Urlaub im Süden Irlands. Kleine Stadt am Meer. Nach einem Bummel durch die Stadt suchen wir ein Café oder kleines Bistro. Wir finden nicht wirklich das passende. Zuletzt stehen wir vor einer kleinen Kirche, rote Ziegelsteinfassade, die neugotischen Fenster weiß umrahmt. Ein Schild an der Straße preist Snacks und Tee an. Etwas verwundert betreten wir den sakralen Raum. Eine Espressomaschine zischt, Löffel klirren an Tassenrändern und gemurmelte Gespräche füllen den Raum. Überall – auch oben auf der Empore, stehen Tische und Stühle. Die Wände aus unverputzem schwarzen Stein kontrastieren wunderbar mit den bunten Glasfenstern, Kronleuchter hängen unter der gewölbten Decke. Der Holzboden und ein mahagonifarbener Tresen verströmen gediegene Gemütlichkeit.
Wir sind hin und hergerissen: Ist das jetzt schön? Irgend etwas in mir sträubt sich. Ein anderer Teil ist angenehm berührt. Die Irritation aber dominiert bei Weitem.
Eine Kirche für kommerzielle Zwecke
Das ist einige Jahre her. Ich bin zum ersten Mal in einer Kirche gewesen, die für kommerzielle Zwecke umgewidmet wurde. Kirchen als Ausstellungsräume kannte ich schon, aber so was?
Auch bei uns in Deutschland fragen sich immer mehr Gemeinden, was sie mit Kirchengebäuden anfangen sollen, die nicht mehr zur Gemeindegröße passen.
Die Mehrheit der Menschen gehört keiner Kirche mehr an. Was soll aus den Kirchen werden, die keiner mehr braucht? Wie soll Kirche sein in dieser neuen Situation? Manche sehen die Schwäche der Kirchen mit Freude: Wer braucht denn schon Religion? Wer braucht Kirche denn noch?
Als Mensch, der sein ganzes Leben lang eng mit der Kirche verbunden ist, schmerzt mich die Entwicklung und ich möchte die Kirche verteidigen: "Sie ist doch wichtig!"
Aber wofür eigentlich?
Kirchen betreiben Kindergärten, Schulen, Altenheime und andere soziale Einrichtungen. Soll der Staat all das übernehmen? Das würde finanziell vielleicht gar nicht so einen Riesenunterschied machen, der Staat zahlt eh schon reichlich dazu.
Manche sagen: In kirchlichen Einrichtungen finanziert der Staat nur, dass Menschen weiter missioniert und beeinflusst werden. Man sollte den Kirchen diese Räume wegnehmen. Die Kirchen sehen das naturgemäß anders:
In christlichen Kindergärten sollen die Kinder ganz direkt erleben, was Nächstenliebe ist, so die Idee. Schülerinnen und Schüler an kirchlichen Schulen lernen neben dem normalen Schulstoff auch Mitgefühl, Barmherzigkeit, christliche Werte. Sogar nicht religiöse Eltern schicken ihre Kinder deswegen gerne in kirchliche Einrichtungen.
Zum christichen Menschenbild gehört auch die Mündigkeit, die Fähigkeit, sich selbst ein Urteil zu bilden und zu seiner Meinung zu stehen. Das ist tatsächlich unverzichtbar in einer Demokratie.
Aber ist der Unterschied zu staatlichen Schulen wirklich so groß? Nicht-kirchliche Schulen vermitteln doch auch Werte.
Und in kirchlichen Schulen werden die Kinder doch genau so an ihren Leistungen gemessen, wie in staatlichen.
Nächstenliebe und Werteerziehung. Ist es das, worum es geht? Reicht das schon, um zu sagen: Unsere Gesellschaft braucht Kirche?
Gottesbegegnung
Ich habe die Kirche lange Zeit für einen Verein gehalten, in dem Geschichten erzählt werden, die nur den einen Zweck haben: Menschen zu guten Werken zu motivieren. Und so lange diese guten Haltungen und Werke dabei herauskommen, so dachte ich, ist es ja in Ordnung. Aber es war mir im Grunde nicht weiter wichtig.
An einem Punkt in meinem Leben habe ich die christliche Religion sogar nur für einen geschickten Selbstbetrug gehalten. Ich war knapp davor, auszutreten. Ich bin aber nicht ausgetreten.
An einem Sonntag – es ist schon viele Jahre her – sitze ich im Künstlerhaus Schwandorf am Empfang. Ich beobachte die spärlichen Besucher. Manchmal möchte jemand ein paar Erklärungen, dann gehe ich mit und erläutere die Werke – ich bin Praktikant. Ich will Kunst studieren. Mitten in die Langeweile treten zwei Frauen – eine Mutter und ihre Tochter. Sie sehen mich am Tresen sitzen und erkennen sofort meine Lage: Ich bin so unendlich einsam.
Zm ersten mal in meinem Leben bin ich fort von daheim. Freunde habe ich hier in Schwandorf keine. Die Belegschaft des Hauses ist am Wochenende nicht da. So stehen also die beiden Damen vor mir, sehen mich, fragen direkt nach meiner Einsamkeit. Ich kann nur aufrichtig antworten. Ja, einsam bin ich. Die beiden sehen sich an und entscheiden spontan: Ich soll doch zum Mittagessen kommen.
Einige Tage später bin ich dort. Wir essen gemeinsam, unterhalten uns gut, gehen anschließend auf einem Weiher Schlittschuhlaufen. Dann daheim noch einen Kaffee zum Aufwärmen.
Warum tut ihr das? Frage ich. Warum seht ihr mich? Warum seid ihr so freundlich? Die Frage bewegt mich schon den ganzen Nachmittag. Was ist mit den beiden los? Warum sind die so. Weil wir an Gott glauben, lautet die schlichte Antwort und dann erklären sie mir ein wenig, was sie glauben und wie sie leben. Mich trifft die schlichte Antwort wie ein Schlag. Nicht weil sie sich das vorgenommen haben, nicht weil sie Heldinnen der Nächstenliebe sein wollen, tun sie das. Sie sind einfach nur liebevoll. Tief in ihrem Herzen – ganz schlicht, geradeaus und selbstlos.
Ich habe auch schon vorher freundliche Menschen kennen gelernt und trotzem haut mich diese Antwort um. Und ich beginne mich zu fragen: Was ist das: Gott? Was passiert da genau? Warum wirkt sich das so aus? Und tief im Inneren entsteht die Sehnsucht: Das will ich auch!
Auch ich will so voller Freundlichkeit sein– ohne Mühe, ohne Stolz.
Der Nachmittag mit den beiden Frauen war für mich so etwas wie eine Begegnung mit Gott. Da habe ich zum ersten mal annähernd gespürt, was das bedeutet, von Gott berührt werden, von Gott innerlich verwandelt werden – um dann selbstlos Gutes zu tun. Einige Jahre später habe ich Theologie studiert und bin dieser ersten Spur immer wieder gefolgt: Wo geschieht das?
Epiphanias
Eure Liebe sei ohne Hintergedanken.
Nennt das Böse beim Namen und werft euch dem Guten in die Arme.
Liebt einander von Herzen wie Geschwister
und übertrefft euch gegenseitig darin, einander Achtung zu erweisen.
Haltet euch mit eurer Begeisterung nicht zurück;
lasst euch von der Geistkraft entzünden und setzt euch für die Lebendige ein.
Freut euch, weil ihr Hoffnung habt. Haltet durch, wenn ihr in Not seid, und hört nicht auf zu beten.
Teilt das, was ihr habt, mit den heiligen Geschwistern, wenn sie in Not sind.
Seid jederzeit gastfreundlich.
Segnet die, die euch verfolgen, setzt auf das Gute in ihnen und verflucht sie nicht.
Freut euch mit den Glücklichen und weint mit den Traurigen.
Zieht alle an einem Strang und richtet euch dabei nicht an den Mächtigen aus, sondern lasst euch zu den Erniedrigten ziehen.
Bildet euch nicht zu viel auf eure eigene Klugheit ein. (Römer 12, 9-16)
Dieser Text wird heute in vielen evangelischen Kirchen vorgetragen, gehört und bedacht. Heute am 2. Sonntag nach Epiphanias. Da geht es um das Aufscheinen Gottes, um sein Erscheinen in der Welt, in der ich lebe, im Alltag.
Es ist ein Ausschnitt aus einem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom. Eine lange To-Do-Liste, ganz schön und ganz schön anspruchsvoll.
Sie richtet sich an die junge Gemeinde in Rom. Herzlich soll die Liebe sein, brennen soll der Geist, das Gebet soll nicht aufhören. Segnen statt verfluchen. Zusammenhalten statt spalten.
Irgendwas stört mich an dieser ganzen Aufzählung. Sie klingt wie viele Sonntagsreden. Es sind lauter Forderungen, denen ich im Grunde zustimmen kann, die ich aber schon zu oft gehört habe. Doch meistens erlebe ich: diese Forderungen verändern nichts, noch nicht einmal im Verhalten derer, die diese Forderungen aussprechen. Sie bleiben ohne Konsequenzen. Nehme ich diese Forderungen aber ernst, werden sie zu einem anspruchsvollen Programm, vielleicht sogar zur Überforderung.
Tatsächlich scheint es aber so gewesen zu sein, dass genau diese Haltungen der ersten Schülerinnen und Schüler Jesu für die altgläubigen Römer ziemlich attraktiv waren.
Wenn man nachforscht, warum die ersten Gemeinden so rasant gewachsen sind, findet man gerade dies: Die Menschen haben beobachtet, wie liebevoll die Gemeindeglieder miteinander und mit Bedürftigen umgegangen sind. Stark! Und ungewöhnlich damals. Soziale Gleichheit, Sklave und Herr am selben Tisch, Fürsorge für Kranke und Alte. Weg vom Leistungsdenken, hin zur bedingungslosen Annahme einer jeden Person durch Gott und dann auch durch die Gemeinde.
Überforderungen?
Einige Forderungen gefallen mir richtig gut, die hört man nicht so oft: "Nennt das Böse beim Namen!"
Schon hier wird es manchmal schwierig: Wenn ich heute in einer öffentlichen Rede Rassismus beim Namen nenne, kann es mir passieren, dass ich von eben jenen Rassisten, die ich gemeint habe, angeklagt werde, ich würde hetzten und lügen. Nein, sie hetzen und lügen und das muss man auch benennen, bevor es alltäglich wird. Paulus spricht mir Mut zu: Hör nicht auf, dich öffentlich gegen das Böse zu stellen. Aber hüte dich: Werd nicht selbst böse dabei. Eine anspruchsvolle Gratwanderung.
Gleichzeitig dann aber: Setzt auf das Gute in denen, die euch verfolgen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Es deckt sich aber mit meiner eigenen Erfahrung: Als junger Lehrer stand ich oft in Schulklassen, die in mir wahlweise einen Feind oder ein einfaches Opfer gesehen haben – meist beides zugleich. Die Begegnungen waren entsprechend unangenehm. Die Klassen haben versucht, meinen Unterricht so gut es ging, zu sabotieren. Sie haben sich lustig gemacht über das Fach – evangelische Religion – und meine Arbeitsaufträge schlicht ignoriert.
Das passiert auch heute noch, wenn ich in Klassen komme, die ich nicht gut genug kenne. Ich habe damals gelernt, dass ich mit einem Gegenangriff nichts erreiche: Strenge und Strafen bewirken genau das Gegenteil von dem, was ich will. Es entsteht nur noch mehr Widerstand. Irgendwann kommt eine der Schülerin weinend in die Klasse. Ich biete ihr an, sie vor die Türe zu begleiten, ich höre ihr zu, schenke ihr ein paar Minuten. Sie beruhigt sich. Seit diesem Moment arbeitet sie mit – und mit ihr auch der Rest der Klasse.
"Spreche Menschen so an, wie Du ihnen gerne begegnen würdest!" Das ist seitdem meine Regel im persönlichen Kontakt, an die ich mich zu halten versuche. Sprich das Gute im Gegenüber an, nicht das Böse. Irgendwann beginnt das Gute in ihm zu antworten. Der Katalog des Paulus ist keine Sonntagsrede. Durch diese vielen Imperative schimmert etwas durch, was ich nicht gleich erfassen kann. Eine andere Wirklichkeit.
Vielleicht ist es dieselbe Wirklichkeit, aus der heraus die beiden Frauen mir damals in meiner Einsamkeit geholfen haben. Durch ihre Handlungen hindurch wurde wirksam, was sie im Innersten verwandelt hat: Gott selbst.
Wie Maria
Das Lied aus dem Abendgebet der russisch-othodoxen Christen ist ein Lied auf Maria, die Mutter Jesu. Der Heilige Geist berührt sie, sie empfängt den Sohn Gottes. Vierzig Wochen lang trägt sie ihn, bis er geboren wird. Kein Mensch kann machen, dass er Gott empfängt. Man kommt zu Gott wie die Jungfrau zum Kind. Doch dann muss man – so, wie Maria – bereit sein, das Göttliche in sich wachsen zu lassen.
Haltet euch mit eurer Begeisterung nicht zurück;
kasst euch von der Geistkraft entzünden.
Die drei Flüsse der Liebe – Gottesliebe
Es fühlt sich an wie ein Fließen, ein Strömen. Das Geschenk ist so groß, keiner kann es für sich behalten, es läuft über und sucht sich Wege. So beobachte ich das jedenfalls:
Die erste Richtung ist hin zu Gott- eine natürliche Antwort des Herzens. Ich erlebe das als tiefes Vertrauen, als Dankbarkeit oder auch als einen inneren Jubel – je nach dem. Es richtet sich dabei nicht so sehr an eine Person, sondern eigentlich an alles. Musik kann sicher bessser ausdrücken, was das für mich bedeutet.
Selbstliebe
Die zweite Richtung in die dieses Geschenk des Geistes fließt, ist zur eigenen Person hin – als Selbstliebe oder besser als Selbstakzeptanz. In der Bibel wird das eigentlich nicht ausführlich erklärt. Die Selbstliebe hat außerdem einen schlechten Ruf. Oft wird sie mit Selbstverliebtheit und Egoismus verwechselt: Wenn ich Angst habe, denke ich nur an mich selbst. Der Egoismus lebt nicht aus innerer Fülle, sondern aus einer inneren Leere heraus. Das hat mit Selbstliebe nicht viel zu tun.
Wenn ich mit meinen Schülerinnen und Schülern arbeite, geschieht es, dass sie sich ein wenig öffnen und ihr Inneres kommt zum Vorschein, und da sehe ich recht oft sogar einen Mangel an Selbstliebe. Viele sind voller Selbstzweifel: Was kann ich schon? Ich bin nicht liebenswert. Wie kann ich liebenswert werden, was muss ich tun? Hübsch bin ich auch nicht. Und andere sind viel besser.
Unsere Gesellschaft bietet nur wenige Gelegenheiten, an denen man einfach so, gratis, Liebe erfährt. All zu oft ist die Zuneigung an Voraussetzungen gebunden. Nach einer Weile – das dauert gar nicht lang – binden die Kinder auch ihre Zuneigung zu sich selbst an Voraussetzungen.
Als Religionslehrer versuche ich, allen Kindern zu vermitteln, dass sie liebenswert sind –ohne jeden Grund, ohne Voraussetzung. Die christliche Sprechweise dafür ist die grundlose Barmherzigkeit Gottes. Aber wie können Kinder in einer Gesellschaft, wo es fast nichts umsonst gibt, erleben, dass Gott sie einfach so liebt, mit all ihren Zweifeln, mit ihren Pickeln, mit ihren zu kurzen oder zu langen Beinen, mit ihren Schwächen und Ängsten und ihren verborgenen Gefühlen.
"Du bist Gottes geliebtes Kind. Gerade so, wie Du bist, gefällst du ihm!"
Wie kann dieser Satz die jungen Menschen erreichen? Wie kann dieser Satz auch Sie und mich erreichen? Wenn ich die göttliche Liebeserklärung tatsächlich annehmen kann, dann bin ich fein mit mir selbst und mit der ganzen Welt.
Nächstenliebe
übertrefft euch gegenseitig darin, einander Achtung zu erweisen.
Teilt das, was ihr habt, mit den heiligen Geschwistern.
Freut euch mit den Glücklichen und weint mit den Traurigen.
lasst euch zu den Erniedrigten ziehen.
Die dritte Richtung, in die das Geschenk des Geistes fließt, ist der oder die Nächste. Auch die Nächstenliebe soll – genau wie die Gottes- und die Selbst-Liebe keine Anstrengung sein, kein aktives Tun. Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe sind nicht drei, sie sind ein Fließen auf drei verschiedene Arten.
In diesem Fließen wirkt Gottes Kraft und verändert die Welt. Wenn die Nächstenliebe dies in und durch die Kirche bewirkt, ist das mehr als nur ein sozialer Beitrag zur Gesellschaft. Es schenkt der Gesellschaft einen Zugang zum göttlichen Geheimnis.
Wozu noch Kirche?
Wozu brauchen wir eigentlich Kirche? Ich glaube, die Antwort ist mittlerweile klar: Kirche ist da, wo Gottes Barmherzigkeit frei fließt, Kirche ist da, wo Menschen einander in der Geiskraft Gottes begegnen.
Kirche soll ein Ort oder eine Gemeinschaft sein, wo jede und jeder lernen kann, sich selbst so zu nehmen, wie er oder sie ist, sie soll ein Ort sein, wo wir unsere Erfahrungen mit der Liebe Gottes teilen können. Brauchen wir dazu ein großes Haus mit Turm und Glocken, die regelmäßig läuten?
Ich persönlich hänge an so manchem Kirchengebäude, mit dem ich gute Erinnerungen verbinde. Am Ende sind Häuser aber doch nur Häuser. Die Kirche braucht keine Mauern. Sie lebt von Menschen, die als lebendige Steine einen unsichtbaren Raum schaffen, in dem Liebe ohne Hintergedanken wohnt.
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