Anfang. Ende. Ewigkeit.
Als sie alt war, hat meine Großmutter die Zeitung immer "von hinten" gelesen, so haben wir es genannt. Es war nicht der Politikteil oder der Sportteil, den sie zuerst auf dem Küchentisch neben ihrer Tasse Kaffee ausbreitete, nein: Sie vertiefte sich in die Seite mit den Traueranzeigen.
Meine Großmutter hat ihr ganzes Leben in ihrer Geburtsstadt verbracht, sie kannte so viele, über die Generationen hinweg. Und so kannte sie mit den Jahren auch immer mehr von den Namen, die jetzt schwarz umrandet in der Zeitung standen und mit ihnen, wie ihre Lebensgeschichte am Ende war, kondensiert in wenigen Zeilen: Die letzte Wohnadresse war ein Heim. Es gibt Enkel, Urenkel sogar – oder eben nicht. Es wurde gerade noch der 90. Geburtstag gefeiert.
Der Tod kam als Erlösung. Oder unerwartet.
Ich habe in jungen Jahren eher einen Bogen um die Seite mit den schwarzen kleinen Rahmen gemacht. Ich kannte ja damals kaum jemanden, der hier genannt wurde; außerdem war da auch eine gewisse Berührungsangst, was den Tod, was die Trauer betraf. Und wenn ich als Jugendliche samstags auf dem Wochenmarkt mitverkauft habe, habe ich es immer vermieden, den Salat in die Traueranzeigen einzuwickeln, das ging irgendwie nicht für mich.
Der Respekt vor den Traueranzeigen ist geblieben. Die Berührungsangst nicht.
Auch ich sitze mittlerweile oft lange, so wie meine Großmutter damals, vor den Anzeigen, auch dann, wenn ich die Namen nicht kenne. Mich berührt, was ich da lese, was Menschen anderen bedeutet haben: Du warst die Liebe meines Lebens. Ich nehme auf, was Trauernde sich empfehlen im Schmerz – oder der Verstorbene ihnen? Wenn ihr an mich denkt, weint nicht, sondern lächelt und seid dankbar für das, was war.
Oder auch, ganz nüchtern: Stehenbleiben und Umdrehen hilft nicht. Es muss gegangen sein. Ich lese von Hoffnungen auf Trost beim Blick in den Nachthimmel: Dir wird sein, als leuchten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne. Ich lasse mich daran erinnern, was zählt im Leben: Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen.
Und dann gibt es immer wieder Traueranzeigen, die aus dem Rahmen fallen
Durch besondere Formulierungen, durch ihre Gestaltung, durch ein Bild. Da ist die Anzeige mit dem Foto eines alten Mannes: Er liegt da, eine Mundharmonika im Mund, die Augen auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne gerichtet. Sieht er schon etwas von einer anderen Welt? Dann ist da ein großer schwarz gerahmter Kasten, nahezu leer. Nur ein Satz darin: Kim ist tot.
Manchmal verbietet die Wucht, die Unbegreiflichkeit des Todes jeden schönen Vers. In einer anderen Anzeige wird der Tod einer alten Frau überschrieben mit den Worten:
"Jeden von uns hast Du gesehen".
Wie wunderbar muss diese Frau gewesen sein, wie beschenkt diejenigen, die sie kannten, wenn so eine Aussage am Ende steht.
Ich schneide die Anzeige aus und lege sie in meine Sammlung. Ein bisschen komme ich mir vor, wie die Maus Frederick in dem Kinderbuch von Leo Lionni: Frederick sammelt Farben und Worte für den Winter, weil man nicht nur Korn braucht, wenn es kalt ist und karg. Ich sammle Worte über die Endlichkeit, weil ich aus ihnen für mein Leben lerne. Was wohl über meinem Namen einmal stehen wird?
Worte zum Ewigkeitssonntag
Heute, am Totensonntag, am Ewigkeitssonntag, rücken Texte in den Blick, die nicht auf Traueranzeigen stehen, sondern die der Glaube über das Leben und Sterben der Menschen schreibt. Einige Gedanken finden sich wieder auch in Versen und Vorstellungen ohne christlichen Bezug, Weisheiten der Menschheitsgeschichte. Andere biblische Worte gehen und hoffen weit über das hinaus, was allein auf menschlicher Erfahrung beruht.
Über diesem Sonntag steht eine Bitte, ein Gebet: Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Es ist ein Gedanke, der die ganze Bibel durchzieht wie ein roter Faden, der in immer neuen Variationen bespielt wird, stets realistisch, manchmal mahnend, meistens lockend: Lockend, das Leben anzunehmen als ein Geschenk, hier und jetzt.
Sorge nicht um den morgigen Tag! Kaufe die Zeit aus! Denn es gibt sie ja seit Menschengedenken: die Verzweiflung darüber, dass wir die Frist, die uns gegeben wurde, miteinander, füreinander, nicht genutzt haben. Und wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit.
Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.
Diese Worte geben den Grundton für diesen Tag. Sie stammen aus dem 90. Psalm, dem einzigen, der im Buch der Psalmen auf Mose zurückgeführt wird. Mose, dessen Tod sinnbildlich ist für so viele Tode: Jahrzehntelang hat er sich einer Aufgabe verschrieben – dem Auftrag, das Volk Israel aus der Sklaverei zu führen, hin in das gelobte Land.
Und dann, kurz, bevor das Ziel erreicht ist, stirbt er. Nur noch ein Blick aus der Ferne ist ihm auf sein Lebenswerk vergönnt. Wie oft darf ein Mensch nicht mehr ernten, was er gesät hat – er bekommt nicht mehr mit, dass das Sorgenkind doch noch seinen Weg findet, oder dass doch noch Friede wird, wo er nur den Krieg gekannt hat.
Es gibt da diesen Satz, dass das Leben nicht selten einem Hausbau gleicht:
Man feiert noch Richtfest mit, darf dann aber nicht mehr einziehen. Wie bitter. Wie wahr.
Alles ist eitel und ein Haschen nach Wind? Die Bibel ist von unbarmherzigem Realismus, wenn es um Leben und Tod geht. Und zugleich von großer Barmherzigkeit. Lesen Sie Worte des 90. Psalms in einer modernen Übertragung.
Eine sichere Zuflucht bist du,
immer gewesen, von Geschlecht zu Geschlecht.
Die Berge standen noch nicht, die Erde lag noch in Wehen,
es war noch niemand geboren.
Damals schon, Ewigkeit nun,
warst du der Einzige, Wahre,
und so soll es bleiben.
Du lässt das Menschenkind zu Staub vergehen.
Du sagst: Geh du, Kind des Adam.
Tausend Jahre sind in deinen Augen
wie der Tag von gestern, vorbei,
wie eine Sekunde des Wachens.
Du fegst uns weg wie den Traum am Morgen,
wir sind wie das Gras, das morgens blüht,
doch abends ist es verdorrt. […]
Siebzig Jahre währt unser Leben,
wenn wir stark sind achtzig.
Das meiste ist Mühe und Pein,
und plötzlich sind wir dahin.
Ist das Erbarmen, Liebe und Treue?
Gib Antwort, stürmischer Gott.
Ich zähle meine Tage – wie lang noch?
Ich will ein weises, friedvolles Herz. (1)
Wenn alles auf einmal geschieht
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben. Und da wird nicht unterschieden, ob jemand hochbetagt stirbt oder viel zu früh. Jede Lebenszeit ist ein Wimpernschlag vor Gott, oder, wie der 90. Psalm sagt: Tausend Jahre sind vor dir, wie der Tag von gestern, vorbei, wie eine Sekunde des Wachens.
Die Aufteilung eines Lebens in Tage und Jahre spielt keine Rolle bei Gott.
"Gott sieht die Zeit nicht nach der Länge, sondern nach der Quer…Es ist alles auf einmal geschehen."
So hat es Martin Luther einmal gesagt.
Es gab einen Moment, in dem ich eine Ahnung davon bekommen habe, wie das sein könnte: Wenn alles auf einmal geschieht, wenn die Grenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben scheinen. Es war in meinen ersten Jahren als Pfarrerin: Ich feiere mit einem sterbenden alten Mann und seiner Familie Abendmahl.
Abendmahl mit einem Sterbenden
Der Mann weiß, dass ihm nur noch wenige Tage bleiben. Um ihn herum in seinem Wohnzimmer stehen seine Frau, die Söhne mit ihren Frauen, die Enkel. Sie bilden einen Kreis um den Kranken, dessen Lebenskreis sich schließt in diesen Tagen. Und dann, in den fast zwei Jahrtausende alten Worten der Liturgie, im Brotbrechen, in der Stille gehen die Zeiten in eins: Da ist das letzte Festmahl, das der Gottessohn mit seinen Jüngern gefeiert hatte.
Da sind die Abendmahlsfeiern, die der Mann in seiner Dorfkirche miterlebt hatte, als Konfirmand, als junger Familienvater, als Greis. Da ist die Stunde hier und jetzt, ein letztes gemeinsames Beisammensein, das ist uns allen bewusst. Und dann scheint da die Verheißung mit Händen greifbar:
Einst feiern wir das große Abendmahl bei dir. Alles ist da, in diesem Moment. Anfang. Ende. Ewigkeit.
Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Für mich gehört zu dieser Klugheit auch, unser menschliches Maß von Zeit als ein vorläufiges und nicht als das einzig gültige anzusehen. Und immer wieder auch das Spiel mit den Zeiten zu wagen: Was wäre wenn? Wenn ich mich etwa in Gedanken an das Grab eines mir lieben Menschen stelle, der noch lebt. Was wäre ungesagt geblieben, was würde ich bereuen?
Jetzt habe ich noch die Möglichkeit, zu ihm zu gehen, ihm zu danken, noch erklingt es nicht, das dumpfe "zu spät". In eine ähnliche Richtung denkt der Theologe und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer, wenn er sagt:
"Wie viel wäre in der Welt zwischen Menschen anders, wenn sie sich anzuschauen wagten als solche, die es beieinander bedenken, daß eins von dem andern hinweggerissen kann werden […] Worin besteht die Überwindung des Todes? Daß wir unser Leben und die Menschen, die dazugehören, in Augenblicken tiefsten Gesammeltseins so betrachten und bewerten, als hätten wir sie in den Tod hingeben müssen und sie auf Zeit von ihm zurückerhalten." (2)
Im Leben: der Tod. Im Tod: das Leben
Im Leben dem Sterben und dem Tod Raum geben, um klug zu werden vor Gott. Und umgekehrt: Darauf vertrauen, dass im Tod dann auch Leben ist. Ein anderes, neues Leben, das in der Offenbarung des Johannes beschrieben wird mit den Worten:
"Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Alte ist vergangen."
Es übersteigt die Grenzen unserer Vernunft, wie das einmal sein könnte, wo wir einmal sein könnten, wenn wir tot sind. Wir können uns nur annähern in Worten und Bildern. Auch Traueranzeigen sind oft mit solchen Annäherungen überschrieben, und viele von ihnen bergen Gedanken, die mich anrühren und trösten.
"Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe – das einzig Bleibende, der einzige Sinn." Oder es wird die Ewigkeit beschrieben als "ein Licht, in dem unser Sonnenlicht nur der Schatten ist." Eine andere Anzeige sagt nüchtern: Ein ewiges Rätsel ist das Leben, und ein Geheimnis bleibt der Tod. Auch ein guter Weg: Einfach offen lassen, wovon wir nichts wissen können.
Hoffnungsbilder
Ich selbst kann das nicht. Ich brauche die Hoffnungsbilder, die der Glaube malt, und die Worte des Propheten Johannes sind mir da die liebsten. Vielleicht, weil ich mir so gut vorstellen kann, was er beschreibt: dass einer einmal meine Tränen abwischt, so wie es eine Mutter tut bei ihren kleinen Kindern.
Und weil diese Vision des Johannes auch sagt: Es ist nicht egal, wie mein Leben war. Keine meiner Tränen ist egal, kein Schmerz, den ich erlebt habe. Alles wird an diesem Ort mit mir sein – alles, was untrennbar mit meinem Namen verbunden ist. Und der Glaube verheißt: Einmal wird gerichtet, zurechtgerückt, wo ich schuldig geworden bin.
Es wird geheilt, wo ich verletzt wurde. Es wird vollendet, was ich nicht geschafft habe. Einmal stehe ich da, offen, verletzlich, vor liebenden Augen: Hier bin ich. So wie es Huub Oosterhuis in Worte gefasst hat – Worte, die mich immer wieder öffnen und bergen zugleich.
Was ich gewollt hab
was ich getan hab
was mir getan ward
was ich vertan hab
was ungesagt blieb
was unversöhnt blieb
was nicht erkannt ward
was ungenutzt blieb
all dies Beschämende
nimm es von mir
und daß ich dies war
und kein anderer –
dies, dieser Rest vom
Erdenstaub:
das war mein Leben
hier bin ich. (3)
Der Trost der Sterblichen
Wir stehen am Grab meiner Großmutter am Bayreuther Stadtfriedhof, etwas ab vom Weg, in einer kleinen geschützten Nische. Mein Sohn hat schon die Kerze angezündet. Meine Großmutter ist die einzige seiner Urgroßeltern, die er noch erlebt hat, und er war auch noch sehr klein, als sie starb.
Seine Erinnerungen beruhen vor allem auf den Bildern in den Fotoalben und auf den Erzählungen, die oft gerade hier hochkommen, an ihrem Grab, ihren Namen vor Augen.
Mit den Namen derer, die darüber eingraviert sind, verbindet mein Sohn keine eigenen Erlebnisse mehr: Da ist mein Großvater, der über zwei Jahrzehnte vor meiner Großmutter gestorben ist. Da sind die Namen meiner Urgroßeltern, von denen ich selbst nur aus den Erzählungen anderer weiß, etwa, wenn ich dastand als Kind am Grab, so wie mein Sohn jetzt, und meiner Großmutter zugehört habe.
Vorbei an Gräbern
Ich rücke noch rasch die Zweige zurecht. Dann gehen wir wieder. Vorbei an altehrwürdigen Grabanlagen und Grüften aus der Markgrafenzeit, vorbei an den Steinen umstrittener und gefeierter Persönlichkeiten unserer Stadtgeschichte, die hier ebenso liegen wie unbekannte Kriegstote.
Da liegen die begraben, für die große Anzeigen in der Zeitung geschaltet wurden und deren Gräber reich geschmückt sind, und da sind die, zu deren Bestattung keiner kam. Dort hinten drehen sich bunte kleine Windräder vor dem Gedenkstein für die tot geborenen Kinder, und daneben liegen die, die hochbetagt starben, mag sein: lebenssatt.
Und wir gehen vorüber an den Gräbern, sehen die Männer und Frauen, die darauf Kerzen anzünden und die Erde harken, manche ins Gespräch vertieft mit dem Nachbarn. Andere stehen einfach nur da, in Gedanken, ins Gebet versunken.
Ich zähle meine Tage – wie lang noch?
Die Unsicherheit verbindet uns, uns Sterbliche. Von den Toten trennt uns nur eine kleine Frist, und vielleicht trägt auch diese Erkenntnis dazu bei, dass ich auf dem Friedhof, trotz aller Trauer, immer auch eine ganz eigene Art von Trost und Gemeinschaft empfinde: Niemand von uns ist allein. Da sind die, die vor uns waren, und die, die nach uns kommen, und unser Weg führt zum gleichen Ziel.
"Lerne, während du lebst zu sterben und lebe als einer, der allmählich stirbt",
rät uns die Inschrift über einem Portal der Gottesackerkirche noch. Dann verlassen wir den Friedhof, neben mir mein Sohn mit leicht hüpfenden Schritten, seine raue junge Stimme wird jetzt eingeholt von den Straßengeräuschen und der Musik, die aus dem geöffneten Fenster im Haus gegenüber dringt.
Hinter uns liegen die Toten, vor uns liegt das Leben. Und danach, irgendwann einmal? Gut wird es sein, darauf vertraue ich: Einmal wird alles gut sein.
(1) Huub Oosterhuis: Psalmen. Aus dem Niederländischen übersetzt von Annette Rothenberg-Joerges und Hanns Keßler, Verlag Herder 2014, S. 176f.
(2) Albert Schweitzer: Predigten 1898-1948, München 2001, S. 864f.
(3) Huub Oosterhuis: Hör mich, zit. nach: Alex Stock: Andacht. Zur poetischen Theologie von Huub Oosterhuis, St. Ottilien 2011, S. 61.
Die Evangelische Morgenfeier
"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags um 10.05 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."
Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.