"Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir das Ohr" - wie schön! Von Gott aufgeweckt werden, wie von dem liebsten Menschen! Wie von Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. Oder Gott wie der ungeliebte Wecker – eher anstrengend, jeden Tag pünktlich zu früh? wie das Kleinkind – geliebt, aber trotzdem recht bald wach?
Die Originalversion des Liedes "Er weckt mich alle Morgen" vom Wilhelmshavener Vokalensemble hat ein bisschen was von beidem: Wunderschön – und herausfordernd. Dieses Ur-Morgenlied aus dem Buch Jesaja beginnt so:
Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. 5 Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet.
Woke - wach sein
Ich mag aufgeweckte Leute. Pfiffig, ideenreich. Und wach auch in einem anderen Sinn –das englische Wort "woke" kommt ja davon, wach zu sein. "Woke", für manche ist das ein Schimpfwort geworden, für "zu politisch korrekt". Aber ich finde, "woke" beschreibt einen Menschen sehr positiv. Wach. Aufmerksam für das, was geschieht, was es gerade braucht. Vor allem: wach für die Machtlosen, die Überhörten, Un-erhörten. Die ohne laute Stimme.
Wer in dieser Weise wach ist, kann ganz schön Gegenwind bekommen. Solche woken Menschen werden mit Worten niedergemacht. Und manchmal mit Gewalt.
Ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. 6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
Also, ich bin ja eher ein Schisser. Schon in der Grundschule. Ich bin vor denen weggelaufen, die mir Prügel angedroht haben, hab mich nicht mit ihnen gemessen. Gegen Worte kann ich mich wehren – aber Gewalt macht mir Angst.
Sich der Angst stellen
Manche Menschen überwinden solche Angst. Ich finde das beeindruckend. Es gibt Gegenden in Sachsen, da ist es gefährlich gegen rechtsextremes Denken aufzustehen – aber Leute machen es trotzdem. In Belarus, in Hongkong, in der Türkei zur Zeit, in Argentinien. Sie demonstrieren, obwohl Schlagstöcke drohen und digitale Überwachung und noch Schlimmeres.
Genauso beeindrucken mich aber auch Polizistinnen und Polizisten. Es ist doch etwas Besonderes: Beschimpft, bespuckt, angegriffen zu werden und selber nicht auszurasten.
Oder Menschen, die in einem bestimmten Moment ihre Angst besiegen und zum Beispiel Angegriffene verteidigen. Hilfe holen. In der U-Bahn, am Bahnsteig, in der besoffenen Hitzigkeit im Bierzelt.
Hut ab.
Und unsere Geschichte in Deutschland erzählt uns noch andere Beispiele. Fast auf den Tag genau vor 80 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg hingerichtet, weil er der Gewalt der Nazis auf seine Weise entgegengetreten war. "Das ist das Ende. Für mich der Beginn des Lebens." Das sind die letzten Worte, die wir von ihm kennen. Anders und doch ganz ähnlich wie die Worte des aufgeweckten Hörers aus dem Buch Jesaja:
7 Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. 8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 9Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.
Wahrheit und Liebe stärker sind als Lügen und Hass. Von dieser Hoffnung singen die Musikerinnen und Musiker von "The Porter’s Gate". Im Vertrauen darauf, dass Gottes Wille geschieht.
Eselsrückengedanken
Auf den Tod zugehen. Es betrifft uns ja alle – nicht nur diejenigen, die sich der Gewalt entgegenstellen. Auf den Tod zugehen – wie ist das? Welche Gedanken gehen einem durch den Kopf, wie verändern wir uns, wenn wir an unser eigenes Sterben denken, wie stellen wir uns darauf ein?
Mit dem Sonntag heute beginnt die Zeit, in der Christinnen und Christen sich an den Tod von Jesus erinnern. Und an die Schritte, die dorthin geführt haben. Heute: Der Weg nach Jerusalem. Jesus reitet dem Tod entgegen.
Da steht er jetzt also neben einem Esel. Dabei ist Jesus aus Nazareth ein Wanderer! Mit den Füßen auf der Erde kennt er sich aus. Aber hilft nichts. Mit der Rechten rafft er sein Leinengewand vorne zusammen, schiebt es unter den Gürtel. Dann greift er fest in den Schweif des Esels, schiebt ein Bein hoch – ein wenig unbeholfen stelle ich mir das vor. Einer der Schüler gibt dem Rabbi Halt.
Jesus auf dem Esel
Oben auf dem Eselrücken richtet Jesus sich auf. Wendet sich noch einmal um und schaut auf seine Leute. Ehemalige Fischer und Zöllner, Bäuerinnen und Handwerker. Ihre Bündel sind geschultert, startklar – spätestens mit Jesus sind auch sie zu Wanderern geworden. Und es sollte jetzt auch mal losgehen - die Gruppe um den Esel wird langsam zum Verkehrshindernis: Ein Strom von Pilgern schiebt sich um sie herum, immer in Richtung Jerusalem. Wie Wasser, das um eine Insel herumfließt. Ein Fluss aus Kindern und Frauen und Männern, Ziegen, Schafen und Beuteln, ein einziges Mäh-en und Plappern und Rufen.
Im Rhythmus der Hufe beginnt Jesus sich zu bewegen, sein Rücken, seine Schultern, sein Kopf. Leicht nach links und rechts, vorne und hinten, langsam, gleichmäßig. Der Weg fällt leicht ab ins Kidrontal. In der Ferne sehen sie den Tempel, die Stadt außenherum.
Ich stelle mir vor: Der Reiter ist ganz bei sich, blendet aus. Blöken und Kinderrufe nimmt er nicht mehr wahr. Die schaukelnde Bewegung auf dem Esel: fast wie beim Beten der Psalmen.
In seiner Seele steigen Worte auf.
Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. 5Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet.
Das ist der Weg für Jesus gewesen. Mit offenem Ohr hören. Sich immer wieder zurückziehen und Gottes Stimme ahnen. Auf Gott hören, so wie seine Schüler auf ihn hören. Aufmerksam. Mit Vertrauen. "Vater", so hat Jesus ihn irgendwann begonnen zu nennen.
Und er hat Worte gesucht für die Müden. So viel Müdigkeit um ihn herum! Müde vom Warten auf gutes Wetter für Saat oder Ernte. Müde von der Sorge, ob genügend Fische in die Netze gehen. Müde von den ewigen Römern und ihren Speeren und Spielchen. Müde von der Last von Krankheit und Ungewissheit. Von den Abgaben. Vom Streit unter den Religiösen. Müde von der Furcht vor Gott, manche.
Ein gutes Wort zur rechten Zeit hat er gesucht. So, dass jeder versteht. Frauen und Männer – und dass Kinder ihn verstehen ohne Worte.
Das war der Weg bisher, die Etappe, die jetzt endet. Mit jedem Eselschritt entfernt er sich mehr von dieser Etappe – vorbei.
Der Esel geht langsamer, stockt, bleibt stehen. Und den Eselsreiter reißt es aus seinen Gedanken. Auch die Jüngerinnen und Jünger haben angehalten. Was ist passiert?
Der Pilgerstrom vor ihnen hat sich zu einem Spalier geöffnet. Rechts und links drängen sie sich an den Seiten des Wegs. Immer mehr bleiben stehen. Mütter gehen in die Hocke im Schatten der Palmen. Sie sprechen mit ihren Kindern und deuten dabei auf Jesus.
Palmsonntag
Der Esel setzt sich wieder in Bewegung – während sich eine Art Festtagsstimmung ausbreitet. Immer mehr, wie Wellen, die sich aufschaukeln. Staubige Hände winken, beginnen zu klatschen. "Hosianna" ruft einer – und andere antworten "Hosianna!" Einer klettert übermütig auf die Schultern seines Vordermanns. Und ein Stück weiter schneidet einer Zweige von den Palmen, reicht sie den Leuten– sie schwenken sie hin und her.
Mit einem Mal hören die Hufe des Esels auf zu klappern. Ein Teppich aus Kleidern dämpft die Schritte. Pilger haben die dreckige Straße mit ihren Mänteln abgedeckt. Ein Meer aus Palmzweigen wogt jetzt über den Köpfen.
Der Blick des Eselreiters kehrt sich nach innen. Was er vor Augen sieht, verwandelt sich in andere Bilder - schwingende Palmzweige werden auf einmal zu peitschenden Ruten. Der Teppich aus Kleidern verschwimmt - im Staub sieht er nur seine eigenen Kleider liegen.
Ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. 6Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
Ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.
Wieder stockt der Esel – er scheut vor dem Schatten des Stadttors. Und Jesus taucht wieder auf aus seinen Gedanken. Jetzt sind sie also da. Noch einmal wendet er sich um. Hinter ihm werden die Kleider wieder eingesammelt und der Staub ausgeschüttelt. Der Pilgerstrom setzt sich wieder in Bewegung. Ein versprengtes "Hosianna!". Dann klopft er dem Tier auf den Hals – und reitet durch das Tor, hinein in die Stadt.
Auf den Tod zugehen
"Jesus nachfolgen". Klingt bisschen altertümlich. Aber ich mag diese Beschreibung was Christsein ist. Nach-folgen. Hinterhergehen und es so machen wie Jesus.
Diese Woche erzählen wir uns in der Kirche Geschichten von Jesus, wo das Hinterhergehen viel Mut braucht – und vielleicht wird so eine Zeit wieder kommen.
Es kann schon sein, dass es eines Tages Heldenhaftes von uns als Christinnen und Christen brauchen wird. Dass auch wir in unserem Land eines Tages überlegen müssen, wie wir gegen ein autoritäres System auftreten. Sowohl wie wir "mit den Müden zur rechten Zeit reden". Und wie wir dann "das Angesicht hart machen wie einen Kieselstein" gegenüber Mächtigen, die uns zum Schweigen bringen wollen.
Es könnte so kommen, dass unsere friedliche EU eines Tages angegriffen wird. Vielleicht werden meine Kinder keine Wahl haben, ob sie der Gewalt entgegentreten. Vielleicht können sie einmal nur entscheiden, wie sie es tun. Ob sie versuchen wollen Menschen zu verteidigen oder ob sie selbst auf Gewalt verzichten wollen.
Das ist die eine Seite. Die andere ist: Je älter ich werde, umso weniger heldenhaft male ich mir "Jesus nachfolgen" insgesamt aus. Jesus hinterhergehen, das muss doch etwas mit meinem Alltag zu tun haben.
Ich suche danach, wo Alltägliches etwas zum Klingen bringt, tief in mir. Ich will hinhören auf diesen Klang, offene Ohren dafür haben, woke, wach dafür sein.
Heute, am Palmsonntag denke ich mir: Wir gehen alle auf den Tod zu. Wie Jesus. Seine Weise, auf den Tod zuzugehen, hat mit akzeptieren zu tun. "Ja" dazu zu sagen. Loszulassen.
Fünf "Phasen" des Sterbens
Vergangenes Jahr ist mein Vater gestorben. Vor drei Jahren meine Schwiegermutter. Der Tod ist mir in besonderer Weise nahe gekommen. Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross hat vor vielen Jahrzehnten über die fünf "Phasen" des Sterbens geschrieben. Phasen, wie wir zu einem "Ja" zum Sterben kommen. Sie beschreibt: Leugnen. Ärger. Feilschen. Depression. Akzeptanz.
Bei manchen steht der Tod auf einmal vor der Haustür - wie aus dem Nichts. Ein Unfall und keiner weiß, ob es wieder wird. Eine Diagnose, die Angst einjagt. Oder ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall.
"Warum ich?! Warum jetzt?!" Darüber zornig sein leuchtet mir ein.
Auch, wenn man es macht wie ein Kind: Ich halte mir die Augen zu –dann kannst du mich nicht sehen!
Manche fangen an zu verhandeln: Noch eine vage Therapie und noch eine und vielleicht ein Versprechen an Gott, wenn ich das hier überlebe, dann…. oder Versprechen an Menschen, wenn nur der Tod wieder von der Bildfläche verschwindet!
Und dass man traurig, niedergeschlagen, hoffnungslos wird – auch das leuchtet mir so ein.
Ich stell mir das vor, wie all das durch einen durchwandert, bevor man sagt: Ja, ich sterbe - und loslässt.
Es ist inzwischen umstritten, oder Frau Kübler-Ross vollständig recht hat. Ob das wirklich Phasen sind, ob es immer dieselbe Reihenfolge ist. Auch die Methodik, mit der Kübler-Ross gearbeitet hat, wird kritisch gesehen.
Die wissenschaftliche Diskussion müssen andere führen. Aber mir leuchtet es ein, dass wir alle bei der Begegnung mit dem Tod irgendwann wütend werden, verhandeln, niedergeschlagen sind … und wenn es gut geht: "Ja" dazu sagen.
Oft taucht der Tod in unserem Leben anonym auf. Nicht als Lebensbedrohung. Er zeigt nicht gleich sein Gesicht, verschweigt seinen Namen. Er schleicht sich ins Leben ein – vielleicht als Sinn- und Arbeitskrise. Als Fragen wie "Das soll alles sein?" "Muss ich jetzt mit diesen Entscheidungen leben?" Als Gedanke wie "Ich bin austauschbar …".
Er schleicht sich ein am Übergang von Lebensphasen. Vom Arbeiten zum Nicht-mehr-arbeiten. Vom Leistungsträger in der ersten Mannschaft zu den "Altherren". Am dreißigsten, achtzigsten, fünfundsechzigsten Geburtstag
Der Tod kommt quasi als Gast vorbei, ohne dass wir ihn erkennen. Aber er lässt seine Visitenkarte da. Auf der Karte steht immer dasselbe: "Du vergehst." Wir können diese Visitenkarte wegwerfen – und vielleicht machen wir das beim ersten Mal. Aber irgendwann heben wir eine dieser Visitenkarten auf. Hängen sie bildlich gesprochen an den Kühlschrank oder an die Pinnwand über dem Schreibtisch. - Leugnen sie nicht und lernen mit ihr zu leben. Der Blick auf sie wird uns manchmal melancholisch stimmen – aber der Inhaber der Karte wird wohl noch ein wenig brauchen mit seinem endgültigen Besuch. Trotzdem: Ein bisschen haben wir uns schon darauf eingestellt.
In den Tagen nach der Beerdigung meines Vaters, habe ich ein Lied immer wieder gehört. Ein Abschiedslied. Ein Lied von einem alten Mann, der über das Meer fährt. Ein Lied davon, bereit fürs Sterben zu werden.
Ich mag lernen auf den Tod zuzugehen. Nicht heldenhaft – so wird’s nicht sein. Lieber ehrlich, nüchtern… Verändert, auch durch den Klang in der Tiefe. Ungefähr, wie ich das im vergangenen Jahr erlebt habe.
Mein Papa wird von der Klinik in die Palliativstation hinübergeschoben. Nach Hoffnungswochen. Wochen, in denen wir manchmal gehofft haben, dass es besser werden wird und manchmal gehofft haben, dass es zu Ende gehen darf.
Ein großer, breitschultriger Mann. Ein Fels in der Brandung für viele. Jetzt schmal und eingefallen. Kaum wiederzuerkennen. Und doch auf eine wichtige Weise erkennbarer als je zuvor. Er versteckt glückliche Tränen nicht, als er hört, wie wichtig er Menschen ist. Er kann uralten Schmerz aussprechen und uralte Ideale, die sein Leben geprägt– aber ihn auch belastet haben. Er ist so dankbar – über dieses Zimmer in der Palliativstation, das nicht in jeder Ecke wie ein Krankenhaus wirkt. Helles Holz, eine kleine Terrasse, gedimmtes Licht. "Darf ich hier bleiben?" fragt er wie ein Kind. "Darf ich hier bleiben?"
Er, der so darauf geachtet hat, dass genügend Geld da, weil die Eltern sich darüber immer gestritten haben -und es war gefühlt immer zu wenig…– er sagt: "Ich bin so reich". Und er meint nicht das Geld. Er meint die Menschen. Uns.
Und so singen wir ihn in diesen Tagen nach und nach hinaus – und hinüber. Hinter die Sonne, hinters Meer, nach Hause.
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