Die ganze Welt ist aus dem Fugen geraten. Moral und christliche Werte, Menschenrechte und Regelbasierte Ordnungen erodieren. Demokratisch verfasste Gesellschaften sind in Gefahr.

Die Rechtsextremen steigen unaufhörlich in der Wählergunst, und die demokratischen Parteien der viel beschworenen Mitte versuchen vergeblich, ihnen die Wähler wieder abzuwerben. Untauglich, wenn dabei Rechtsauslegern hinterhergehechelt wird und "verrohte Sprache in die Räume suppt". Denn, so der vielfach preisgekrönte, österreichische Dramatiker Thomas Köck: "An der Sprache wird sich alles entzünden."

Frei nach dem Motto: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen

Unter dem bezeichnenden Titel "Chronik der laufenden Entgleisungen" hat er sich gleichsam stellvertretend reflexiv und sehr persönlich "aus der Sicht eines Arbeiterkindes" die Wut und den Frust von der Seele geschrieben, was - nach Graz und Wien – vergangene Woche am kleinen, für seine konzentriert minimalistischen Inszenierungen bekannten Münchner Metropoltheater zur deutschen Erstaufführung kam. Frei nach dem Motto: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.

Geschockt vom rasanten Aufstieg der FPÖ (und zeitversetzt der AfD) hat der Autor auf 370 Seiten ein Sammelsurium aus Schlagzeilen, Live-Ticker, Twitter-X- und Facebook-Schnipsel, eigenen Kommentaren und Analysen zusammengetragen, um die schleichende Infiltration rechter Gesinnung in bürgerliche Denkmuster bewusst zu machen.

"Chronik der laufenden Entgleisungen" im Münchner Metropoltheater.
"Chronik der laufenden Entgleisungen" im Münchner Metropoltheater: Luca Skupin, Hubert Schedlbauer, Sophie Rogall.

Den geballten, tagespolitischen Wahnsinn der letzten Jahre, den der gewöhnliche Medienkonsument teils vergessen, teils verdrängt hat, bekommt man von fünf Schauspielern auf der beständig kreisenden Drehbühne komprimiert wieder um die Ohren gehauen: Pflegenotstand, Ausbeutung, ungerechte Vermögensschere. Gelbwesten und Ukraine-Krieg. Terror und Rheinmetall. Hamas und der 7. Oktober. Butscha, Gaza und die Prekarisierung des Alltags. Insolvente Möbelhäuser und Wirtschaftsaufschwung. Leistung und Aktienrausch.

"Der Ausländer" als Naturkatastrophe

Kapitalismus als Motor und Migration als Mittel zur Verschiebung von christlichen Werten und ethischen Grenzen, und am Ende erscheint "der Ausländer" als Naturkatastrophe. Textflächen à la Jelinek rattern vorbei, die, bevor sie einen vollends erschlagen, von autobiografisch eingefärbten Passagen des Autors auch sprachlich aufgebrochen werden.

Immer, wenn es um die körperlich schwer arbeitende Klasse geht, entstehen kraftvolle Sprachbilder: "Diese Hände", diese geschundenen Hände: fehlende Fingerkuppen, fehlendes Geld, fehlende Perspektiven. Als familiär Betroffener katapultiert Köck in Ich-Form die im öffentlichen Diskurs abgetauchte "Arbeiterklasse" ins Bühnenlicht.

Schöne Überraschung. Köck stellt die "Klassenfrage" und dreht die Welt auf links. Auch wenn aus der Arbeiterklasse die Kleinbürgerschicht geworden ist und aus dem Klassenfeind das Bürgertum in seiner selbst definierten, politischen "Mitte", politisches Theater mit scharfer Klinge ist das nicht. Keine Revolution in Sicht, dafür fehlt den Kleinbürgern die Kraft. Nur die Infragestellung von Bürger und Bürgerlichkeit mit all ihren Tugenden und Werten, die immer auch Abschottung meint und "die anderen" braucht.

Zwei anschaulichen Stunden im Theater - gerade hier, gerade jetzt

Fünf Schauspieler in Grau deklamieren, was das Zeug hält, eindrücklich bewegen sie sich im Kreis, sie können nicht anders. Der Uhrzeiger am Podest läuft mit, nur in der Mitte ein rundes Podest, auf dem sie sich mehr ver- als unterhaken. Mit vielen Fragen an die (zuschauenden) Bürger.

Das macht diesen Abend unerwartet spannend. Geschichte wiederholt sich – doch? Muss sie nicht, wenn man die Wahl hat. Statt sich permanent weiter der medialen Verwirrung auszusetzen, reichen dazu diese zwei anschaulichen Stunden im Theater: "Es macht auch schon Sinn, Kunst und alles. Gerade hier, gerade jetzt."

Informationen und Aufführungstermine

"Chronik der laufenden Entgleisungen…"
Autor: Thomas Köck
Bühnenfassung und Inszenierung: Alexander Weise

Deutsche Erstaufführung im "Metropoltheater", München (17. Okt. 2025)

Weitere Aufführungstermine:
22., 23., 29., 30. 31. Oktober 
1., 2., 8., 9., 11., 12., 13., 16., 17. November

Spieldauer: 1.55 Std.
Kartenpreise: 25/20 €, erm. 20/15 €

Metropoltheater
Floriansmühlstr. 5
80939 München
Tel. 089 – 32 19 55 33

Weitere Informationen:
Metropoltheater.com
info@metropoltheater.com