"Alles hat mit einem Foto angefangen," beginnt die jüngste Erzählung des französischen Autoren Édouard Louis, die jetzt in Deutschland erschienen ist. Das Foto stammt von seiner Mutter mit etwa zwanzig Jahren, das sie von sich selber machte, indem sie die Fotokamera verkehrt herum hielt, denn es gab noch keine Smartphones für Selfies. "Alles auf diesem Abzug, in ihrer Haltung, in ihrem Blick, im Schwung ihrer Haare erzeugt den Eindruck von Freiheit, die unendlich vielen Möglichkeiten vor sich."

Dass im Alter von zwanzig Jahren bei seiner Mutter jedoch alles anders war als erträumt, das erzählt ihr Sohn in seinem vierten, knapp 100-seitigen Buch. Seine Mutter Monique steht im Vordergrund der Erzählung, sie muss eine Ausbildung zur Köchin abbrechen, wird schon mit 17 Jahren schwanger, heiratet. Der erste Mann, ein Klempner, trinkt und schlägt sie, aber sie ist auf ihn angewiesen. Ein weiteres Kind wird geboren. "Mit zwanzig saß sie mit zwei Kindern, ohne jeden Berufsabschluss und mit einem Mann zu Hause, den sie bereits verabscheute, nach wenigen Jahren des Zusammenlebens."

Dann der erste Befreiungsschlag, Mutter Monique zieht zu ihrer Schwester, in eine Sozialwohnung am Rand einer kleinen Industriestadt. Das war die Zeit, in der sie das Foto machte, die Zeit, "in der sie den einzigen Traum hatte, die Zeit zurückzudrehen."

Nach seinem ersten Roman "Das Ende von Eddy", in dem der im Jahr 1991 geborene Franzose und Literatur-Star Louis autobiografisch von seinem Coming-Out in ärmlichen Verhältnissen aus einem Dorf in der Picardie in Nordfrankreich berichtet, widmet er sich nun der Befreiungsgeschichte seiner Mutter, die noch in eine zweite Ehe gerät, aus der der Autor und ein Zwillings-Geschwisterpaar entstammen, und die ebenso schrecklich wie grausam ist.

Scham für die Armut

Und noch bevor es zur Befreiung seiner Mutter kommt, muss Louis erleben, wie das Verhältnis zu seiner Mutter von einer doppelten Scham geprägt ist, der Scham der Mutter für ihren vielfach effeminiert auftretenden, homosexuellen Sohn einerseits, der Scham des Sohnes für seine in Armut lebende Mutter andererseits. Für eine Frau, die sich nicht schminken sollte, weil es dem Mann nicht gefiel, die sich selbst die Haare schnitt, um Geld zu sparen, die betrunken von ihrem Gatten für ihren "breiten Arsch" beleidigt wird, die im Stress mit fünf Kindern "einfach rauchen" muss, wie er schreibt.

Louis schließlich geht zum Studium nach Amiens, dann nach Paris, macht Karriere als Literat, steigt aus und auf. Das inspiriert auch seine Mutter zu ihrem zweiten Befreiungsschlag: Monique verlässt den Vater und schafft damit auch ein neues Fundament zwischen Mutter und Sohn. Und Louis entdeckt eine neue Verbindung: Er erkennt, dass seine Mutter dafür kämpft, eine Frau sein zu können, während er dafür kämpft, schwul sein zu können. Das bestärkt beide.

Und während es mit dem zurückgelassenen Vater bergab geht, erlebt Monique ihren ersten richtigen Frühling. Sie sucht sich eine neue Arbeit, eine eigene Wohnung, setzt irgendwann auch den jüngsten Bruder auf eigenen Beine und zieht ebenfalls nach Paris.

"Nichts an ihr erinnerte an die Frau, die meine Mutter gewesen war. Sie hatte sich geschminkt, die Haare gefärbt. Sie trug Schmuck."

Mutter und Sohn nähern sich einander an. "Auf einmal verlieh das Glück ihr eine Jugend. Früher hatte sie ihre Jugend nur drei- oder viermal erwähnt, als ich sie beschwipst sah, fast zufällig, jetzt erzählte sie lang und breit, wie sie als Teenager mit ihren Freundinnen in die Disco gegangen war." Und sie feiert wieder, ruhiger, dezenter, und genießt ihr Leben.

Das Buch ist nicht wirklich ein Roman, aber auch nicht nur ein Essay. So ist Édouard Louis Erzählung über seine Mutter sehr kurz, sehr knapp, aber zärtlich, authentisch und reflektiert. Nur im letzten Punkt unterscheidet sie sich von dem Buch über seinen Vater. Seine ersten beiden Romane "Das Ende von Eddy" und "Im Herzen der Gewalt" (darin geht es um eine Vergewaltigung, die er in Paris erlebt) sind wesentlich literarischer. Auch über seine Mutter und seinen Vater hätten wir gern mehr erfahren.

Changer: Méthode

Aber: das fünfte Buch ist schon in Frankreich erschienen und in "Changer: Méthode" geht es auf etwa dreihundert Seiten um Menschen, die aufsteigen, die sie soziale Klasse wechseln und die Strategien, die sie dabei wählen. Darin geht der Autor auch nochmal auf seine anderen Erzählungen und Romane ein.

In "Wer hat meinen Vater umgebracht" beklagt der französische Startautor das politische System, die Eliten und die ungerechte Sozialpolitik, in "Die Freiheit einer Frau" vor allem die Verkettung aus abgebrochener Ausbildung, frühem und fünffachem Muttersein, wenig Geld, Gewalt und falschen Entscheidungen, die seine Mutter zeitweise in die Unfreiheit zwingen.

In einer Welt, in der es noch immer viele ähnliche Schicksale gibt, die nicht immer mit "der Freiheit einer Frau" enden, ist die Erzählung über seine Mutter ein Lichtblick. Louis erzählt sehr emotional, teilweise tastet er sich schreibend vor, fragt, erkennt erst beim Schreiben die Konturen. Und bringt damit Licht in das Leben von Menschen, die vor lauter Stars, Royals und Magnaten viel zu wenig Beachtung finden, obwohl sie uns viel näher sein müssten.

Louis Werke zu lesen, lohnt sich! Die Bücher sind alle biografisch, aktuell, authentisch. Mit scharfem Blick analysiert er das Leben derer, die früher in Europa "Lumpenproletariat" genannt wurden. Dabei berichtet er von Resignation und Kapitulation, aber auch von Befreiung und Aufstieg. Und Louis überführt diese Analysen in unbedingt lesenswerte moderne Literatur!

Bücher von Édouard Louis

Bestellen über den Buchhandel Buch7 - und damit soziale Projekte unterstützen.

Édouard Louis (2021): Die Freiheit einer Frau. Frankfurt am Main, 93 Seiten, S. Fischer Verlag, 17,- Euro.

Édouard Louis (2020): Wer hat meinen Vater umgebracht. Frankfurt am Main, 80 Seiten, S. Fischer Verlag, 9,- Euro.

Édouard Louis (2019): Im Herzen der Gewalt. Frankfurt am Main, 224 Seiten, S. Fischer Verlag, 10,- Euro.

Édouard Louis (2015): Das Ende von Eddy. Frankfurt am Main, 208 Seiten, S. Fischer Verlag, 11,- Euro.