Für Tilda (Luna Wedler) ist das Freibad am Abend eine kurze Auszeit. 22 Bahnen lang kann sie die Sorgen ihres Alltags ausblenden. Da ist nur sie, das Wasser und der Geruch von Chlor.

Das Leben der Anfang Zwanzigjährigen ist klar durchgetaktet: Mathestudium, Supermarktkasse - und dazu noch die Mutterrolle für ihre kleine Schwester Ida (Zoë Baier). Die eigentliche Mutter der Geschichte kämpft mit Alkoholsucht und bringt mit ihrem Verhalten immer wieder die fragile Ordnung der Schwestern ins Wanken.

Trotz der vielen Herausforderungen wagt Tilda nicht von einem anderen Leben zu träumen – Ida zuliebe. Doch das ändert sich, als ihr Professor ihr eine Promotionsstelle in Berlin anbietet. Plötzlich muss sich Tilda die große Frage stellen: Darf sie ihren eigenen Lebensweg einschlagen, auch wenn es bedeutet, ihre Schwester Ida im Stich zu lassen?

Tilda ordnet ihre Welt in Zahlen:
Sie hat eine überwiegend intakte Familie - zu 66,67%. Tilda und Ida sind intakte Schwestern - zu 100%.

Vom Bestseller zum Kinoleinwand-Drama

"22 Bahnen" erzählt eine Geschichte voller Spannungen – über Liebe und Schmerz, Verantwortung und der Sehnsucht nach Freiheit. Unter der Regie von Mia Maariel Meyer ist der gleichnamige Bestsellerroman von Caroline Wahl seit Anfang September auf der Leinwand zu sehen.

Die Grenze zwischen Buch und Film verschwimmt immer wieder. Nicht nur das melancholisch bis hoffnungsvolle Gefühl des Romans kommt in den sanft belichteten Szenen und der minimalistischen Filmmusik zum Ausdruck – auch der überwiegende Teil der Dialoge stammt wortgetreu aus dem Buch.

Kontroverse Themen und ihre Umsetzung im Drama

Die Autorin selbst war aktiv an der Promotion des neuen Kinofilms beteiligt – und das löste in den Sozialen Medien und in Community- oder Social-Reading-Plattformen wie Goodreads eine Welle an Kritik an ihrem Werk aus. Caroline Wahl wird vorgeworfen, sensible Themen wie Alkoholsucht und Armut lediglich als dramaturgische Mittel auszunutzen, ohne sich weiter mit ihnen auseinanderzusetzen. Die Schriftstellerin erklärt in einem Interview selbst, sie habe keinen eigenen biografischen Bezug zur Lebensrealität von "22 Bahnen".

Diese Distanz wird in den Charakteren spürbar. Besonders die Figur der Mutter bleibt in dem starren Rollenbild der Alkoholikerin gefangen und wirkt stellenweise klischeehaft überzeichnet. Aber: weder Buch noch Film erheben den Anspruch Armut und Suchterfahrung lebensgetreu zu spiegeln – denn obwohl beides wichtige Elemente der Geschichte sind, handelt die Erzählung im Kern von etwas anderem:

Es ist die Geschichte von einer jungen Frau, die sich in einer schwierigen Lebenssituation befindet, und von der Entscheidung, die sie treffen muss – folgt sie ihrem Bedürfnis auszubrechen oder bleibt sie aus Liebe zu ihrer Schwester?

Auf einer Wiese, mit Wald im Hintergrund, blickt ein junges Mädchen lächelnd zu einer jungen Frau hoch, die ebenfalls lächelnd ihre Arme in die Luft streckt.

Ein modernes Sommerdrama über Mut und Verantwortung

Damit hat "22 Bahnen" etwas von einem modernen Märchen. Nur, anders als in den meisten Märchen gibt es für Tilda keine magische Lösung, die zu einem Happy End führen könnte. Was sie in dem Weg aus ihrem Dilemma begleitet, ist stattdessen die Stabilität aus der Beziehung zu ihrer Schwester – und der Beziehung zu Viktor (Jannis Niewöhner).

Der junge Mann, der im Schwimmbad auftaucht und genauso wie Tilda immer 22 Bahnen schwimmt, wirkt auf den ersten Blick wie der märchenhafte Retter in der Not. Seine Rolle ist jedoch viel komplizierter - und viel realistischer: Viktor rettet die Protagonistin nicht wie erwartet mit seinem Ross (einer schwarzen Mercedes G-Klasse) aus ihrer Not. Vielmehr gibt die unverhoffte Liebesgeschichte Tilda neue Kraft, ihren schweren Alltag zu meistern und die schwierige Entscheidung zu treffen.

Ein junger Mann und eine junge Frau sitzen nebeneinander auf dem Fußboden. Er schaut sie an, während sie auf ein Buch in ihren Händen blickt.

Musik und Momente, die das Coming-of-Age prägen

In der Romanvorlage erfinden die beiden Schwestern eigene Märchen, in denen sie selbst zu Heldinnen werden – kleine Fluchten aus dem Chaos, die ihnen gegenseitig Mut schenken. Der Film ersetzt diese Fantasiewelten durch das tröstende singen von Tokio Hotels "Durch den Monsun" – ein Lied, dessen Lyrics erstaunlich gut zur Lage der beiden passen. Caroline Wahls Kleinstadtmärchen wird damit auf der Leinwand eher zu einer melancholischen Schwesterngeschichte mit 2000er-Flair.

Melancholie und Hoffnung: Eine berührende Schwesterngeschichte

"22 Bahnen" verknüpft tiefe Fragen mit herzerwärmenden Momenten der Hoffnung – ein traurig-schöner Film für einen verregneten Sommertag.

"22 Bahnen" läuft aktuell bundesweit im Kino.