es das, diese Gesetzlichkeit – und überall gibt es Menschen, die gelernt haben zu vertrauen und großzügig leben. Manchmal kämpft beides in derselben Person. Ich kenne das bei mir. Unter den Stimmen in meinem Inneren taucht manchmal so ein Kleingeist auf, der alles messen, wiegen und zählen will. Ein enges Stück Seele, das nicht wagt, großzügig zu sein. Das nicht wagt zu vertrauen. Aber Jesus lockt diesen Teil meiner Seele heraus, manchmal mit heftigen Worten:
15 Da antwortete ihm Jesus und sprach: Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? 16 Musste dann nicht diese, die doch eine Tochter Abrahams ist, die der Satan schon achtzehn Jahre gebunden hatte, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden? 17 Und als er das sagte, schämten sich alle, die gegen ihn waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.
Das andere Wunder
Zwei große Gefühle. Freude und Scham.
Freude über das, was Jesus tut und sagt. Freude darüber, wie alltäglich seine Erklärung ist – die Leute im Dorf verstehen ihn sofort. Natürlich werden die Tiere am Sabbat zum Wasser geführt, alles andere wäre unmenschlich, ja: ungöttlich!
Auf der anderen Seite: Scham. Der Bürokrat und alle, die wie er gedacht hatten, sie "schämten sich alle". Ich lese das und hab richtig Respekt vor den Leuten.
Scham ist ein furchtbares Gefühl. Im Bauch zieht sich alles zusammen. Heiß kann es durch die Adern pulsieren. Vor dem inneren Auge tauchen Bilder auf, die hässlich sind. Ich kenne den Reflex zu fliehen, wenn ich mich schäme – früher ist mir oft unkontrolliert ein "Hilfe" aus dem Mund gerutscht.
Scham ist vor allem dann furchtbar, wenn jemand mich beschämt. Wenn jemand mich klein machen will, niederreden oder niederknüppeln. Wir sind ja Scham fast nur noch so gewohnt, dass Leute auftreten und sagen "Sie sollten sich schämen!" Sie, die anderen also, nicht ich, nicht wir, nicht "meine Gruppe". Scham ist zur Waffe geworden, es geht darum, den anderen zu beschämen – und ihm dabei die Würde zu nehmen.
Wahlkampf. Egal, ob in den USA oder hier. Ganz oft geht es weniger darum, zu erklären, was man selbst Positives vorhat. Sondern darum, möglichst viele Fehler des anderen aufzudecken. Persönliche Fehler, logische Fehler, ideologische Verblendung. Es geht darum, die andere Person in eine Ecke zu drängen – so ähnlich wie ganz früher in der Schule, "in die Ecke und schäm dich".
Damit wird aus der Scham ein Kampfmittel.
Dabei könnte Scham ein Gefühl sein, das unser Herz verändert. Scham kann fruchtbar sein. Wenn ich wirklich einsehe und fühle, dass ich Unrecht habe – und wenn ich gleichzeitig erlebe, dass mich jemand dennoch liebevoll, respektvoll ansieht. Mich als einen eine Person ansieht, die Würde hat.
So was knetet unser Herz weich. Wenn wir die Scham spüren – aber gleichzeitig angesehen werden. Angenommen werden. Dann geht es nämlich auch wieder weg, dieses Gefühl. Anders ist es, wo Scham als Kampfmittel benutzt wird. Dann lagert sich die Scham ab, Schicht für Schicht. Und darunter wächst der Wunsch nach Rache.
Wie gut würde es uns als Gesellschaft tun, wenn Scham wieder ihren sinnvollen Platz bekäme. Wenn Scham ein Gefühl mit einem Ziel wäre: Ich sehe etwas ein. Und danach darf ich weitermachen. Nicht "wie bisher" weitermachen, denn es hat sich ja etwas verändert. Aber weiter – ohne Scham.
Ich schau mir noch einmal die biblische Geschichte an. Eines fehlt mir noch beim Nachsinnen über die aufgerichtete Frau, über die Bürokratie, über Jesus und die Leute in der Synagoge.
Die meisten in dieser Synagoge damals waren vermutlich Kleinbauern. Auch die anderen, Handwerker, Tagelöhner, was auch immer, hatten vermutlich ein kostbares, eigenes Tier. Und selbstverständlich versorgen sie das am Sabbat und führen es zum Wasser. Jesus schließt daraus: Natürlich tut Gott dasselbe. Gott bindet los und bringt zum Leben.
"Natürlich", sinniere ich … Ach Jesus – wenn es doch so wäre! So viele warten sehnsüchtig darauf, geheilt zu werden. Es müsste nicht mal wie von Zauberhand sein, nicht wie bei der Frau damals. Es wäre ja schon genug Wunder, wenn ein Mensch sich zur Organspende entschließen würde und eine sehnsüchtig Wartende bekäme eine neue Leber. Es wäre schon so viel Wunder, wenn die Chemotherapie bei einem tapfer Durchhaltenden gut anschlägt! Wenn endlich ein Psychotherapieplatz frei würde für einen Kerl, der seine inneren Konflikte angehen will.
Aber selbst beim Warten auf solche Wunder verstreichen die Tage. Nicht nur ein Sabbat, nicht nur eine Woche oder zehn oder auch achtzehn Jahre wie bei der Frau – und so viele Wunder kommen scheinbar nie. Was ist mit all dem, Jesus?
Du schweigst, oder? Auf gewisse Weise bin ich dir dankbar dafür.
So viele Religionsbürokraten haben nicht geschwiegen, sie haben mir ihre "Antworten" gegeben. Sie drucken sie in kleine Hefte und verteilen sie in der Fußgängerzone, nehmen sie auf Instagram-Reels auf. Verwaltungsvorschriften für die Gotteserkenntnis. Amtsblätter eines Glaubens, in denen Paragraph für Paragraph erklärt wird, warum Gott dieses oder jenes Leid zulässt, dieses oder jenes "Wunder" austeilt.
Ach Jesus. Da sind mir ja ihre Gegner fast lieber: Die Bürokraten des Atheismus. Sie sezieren behördlich alle Argumente an Gott zu glauben. Mit Stempel und dreifachem Durchschlag legen sie dar, warum diese gute, erschaffende, herzenswarme Macht undenkbar sei. Trotzdem sind sie mir lieber als manche Religionsbürokraten, die scheinbar ganz genau wissen, wer Gott ist und was Gott will. Die Bürokraten des Atheismus stellen sich immerhin an die Seite leidender Menschen. Sie lassen nicht zu, dass jemand deren Leid wegerklärt, frömmelnd zudeckt oder mit Wortspielen verschleiert.
Du schweigst, Jesus – aber du stehst im Namen Gottes an der Seite der Leidenden. Du Anti-Bürokrat, du durch und durch Lebensnaher. Wir nennen dich SOHN, Gottes Kind, weil du Gott tiefer vertraut hast als jeder andere. Du malst mir Gott großzügig und vertrauenswürdig vor Augen.
Ich lasse mir dein Bild gerne gefallen. Ich will offen bleiben für Gottes Wunder – wann immer sie des Wegs kommen …
Wunder kennen keine Öffnungszeiten.
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