Affirmationen und Manifestieren erleben derzeit auf TikTok einen enormen Boom. Im Zentrum steht das sogenannte "Law of Attraction" (Gesetz der Anziehung) – die Vorstellung, dass unsere Gedanken und Gefühle direkt unsere Lebensbedingungen beeinflussen können. Das Prinzip lautet: Positive Gedanken ziehen positive Ereignisse an, negative Gedanken negative. Durch Visualisierung und gezieltes "Manifestieren" sollen sich Liebe, Erfolg oder Wohlstand quasi automatisch einstellen.
Doch funktioniert das wirklich? Und was bedeutet diese Weltanschauung für den christlichen Glauben?
Manifestieren auf TikTok: Hoffnung, Hype oder Heilung?
Hashtags wie #manifestation, #lawofattraction oder #affirmations verzeichnen Millionen von Aufrufen und gehören zu den meistdiskutierten spirituellen Themen auf TikTok. Für viele Nutzer:innen ist Manifestieren längst mehr als ein viraler Trend – es ist zu einem festen Lifestyle geworden. Die Generation Z hat das Manifestieren als Lebensphilosophie nach dem simplen Prinzip "Think it, get it" übernommen.
Die Grundidee ist verlockend einfach: Wer positiv denkt und fühlt, sich Liebe, Erfolg oder Reichtum visualisiert und täglich Affirmationen spricht, wird genau dies in sein Leben ziehen. Vision-Boards werden erstellt, Journaling-Routinen gepflegt und persönliche Mantras rezitiert, um die eigene Realität aktiv zu gestalten. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Spiritualität, Selfcare und Achtsamkeit.
Die Community wächst stetig – insbesondere durch junge Menschen, die sich in einer komplexen und oft unübersichtlichen Welt nach Kontrolle, Sicherheit und Sinn sehnen. Viele von ihnen wachsen ohne kirchliche Bezüge auf, da bereits ihre Eltern mehrheitlich keiner Kirche mehr angehören oder höchstens zu großen Feiertagen den Gottesdienst besuchen. Das Manifestieren bietet jungen Menschen daher nicht nur ein Gefühl der Selbstermächtigung, sondern auch eine Form der mentalen Selbstfürsorge – ganz ohne institutionelle Bindungen.
Manifestieren im Spannungsfeld des Glaubens
Erkennbar ist eine spirituelle Suche nach Sinn, Erfüllung und Orientierung – im Grunde nach Transzendenz. Gleichzeitig verlagert sich diese Suche aber auf das eigene Ich: Ich kann, aber ich muss auch selbst für diese Sehnsucht Antworten liefern. Das suggeriert absolute menschliche Kontrolle über das Leben.
Der christliche Glaube hingegen lebt aus dem Vertrauen auf die Gnade, die Liebe und Fürsorge Gottes. Der Mensch ist ein Beziehungswesen und in diesem Sinne abhängig – angewiesen auf eine Kraft, die es gut mit uns meint und über uns hinausgeht, uns aber dennoch zu uns selbst zurückführt.
Hier zeigt sich ein fundamentaler Unterschied: Das Manifestieren macht das Ich zur letzten Instanz und suggeriert Selbsterlösung durch positive Gedanken. Der christliche Glaube dagegen versteht den Menschen als auf Gott angewiesenes Wesen, das seine wahre Bestimmung in der Beziehung zu seinem Schöpfer findet.
Diese Spannung zwischen Selbstermächtigung und Gottvertrauen berührt eine der zentralen Fragen menschlicher Existenz: Sind wir Herr oder Frau unseres Schicksals oder dankbare Empfänger:innen göttlicher Gnade?
Kritisch wird es vor allem dort, wo negative Gedanken als Grund für schlimme, leidvolle Erlebnisse und Erfahrungen gemacht werden – sowohl im persönlichen Bereich als auch im großen Weltzusammenhang. Hier zeigt sich die Herausforderung des Glaubens, die in der Theodizeefrage virulent wird: Wie kann Gott all das Leid nur zulassen – Hunger, Kriege und Tod?
Das Law of Attraction führt zu einer problematischen Umkehrung der Theodizeefrage: Statt zu fragen "Warum lässt Gott Leid zu?", lautet die implizite Antwort "Du hast es selbst verursacht durch deine negativen Gedanken." Diese Logik macht Opfer zu Tätern und führt zu einer fast schon zynischen Rechtfertigung von Ungerechtigkeit.
Der christliche Glaube hingegen nimmt die Realität des Leides ernst, ohne es zu verharmlosen oder den Betroffenen anzulasten. Die Theodizeefrage bleibt eine Frage, aber sie wird nicht durch Täter-Opfer-Umkehr "gelöst", sondern durch die Verheißung, dass Gott selbst im Leiden bei uns ist.
Selbstbestimmung oder Gnade: Zwei Weltanschauungen
Manifestieren und christliches Gottvertrauen mögen ähnliche menschliche Sehnsüchte ansprechen, legen aber zwei grundsätzlich gegensätzliche Weltanschauungen offen: Die eine macht den Menschen quasi zu Gott seiner eigenen Realität, die andere versteht den Menschen als angewiesen auf die Gnade und Liebe Gottes, dem Schöpfer seines Lebens.
Diese Freiheit unterscheidet sich fundamental: Während das Manifestieren Freiheit als totale Selbstbestimmung versteht und damit den Menschen unter den Druck setzt, permanent erfolgreich sein zu müssen, gründet christliche Freiheit in der Erfahrung unbedingter Annahme. Erst wer sich nicht mehr selbst rechtfertigen muss, ist frei für echte Begegnung – mit sich selbst, anderen und der Welt.
Theologische Einordnung: Eva-Katharina Kingreen