Wer in diesen Tagen in Stockholm bei Leon Weintraub (97) anruft, begegnet einem Grandseigneur mit scharfem Verstand und hervorragendem Gedächtnis. Mit scheinbarer Leichtigkeit erzählt der polnische Jude, geboren 1926 in Lodz, seine Lebensgeschichte, wie er es schon so oft, vor allem für junge Menschen getan hat, um die Erinnerung wachzuhalten.

In Flossenbürg wird seine Rede zum 78. Jahrestag der Befreiung des KZ Flossenbürg am 23. April mit großem Interesse erwartet.

Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg

Jetzt, wo sich die wenigen Überlebenden nach der Corona-Zwangspause wieder auf die Gedenkfeiern trauen, ist es noch einsamer um sie geworden: Jack Terry und Max Glauben, zwei seiner Überlebenden-Freunde, starben im vergangenen Jahr. Waren es vor wenigen Jahren noch Hunderte, die zu den Jahrestagen kamen, sind die meisten von ihnen mittlerweile verstorben oder aufgrund ihres hohen Alters nicht mehr reisefähig, sagt Weintraub.

Zum ersten Mal kehrte Weintraub, der ehemalige Gefangene mit der Häftlingsnummer 82707, im Jahr 2008 an den Ort seiner Qualen zurück und empfand "eine Art Genugtuung", den Ort seines Leidens besuchen zu können:

"Ich betrete den Appellplatz und sofort kommen leichte Störungen und Vibrationen vom Boden über die Füße an meinen Körper, es sind die Erinnerungen an diesen Haufen von Menschenkörpern in der Gefangenenzeit", sagt Weintraub.

Um die Kälte auszuhalten, hatten sie sich aneinander geklammert und so über den Appellplatz bewegt, sagt der spätere Arzt, der 1969 von Warschau nach Schweden emigrierte.

Erinnerungen des Zeitzeugen Leon Weintraub

Bis heute gebe es die Bilder von Flossenbürg in seinem Kopf, "obwohl ich zu dieser Zeit mehr tot als lebendig war". Das Übernachten unter engsten Bedingungen, die Kälte und der Hunger. "Das habe ich nicht einmal in Auschwitz so erlebt oder in den Außenlagern von Groß-Rosen wie in diesem furchtbaren Flossenbürg."

In dem Oberpfälzer Vernichtungslager vegetierten die Gefangenen dahin, vollkommen apathisch, ausgemergelt von den Arbeiten im Steinbruch und dem permanenten Hunger. "Der Tod war etwas Gegebenes. Es war keine Überraschung, dass man sterben sollte", sagt Weintraub.

Von Auschwitz-Birkenau nach Flossenbürg

1944 kam er mit seiner Mutter und den drei Schwestern ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Seine Mutter sah er auf der Rampe zum letzten Mal. Nach einigen Wochen gelang es ihm, aus dem Lager zu entfliehen, indem er sich unbeobachtet vom Wachpersonal einem Transport zu einem Außenlager des KZ Groß-Rosen anschloss.

Im Februar 1945 wurde er auf einen Todesmarsch in das KZ Flossenbürg getrieben. Dort angekommen, wurden "wir für die Quarantäne auf einer Pritsche zu viert untergebracht, ab und zu einmal aufgewacht, morgens mit einem kalten Fuß an der Wange: Ein Leidensgenosse war für immer eingeschlafen". Bei der Evakuierung von Flossenbürg wurde er über verschiedene Stationen weiter in das Außenlager Offenburg des KZ Natzweiler-Struthof deportiert.

Die französische Armee befreite ihn schließlich bei Donaueschingen: Weintraub wog nur noch 35 Kilogramm und musste wegen einer Typhusdiagnose mehrere Wochen im Krankenhaus behandelt werden.

Die Zeit nach der Befreiung

Weintraub kämpfte sich zurück ins Leben. Nach Flossenbürg sei er jedes Jahr "mit einem positiven Gefühl" gefahren, weil er die anderen Überlebenden wiedergesehen habe. Gesundheitlich gehe es ihm trotz seines hohen Alters "unfassbar gut", erzählt er.

Die beschwerliche Anreise nehme er auf sich, "weil ich das seit längerer Zeit mache, zur Unterstützung der Gedenkstätte in ihrer Tätigkeit, um das, was geschehen ist, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen".

Vor allem sein Wille zur Versöhnung - aber nicht Vergebung für das Geschehene - steht auch im Zentrum seines Buches "Die Versöhnung mit dem Bösen", das voriges Jahr erschienen ist und in dem er von seinem Leben und Überleben im Ghetto von Lodz und den verschiedenen Konzentrationslagern berichtet.

Im November 2022 stellte er es unter anderem an seiner früheren Alma Mater in Göttingen vor - 76 Jahre, nachdem er dort als Student eingeschrieben war.

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