An seine erste Begegnung mit dem Sterben erinnert sich Stefan Weiller noch ganz genau. Als Lokaljournalist der Wiesbadener Zeitung sollte er eine Reportage über das Leben im Hospiz schreiben. "Ich hatte totale Manschetten", sagt der 46-Jährige. Wie spricht man mit jemandem, der weiß, dass er sterben wird? Stimme senken, auf keinen Fall lachen – Weiller sortierte noch seine Gedanken, als ihm aus der Zimmertür seiner Gesprächspartnerin ein alter Schlager entgegenschallte: "Immer wieder sonntags" von Cindy und Bert.
Überrascht von der Gute-Laune-Musik der 1970er-Jahre, entspann sich ein Gespräch über Hoffnung und Furcht im Angesicht des Todes – und vor allem über die Lieder, die ein Leben ausmachen. "Wir haben zweieinhalb Stunden gesprochen, und ich hatte dabei eine gute Zeit!", erinnert sich der Sozialpädagoge. Dieses Gefühl, dass sterbende Menschen verzweifelt, stark und witzig zugleich sein können, wollte er teilen.
"Letzte Lieder" erzählen 24 Lebensgeschichten
So entstand vor vier Jahren das Projekt "Letzte Lieder", das schon in Frankfurt, Berlin und Hamburg Erfolge feierte und am 7. Oktober in der Münchner Lukaskirche zu Gast ist. Aus den mittlerweile über 150 Gesprächen mit todkranken Menschen, die Stefan Weiller in Hospizen, aber auch in Privathäusern geführt hat, stellen die "Letzten Lieder" 24 Lebensgeschichten vor. Die Schauspieler Christoph Maria Herbst und Marianne Sägebrecht erzählen die Geschichten, durchwoben mit Musik von Monteverdi bis zum Rapper Sido.
Der Christophorus Hospiz Verein München veranstaltet den Abend bei freiem Eintritt. Möglich wird das durch die Unterstützung von u. a. der Bayerischen und die Evangelischen Stiftung Hospiz, der Stiftung "Antenne Bayern hilft" und der Sparda-Bank. Die Schirmherrschaft übernehmen Oberbürgermeister Dieter Reiter und die Münchner Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler. Initiator Weiller verspricht einen ernsthaften und tiefsinnigen, komischen und witzigen Abend. "Die Leute lachen und weinen, und manche gehen aus dem Konzert und ändern ihr Leben", sagt der Künstler.
Tod und Lebensende im Mittelpunkt der "Letzten Lieder"
Bei den "Letzten Liedern" kommen Kunstgenuss und Lebensfragen zusammen: Wie lange dauert das Sterben? Von der Diagnose bis zum Tod? Weiller findet, dass Menschen zu schnell vom Sterben sprechen. Er bevorzugt den Begriff vom Lebensende: "Auch beim nahenden Tod ist es immer noch Leben. Ich bin immer noch da, kann entscheiden, kann gestalten." Trotzdem: Beschönigung ist nicht Weillers Sache. "Der Tod ist ein Arschloch", sagt er knapp. Ihn als Teil des Lebens zu betrachten lehne er ab. "Aber der Tod ist halt da. Wir können einen Umgang mit ihm finden – weil wir müssen."
Die Geschichten der "Letzten Lieder", mittlerweile auch als Buch erschienen, sind keine Protokolle oder Wortlautinterviews. "Ich nehme das Lied der Leute mit und mache daraus eine Coverversion in meiner Sprache", beschreibt Weiller. So bleiben die Berichte seiner Gesprächspartner wahr und bekommen dennoch einen kraftvoll-poetischen Klang.
Musik spielt große Rolle für Sterbende
Über 150 Menschen am Lebensende hat Weiller in den letzten vier Jahren besucht. Er ist dabei Angst, Trotz, Wut und Zuversicht begegnet. Er hat erlebt, dass im Angesicht des Todes bei vielen Menschen Reste einer religiösen Prägung an die Oberfläche gespült werden. Und dass Musik dabei eine große Rolle spielt: ein Kirchenlied von Paul Gerhardt, das Gute-Nacht-Lied aus Kindertagen.
Er hat Menschen getroffen, die ganz gelöst ohne Gott sterben. Er ist anderen begegnet, die sehr gehadert haben damit, dass für sie nach dem Tod nichts mehr kommt. Und er hat erlebt, dass die meisten Menschen, die an Gott glauben, sich mit dem Sterben leichter tun. "Die Erwartung, dass das Leben hier nicht alles gewesen sein muss, dass ich an einem anderen Ort vervollständigt werde, entlastet sehr", sagt Weiller.
"Streets of Philadelphia" als "Letztes Lied"
Eine Geschichte ist Stefan Weiller besonders nahegegangen: die Geschichte einer 50-jährigen Frau aus Hessen, die nach vielen Ehejahren ihren gewalttätigen Mann verlassen und sich ihren Lebenstraum, nämlich den Umzug nach München, erfüllt hat. "Am Tag, als die Wohnung in der Münchner Maxvorstadt bezugsfertig war, lag sie mit Brustkrebs auf dem Operationstisch", berichtet er.
So wurde das neue Leben in der Stadt ihrer Träume ein ganz anderes, als sie gehofft hatte. Bedauert habe sie ihre Entscheidung dennoch nie: "Sie hatte einen kleinen Balkon, sie liebte die Geräusche und Gerüche, das Münchner Weiß-Blau. Ihr Lied war die Filmmusik zu ›Streets of Philadelphia‹ von Bruce Springsteen – diese Bitternis und Zuversicht, das war der Soundtrack ihres Lebens.
Musiktheater und Dokumentation
Sie sagte zu mir: Wenn die Kraft reicht, dann tanze ich dazu", erinnert sich Weiller. Dass jemand, in dessen Leben so viel schiefgelaufen ist, dennoch so witzig, liebevoll und energisch sein kann, habe ihn tief beeindruckt. "Im Angesicht des Todes kann man in den Abgrund schauen. Besser ist es, den Blick aufzurichten."
Von alldem erzählen die "Letzten Lieder". Der Abend ist Musiktheater mit dokumentarischem Kern. Er präsentiert schöne Musik und berührende Geschichten zwischen Tragödie und Leichtigkeit. Eine Nähe zum Thema Sterben ist dafür nicht nötig. Die Lust am Leben reicht.
"Letzte Lieder und Geschichten" in der Lukaskirche
Der Konzertabend "Letzte Lieder und Geschichten" mit Marianne Sägebrecht, Christoph Maria Herbst, dem Lukas-Chor und vielen anderen Musikern gastiert erstmals in München: Am Samstag, 7. Oktober, 19.30 Uhr in der Lukaskirche im Münchner Lehel (Mariannenplatz 3).
Der Eintritt ist frei. Spenden für den Christophorus Hospiz Verein sind erbeten.
Buch-Tipp
Aus über 150 Gesprächen mit Menschen am Lebensende hat der Autor und Künstler Stefan Weiller ein Buch gemacht. Es heißt wie das gesamte Projekt "Letzte Lieder" - Sterbende erzählen von der Musik ihres Lebens, erschienen bei Edel Books 2017, ISBN 978-3-8419-0517-8, 255 S., 19.95 Euro