"Den Drachen jagen" ist ein aus der chinesisch-kantonesischen Drogenkultur entlehnter Slang-Ausdruck und bezeichnet das "Inhalieren von Heroin oder anderen Substanzen". Dabei wird das Heroin auf einer Aluminiumfolie erhitzt und verflüssigt. Dann kann mit einem kleinen Röhrchen den Dämpfen "hinterhergejagt" werden. Dabei hat der Begriff noch eine zweite Bedeutungsebene, nämlich die Suche nach dem Drogen-Kick.

Der Drogen hinterhergejagt, das ist auch Kerstin Herrnkinds Bruder Uwe etwa 25 Jahre lang. Mutter, Schwester, Freundinnen und Freunde haben alles versucht, um ihm zu helfen. Ihm einen Weg aus der Drogenabhängigkeit heraus zu ermöglichen. Sie haben ihn zu Hause aufgenommen, ihm Therapien und Jobs vermittelt und ihn auch immer wieder mit Geld unterstützt.

Doch ohne nachhaltigen Erfolg.  

Der Roman "Den Drachen jagen" beginnt mit Uwes Tod. Zwei Polizisten klingeln an der Tür der Journalistin Herrnkind, die Corona-Pandemie ist gerade ausgebrochen. Deutschland von Lockdowns geprägt. Herrnkind, die heute in Hamburg und Lübeck lebt, ahnt bereits Schlimmes. Ihr Bauchgefühl wird bestätigt, ihr Bruder Uwe ist tot aufgefunden worden. Gestorben mit 52 Jahren an einem Mix aus Heroin, Alkohol und Medikamenten.

Als Schwester organisiert sie die Beerdigung, in kleinem Rahmen, mit ein paar Freundinnen und Freunden Uwes. In ihrem Kopf entsteht ein langer Fragenkatalog.

Hätte sie ihren Bruder retten können? Warum und wie konnte es so weit gekommen? Was hat Uwe in die Drogen getrieben? Wie hat alles angefangen? Warum wurde ihr kleiner Bruder immer wieder rückfällig?

Um Antworten zu erhalten, schaut Herrnkind weit zurück in die Familiengeschichte - bis zu den Großeltern. Dabei zieht sich ein roter Faden durch alle Generationen: die Erfahrung von Gewalt in den Weltkriegen, in den Armenvierteln, zu Hause, zwischen Mann und Frau. Darüber hinaus lässt Herrnkind ihre Mutter erzählen, spricht mit Freunden und Leidensgenossen von Uwe. Sie macht sich ein Bild von Uwes Lebens – und gibt authentische Einblicke in sein Leben mit der Drogenabhängigkeit.

Einblicke in die Biografie

Dabei sind Herrnkind und ihr jüngerer Bruder relativ wohlbehütet in einem niedersächsischen Dorf aufgewachsen. Doch der Vater traute Uwe nicht viel zu, verhätschelte und bevormundete ihn. Herrnkind schildert ihren Vater auch als brutal. Ihre Mutter war vielfach überfordert, selbst in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Am Ende ließen sich die Eltern scheiden, worunter Uwe sehr zu leiden schien.

Uwes Einstieg in die Welt der Drogen begann mit Alkohol, später kiffte er, Mitte der 1990er Jahre schnupfte er zum ersten Mal Heroin. Ein halbes Jahr später spritzte er sich die Droge. Mit 52 Jahren starb er, körperlich kaputt, in einer Unterbringung für Suchtkranke in Berlin. Kurz nach seinem Geburtstag.

"Uwe war einer von 1.581 Menschen, die 2020 in Deutschland an illegalen Drogen starben. 183 mehr als im Jahr davor. Im Schnitt starben etwa vier Menschen am Tag. In Berlin gab es im ersten Halbjahr 88 Drogentote. Einer davon war Uwe", schreibt Herrnkind.

Am Ende des Buches findet die Autorin Trost bei Menschen, die ihr Schicksal als Angehörige eines Suchtkranken geteilt haben. In ihrem letzten Kapitel hält sie schließlich ein flammendes, umfassend recherchiertes Plädoyer für mehr Engagement der Politik und eine differenzierte Sichtweise auf Drogen – von Alkohol über Cannabis bis hin zu harten Drogen.

Hier kommt die Journalistin, die einst bei der taz gearbeitet hat und heute für den Stern tätig ist, zu voller Blüte. Insgesamt ist ihr Roman eindringlich, emotional und zeigt uns, dass Drogen auch heute noch ein großes Problem sind.

Ein wenig erinnert ihr Buch an "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", nur aktueller. "Den Drachen jagen" gibt Einblicke in die aktuelle Situation, ist eine persönliche Spurensuche, der Versuch einer Angehörigen, Antworten zu finden. Das Thema geht uns alle an, denn noch immer leben allein 200.000 Drogensüchtige in Deutschland.

"Den Drachen jagen" von Kerstin Herrnkind, 2022, Edition W, 256 Seiten, 20 Euro.

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