Gut 30 Jahre lang hat der Konflikt Nordirland gelähmt. Auf der einen Seite standen die katholischen Republikaner, die eine Vereinigung mit Irland anstrebten, auf der anderen protestantische Unionisten, die bei Großbritannien bleiben wollten. Tausende von Menschen starben durch Bomben oder Scharfschützen. Bis heute ziehen sich meterhohe »Friedensmauern« durch die Stadtviertel von Belfast, um Protestanten und Katholiken voneinander zu trennen. Aber wenigstens schießen sie nicht mehr aufeinander. Shaw sitzt heute Morgen im weißgetäfelten Café seiner Organisation, um seine Biografie zu erzählen.

Café des Vertrauens

Das Gebäude war einmal eine presbyterianische Kirche, dann ein Möbelladen. Heute trinken hier Katholiken und Protestanten zusammen Kaffee oder Tee. Der Name »Trust 174« kombiniert einen Anspruch (»Vertrauen«) und eine Adresse (»174, Antrim Road«). Shaw ist auch Protestant, aber mit vielen Protestanten, die Jahr für Jahr in Belfast unter der Fahne des »Orange Order« Traditionsmärsche abhalten, um ihre Bindung an England zu demonstrieren, verbindet ihn nicht mehr als das Wort. Die Paraden hält er für eine wehmütige Erinnerung an alte Zeiten, einen Anachronismus: »Mit unserer Zukunft hat das nichts zu tun.« »Protestant kann alles bedeuten oder nichts«, sagt er. Der Weg zu seiner Position, die in dieser Gesellschaft noch immer heiß umstritten ist, war lang und steinig.

Bill Shaw wächst in Sandy Row auf, einer fast legendenumwobenen protestantischen Herzkammer von Belfast. Seine Mutter geht nie in die Kirche, fühlt sich aber als glühende Protestantin – übrigens ein typisches Phänomen, das es in Belfast auch auf katholischer Seite gibt. Dem ersten Katholiken begegnet er mit 17, als er in einem Kleiderladen als Verkäufer jobbt. Es ist die hohe Zeit der »troubles«, in der »fast jeden Samstag irgendwo eine Bombe hochging«, erinnert sich Shaw. Eine Explosion übersteht er nur deshalb unversehrt, weil er gerade zufällig hinter einer schützenden Säule steht. Shaw studiert Architektur, arbeitet als Bauplaner und gründet eine Familie. Mit Kirche hat er nichts am Hut, er besitzt nicht einmal eine Bibel. Mit 28 Jahren verspürt er ein Erweckungserlebnis, einen Ruf Gottes, wie er es empfindet: Mache mehr aus deinem Leben! Verkünde das Evangelium auf deine Art!

Zuerst im Abendkolleg, dann im regulären Studium sattelt er auf die Theologie um. Seine erste Stelle führt ihn – ausgerechnet – nach Shankill, in das legendenumwobene protestantische Arbeiterviertel im Nordwesten der Stadt. Es ist die Heimat der Radikalen – und die bevorzugte Zielscheibe der IRA. Shaw will Kirche und Gesellschaft zusammenbringen und dem falsch verstandenen Protestantenpathos die christliche Botschaft entgegenstellen, doch sein dienstvorgesetzter Pfarrer hält wenig von seinen Konzepten der Öffnung: »Du sollst beten und keine Sozialarbeit leisten.« 1992 wird er Pfarrer in Portadown, wohnt sechs Jahre lang in katholischer Nachbarschaft und legt sich mit dem orangenen Establishment an. »Auf welcher Seite der Barrikaden würde Jesus stehen?«, fragt er provozierend auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die örtliche Parade. Einem Schärpenträger, der sich nie in der Kirche blicken lässt, sagt er: »Du kannst an 51 Sonntagen im Jahr friedlich in die Kirche kommen. Warum kommst du nur einmal pro Jahr und machst dabei solchen Ärger?«

Versöhnung wird zur Lebensaufgabe

1998 übernimmt er die Leitung des Sozialzentrums an der Antrim Road, der sogenannten »murder mile«. Es ist ein mehrheitlich katholisches Viertel, aber Shankill liegt gleich nebenan. Seine erste Amtshandlung ist es, den katholischen Priester zu besuchen. Prompt halten ihn die Leute für einen britischen Agenten, beide Seiten sind misstrauisch. Shaw öffnet das Stadtteilzentrum für Organisationen wie die Anonymen Alkoholiker, besucht IRAAktivisten im Gefängnis, macht Kunstprojekte mit Jugendlichen oder versucht in internationalen Seminaren die Fährnisse seiner Arbeit zu erklären. Es dauert, bis der Samen seiner christliche Botschaft das konfessionelle Gestrüpp des Viertels durchstößt: Arbeitet zusammen! Lasst uns diesen Ort besser machen! Seid vor allem Christen, nicht Katholiken oder Protestanten! Und: Egal, wer uns regiert – Hauptsache, es geschieht friedlich. Wie sind die Erfolgsaussichten? Sicher ist nur eines: Die Arbeit wird nicht ausgehen, für Generationen.