Heute klingt alles etwas anders als sonst, liebe Hörerinnen und Hörer. Ich  bin Susanne Breit-Keßler und spreche live zu Ihnen.

Der Samstag gestern hat wieder Vieles verändert. Es war ein sonniger Frühlingstag. Menschen genießen die Wärme, die Möglichkeit, endlich wiederdraußen zu sitzen und einen Kaffee oder ein Glass Prosecco zu trinken. Man lacht, plaudert. Und dann, aus wirklich heiterem Himmel, rast ein Auto in eine Menschenmenge. Ein Mann und eine Frau sterben, zwanzig Menschen werden verletzt, sechs davon schwer. Der Fahrer des Wagens erschießt sich nach seiner Tat.

Was dann geschieht, liebe Hörerinnen und Hörer, ist leider zu einer Gewohnheit geworden. Musste dazu werden. Man greift zum Telefon und ruft alle die an, die man in der Nähe des Tatortes wähnt. Ich habe das auch getan. Zwei ganz liebe Freunde von uns wohnen und arbeiten in der zauberhaften
Universitätsstadt Münster. Als sie an Telefon gingen, war ich erleichtert und von Herzen dankbar. Gott sei Dank. Sie leben!

Andere haben über das Internet, in den Social Media, verbreitet, dass sie wohlauf sind und niemand sich Sorgen machen muss. Auch das eine gute Möglichkeit, sich mitzuteilen und anderen, die sich fürchterliche Sorgen machen, zu entlasten. Die sozialen Medien zeigen sich in solchen Fällen, dann,
wenn man richtig Angst um andere hat, als eine wirkliche Hilfe. Man kann schnell Gewissheit bekommen.

Aber das gilt natürlich nur für die, die wie mein Mann und ich eine tröstliche Nachricht bekommen haben. Wir durften aufatmen. Andere dagegen sind jetzt in tiefer Trauer oder schweben in den größten Ängsten um einen ihrer Lieben. An sie denke ich seit gestern Abend – an die, die einen Menschen verloren haben und an die, die zum Teil schwer verletzt in den Krankenhäusern liegen. Um deren Leben gebangt wird.

Ja, aus heiterem Himmel ist Gewalt, ist Kummer, Schmerz und Leid über Menschen hereingebrochen, die einfach nur ihr Wochenende und ein paar freie Stunden genossen haben. Was den Fahrer des Campingbusses, der eine blutige Spur hinterlassen hat, zu seiner Tat trieb, das wissen wir noch nicht. Der 48-jähige hat, so heißt es, schon lange in Münster gelebt – ganz in der Nähe des Tatortes. Vor kurzem, so berichtete ein Fernsehsender, habe er einen Suizidversuch unternommen. Er sei psychisch gestört gewesen. Genaueres werden wir erfahren, wenn Polizei und Staatsanwaltschaft ihre Arbeit beendet haben. Spekulieren hilft jetzt niemandem. Es gibt auch keinen Grund, erleichtert zu sein, weil es nach derzeitigem Erkenntnisstand kein terroristischer Anschlag war.

Das hilft denen, die um einen geliebten Menschen trauern, gar nichts. Auch denen nicht, die um das Überleben kämpfen oder denen, die den Schock noch lange Zeit in sich tragen werden. Es hilft den Angehörigen nichts. Wer getötet wurde, hat sein Leben verloren. Er kommt nicht mehr zurück. Und
wer für sein Leben gezeichnet ist, wird es erst einmal bleiben.

Das wissen die, die heute Abend im Paulus-Dom zu Münster einen ökumenischen Gedenkgottesdienst feiern. Das wissen auch diejenigen, die Kerzen aufstellen und Blumen ablegen an dem Ort, an dem Menschen zu Tode gekommen oder verletzt worden sind. Und die jungen Leute, die die Türen der Jugendkirche weit geöffnet haben. Sie liegt nahe am Tatort. Auf der Leinwand hinter dem Altar steht: „Wir beten für die Opfer und ihre Angehörigen“. Das ist es, was wir tun können. Mit unseren Herzen und Gedanken bei denen zu sein, die sich die Seele aus dem Leib heulen, die es schüttelt und beutelt. Denen schwere Wege bevorstehen. Beten, das ist es, was wir tun können für die, die schwer oder auch nur leichter verletzt sind. Sie alle brauchen unsere empathischen, einfühlsamen Gedanken und Gefühle.

Mitzuleiden, aneinander zu denken, auch wenn man einander fremd ist, das macht unsere Menschlichkeit aus, liebe Hörerinnen und Hörer. Uns ist es eben nicht egal, wie den Tätern gleich welcher Herkunft oder Absicht, was anderen Menschen geschieht. Wir fühlen mit, wir denken an andere, auch wenn wir sie gar nicht kennen. Wir halten inne. Wir spüren, wie nahe der Tod dem Leben ist.

All unser Fühlen, Denken und Stillwerden hat einen Grund. Wir sind mitten in der Osterzeit, in der wir die Auferstehung Jesu Christi feiern. Die Auferstehung des Gottessohnes, der zuvor elende Pein erlitten hat. Der gefoltert und gekreuzigt wurde. Den man grausam verspottet hat. Wir feiern die
Auferstehung des Gottes, der Leid auf sich genommen hat, um uns ganz nahe zu sein.

Er ist nicht im Himmel thronen geblieben, sondern hat unsere Nähe gesucht. Ist denen nahe, denen es das Herz zerreißt oder den Körper zerfetzt. Nichts davon ist ihm fremd. Vor ihn können wir unsere Klage bringen, auch unseren Zorn und unsere Wut. Unser Unverständnis, warum das geschehen musste. Warum Menschen an einem sonnigen Frühlingstag urplötzlich aus dem Leben gerissen werden.

Warum, wenn sie überleben, das, was ihnen widerfahren ist, sie nicht mehr verlassen wird. Wir dürfen das alles vor Gott bringen. Er weiß um das, was in uns vor sich geht. Er hat schon das erste Weinen, von dem die Bibel berichtet, vernommen und darauf reagiert – als die Magd Hagar verstoßen wurde
und mit einem Kleinkind, ihrem Sohn Ismael in der Wüste herumirrte.

Er hört all unser Weinen, erzählt unsere Tränen und sammelt sie in einem Krug, wie es der Psalmbeter sagt. Aber das wäre, wenn es nur dabei bliebe, zu wenig. Ein schöner Akt der Empathie, des Einfühlens. Mehr nicht. Das, was wir aber an Ostern feiern, ist die Auferstehung von den Toten. Das Fest des Lebens angesichts einer bitteren, oft so harten und schmerzlichen Wirklichkeit.

Der Evangelist Matthäus schreibt: Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. SeineGestalt war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee. Die Wachen aber erschraken ausFurcht vor ihm und wurden, als wären sie tot. Aber der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht!

Ich weiß, daß ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, daß er auferstanden ist von den Toten. Und siehe, er wird vor euch hingehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt. Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude…

In nur drei Tagen alles vorbei, was drei Jahre lang das Leben leuchten ließ. Er war ihnen alles gewesen. Er hatte alles für sie gegeben. Und das Einzige, was sie noch für ihn tun können, ist, nach seinem Grab zu sehen. Es bleibt ja nichts anderes. Wir Trauernden unserer Tage machen uns auf, um das zu tun, was nötig ist: Gräber besuchen, an Krankenbetten eilen.

Frische Blumen an einen Tatort stellen, Kerze anzünden. Verweilen. Die Steine liegen uns auf der Seele. Wie sollen wir sie bewegen? Der Grabstein vor Jesus letzter Ruhestätte ist ein wuchtiges Sinnbild für die vielen Todeszeichen, die bis heute unsere Wege säumen. Wollen wir der Unausweichlichkeit des Todes und der Endgültigkeit unsere kleinen Zeichen des Gedenkens entgegenhalten?

Wir sind natürlich an diesem Morgen gefangen in unserer kleinen, traurigen Wirklichkeit. Besorgt, ob wir tun können, was wir wollen und wohl auch sollen. Die kleinen wichtigen Zeichen des Gedenkens helfen, einen Hauch von Normalität zu schaffen. Aber normal ist das nicht, was wir erleben, auch
wenn wir uns an solche Ereignisse gewöhnen. Nach Jesu Tod kommt ein Erdbeben.

Zeichen dafür, dass nichts so bleibt, wie es war. Der Stein wird weggewälzt, die Wachen brechen vor Panik schier zusammen. Der Leichnam des Gekreuzigten ist weg. Ein Engel sitzt da, wo er nicht hingehört. Nicht in dieser Wirklichkeit. Nichts mehr stimmt, weil alles ist, wie es nicht sein darf. Tot war doch schon immer tot, muss doch auch tot bleiben! Das sagt einem jede Erfahrung.

Man kann die Bedeutung des Entsetzens der Betroffenen, derer, die alles miterlebt haben, gar nicht hoch genug einschätzen. Aber alles kommt anders, erschütternd anders: Ein Erdbeben. Die ganze Welt erfährt, dass sich mit der Auferstehung grundstürzend alles ändert. Der Tod ist tot. Das Ende ist
am Ende. Ein Engel wälzt den Stein zur Seite und setzt sich darauf.

Spielerisch, fast provokativ, als würde er frech fragen: Welcher Stein auf dieser Welt will es jetzt noch wagen, das Leben einzusperren? Die Wächter, die den Toten bewachen sollen, sind selbst wie tot und der Gekreuzigte steht auf hinein ins Leben. Der Auferstandene selbst begegnet seinen Menschen. So,
wie er denen begegnen wird, die jetzt in ihrer Kummer gefangen sind.

„Mit Furcht und großer Freude gingen sie eilends weg vom Grab“ heißt es in der Bibel. Die tragischen Ereignisse, sogar die überwältigend schönen, gehen nicht nur mit einer Gemütsregung einher. Sie lösen immer auch Furcht aus. Nichts wird mehr so sein, wie es war. Alles ist anders. Und doch muss ich das neue Leben angehen. Der Engel, das Leben, das ist die Wahrheit, mit der Gott uns gegenüber tritt.

Ich lebe und ihr sollt auch leben! sagt Jesus. Der Karfreitag, der Anschlag ist nicht das Ende. Wahr ist, dass unser Leben auf ewig unzerstörbar ist, auch wenn wir sterben müssen. Der auferstandene Jesus selber, das Leben selbst tritt uns entgegen. Mit ihm, durch seine Kraft können wir es schaffen, Angst
und Depression zu überwinden. Nicht heute, nicht morgen, aber mit der Zeit.

Es ist so: Wir müssen an die Gräber unseres Lebens und an die der anderen. Aber wir sollen auch wissen: Wie die Frauen am Grab wird uns heiliger Schrecken erfassen – einer, der uns letztlich wegtreibt vom Grab. Da haben wir auf Dauer nichts mehr verloren und nichts mehr zu suchen. Auch,
wenn der Gang zum Grab und seine zärtliche Pflege für uns selber notwendig ist und der liebevollen Erinnerung dient.

Jesus und der Engel sagen, was wir tun können: Unser altes Vertrauen wieder aufnehmen. Vertrauen zu einem Gott, der lebendig macht schon mitten im Leben und nach dem Tod. Auch wenn wir hin- und hergeschleudert werden von Mächten und Menschen, die uns und andere nicht das eigene Leben
führen lassen. Die Macht Gottes geht über eine Veränderung des irdischen Lebens weit hinaus. Gott wandelt irdisches zum ewigen Leben.

Er kann alle Steine wegwälzen, die uns in unserer Trauer auf der Seele liegen. Bis zum Karfreitag stellten sich Jesus immer Dämonen in den Weg, wenn er Menschen in die Freiheit rief. Erst mussten sie und all die gewalttätigen Gegner Jesu vertrieben werden, bevor sich Männer und Frauen in ihr neues Leben aufmachen konnten. Nach der Auferstehung wartet kein Dämon mehr, sondern ein Engel.

Es ist endgültig mit der Auferstehung. Der Engel weist die Richtung. Weg, vom Grab, zurück ins Dasein, wo wir den Fußspuren einer unvergänglichen Hoffnung folgen sollen. Dennoch, ich weiß wohl: Ostern geht nicht schnell. Es braucht Zeit, bis man glauben kann: Der Stein ist weggewälzt. Das Grab
ist leer. Ich darf irgendwann die Leichentücher zusammenfalten, in die ich so viele Hoffnungen gewickelt hatte.

Ich kann das neue Leben mit Händen berühren. Es ist wirklich da. Wer tief im Dunkeln war, braucht Zeit, bis er das Licht der Sonne ertragen kann. Er muss erst einmal die Augen schließen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Erst nach und nach kann er sie öffnen und das Licht in Klarheit schauen. Aber nach finsteren Tagen muss Starre weichen. Wir alle haben die Osterbotschaft: Leben und Güte Gottes sind stärker als Tod und Teufel. Was tot ist, darf lebendig werden: Wir dürfen uns in diesem und in einem anderen Leben aus unseren Gräbern erheben, in die wir sinken, wenn uns Einsamkeit, Trauer und Verzweiflung, zuletzt der Tod nieder strecken. Wir sind – um Himmels willen - gebeten, überall auf der Welt Menschenwürde zu achten.

Wer der Logik des Todes mit der Phantasie der Liebe widerspricht, wird andere als irdische Himmelsgeschöpfe behandeln. Wer sich über Leben in all seiner Vielfalt freut, es auch mit seinen Behinderungen, mit seinen Schwächen und Verletzungen annimmt, der will das Zarte, Bunte, der will das Leben. Der Engel spricht uns an, reißt uns irgendwann zurück ins Leben.

Der Gräbergang wandelt sich mit Gottes Hilfe zu einer Wallfahrt ins Leben spielt. Wir sollen uns hinwenden zu einem vertrauensvollen Leben mit weitem Herzen und offenem Verstand. Den Frauen hat Jesus als erstes gezeigt, dass sie für ihn unendlich wichtig sind, so wichtig, dass er ihr ganzes Leben vom dauernden Karfreitag hin zu einem täglichen Ostern verändert hat.

Wir selber spüren etwas davon, wenn jemand sagt: „Gut, dass es dich gibt – was wäre dieses Leben ohne dich.“ Vielleicht hat der Täter von Münster diesen Satz nicht oder nicht oft genug gehört. Gut, dass es dich gibt – was wäre dieses Leben ohne dich. Das ist im Grunde ein Zitat. Ein Zitat Gottes, denn warum sonst hätte er uns unser Leben geschenkt – doch deswegen, weil es gut ist, wenn es uns gibt.

Liebe ist die Ursache unseres Daseins – sonst nichts. Wer wirklich liebt, der kann den anderen nicht tot denken, er kann und will nicht wollen, dass der andere tot ist. Wir müssen lange Trauerarbeit leisten, wenn uns ein Mensch verlässt. Aber wir werden ihn oder sie uns ewig lebend vorstellen, wie
neu geboren. In unserer Liebe wird ein Verstorbener für immer leben – und wir werden, bei Gott, ewig sein.

Jesus hat in jedem Augenblick gezeigt, wie kostbar ihm jedes Menschenleben ist. Je mehr man einen Menschen als Individuum achtet, desto respektvoller wird man ihm oder ihr begegnen. Dann gibt es diesen Satz nicht mehr: „Er war eigentlich ganz unauffällig, nichts Besonderes.“ Dann sehen wir einzelne Gesichter, können Augen erkennen, Silberfäden im Haar, Lach- und Sorgenfalten.

Unsere Osterhoffnung ist die Fortsetzung der persönlichen Liebesgeschichte Gottes mit jedem Menschen. Er sieht einen jeden, eine jede direkt an – als unverwechselbare Persönlichkeit, die bei ihm unendlich gut aufgehoben ist. Wie es einst sein wird, wissen wir nicht. Darüber gibt uns niemand
Auskunft. Das Gefühl für Auferstehung und Unendlichkeit können wir spüren.

In den Momenten, in denen ausschließlich wahre Liebe regiert, in unseren Körpern, in den Köpfen und Herzen – dann, wenn wir Mensch bleiben und andere ganz und gar Menschen sein lassen, wie Gott es von uns wünscht. Immer dann, wenn wir mit allen Sinnen merken: Das ist das Leben, das wir als
einziges wollen können – eines, in dem Engel Gottes bei uns rasten, um uns den Ruf Gottes auszurichten, damit wir tun, was wir können.

Der Ruf Gottes heißt seit Ostern: Ich lebe und ihr sollt auch leben! Wir brauchen Mut, um zu sagen, was wir glauben. Wir haben manchmal Angst, mit unserem Glauben für verrückt gehalten zu werden. Aber ich halte mich fest an die Liebe Gottes zu den Menschen. Eine Liebe, die stärker ist als der Tod.
Der Tod ist tot. Das Ende ist am Ende. Das Leben siegt.

Das ist wie eine Lebensmelodie, wie ein Osterhymnus, der jeden Tag und jede Nacht durchzieht. Gerade an den bleischweren Morgen ist er unverzichtbar: Kein Stein ist so schwer, dass nicht ein Engel vom Himmel herabsteigen könnte und ihn für uns wegwälzen. Wo alles am Ende und abgestorben erscheint, gerade da geschieht Auferstehung – mitten im Leben und eines Tages hinein ins ewige Leben.

Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Für uns, für alle. Gott sei bei uns und bei
den Menschen in Münster. Amen.