Klar ist schon lange: Es wird zukünftig deutlich mehr Pflegebedürftige geben. Als dann jedoch Statistiken der Pflegekassen von Ende Mai zufolge die Zahl der Pflegebedürftigen im vergangenen Jahr um 360.000 gestiegen ist anstatt der erwarteten 50.000, sahen sich viele Sozial- und Fachverbände in ihren eigenen Prognosen bestätigt.

Aktuell gibt es gut fünf Millionen Pflegebedürftige, 2055 werden es 6,8 Millionen sein, sagt das Statistische Bundesamt. Um sie zu versorgen, bräuchte es 2,2 Millionen Pflegekräfte. Aktuell sind es 1,7 Millionen, und die reichen bereits jetzt nicht. Da ist es unverständlich, warum ein offensichtlicher Weg, diesen Notstand zu vermeiden oder abzumildern, in der öffentlichen Diskussion kaum Beachtung findet – nämlich zu verhindern, dass Menschen pflegebedürftig werden.

Pflegebedürftigkeit ist kein Schicksal

Denn Pflegebedürftigkeit ist nicht immer Schicksal. Ihre Ursachen sind oft Demenz oder Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Schlaganfall oder Herzerkrankungen. Deren Ursachen wiederum sind oft vermeidbar, es sind Nikotin- und Alkoholkonsum, Fehl- und Überernährung sowie zu wenig Bewegung.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärt dazu:

"Die Quote vermeidbarer Erkrankungen ist in Deutschland höher als in vielen anderen europäischen Ländern. Denn in Deutschland wird besonders ungesund gegessen, besonders viel Zucker konsumiert, besonders häufig das Auto statt der eigenen Füße oder des Fahrrads genutzt und besonders viel geraucht und Alkohol getrunken."

Das Präventionsgesetz von 2015 erklärt Prävention von Krankheiten wie etwa Diabetes zu Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Konkrete Angebote betreffen aber meist nur die Verhaltensprävention, in der Regel Kurse, die zu mehr Bewegung oder weniger Suchtmittelkonsum anhalten sollen. Verhältnisprävention, also die Veränderung von Rahmenbedingungen, gibt es kaum. Das bedauert auch die DKG. "Wer den Pflegekräftemangel lösen will, muss die Raucherquote senken, den Zuckergehalt in Softdrinks reduzieren und Fahrradwege bauen", fordert sie.

Barrierefreie Lebenswelt ist wichtig

Eine weitere häufige Ursache für Pflegebedürftigkeit sind Stürze. Im höheren Alter können sie folgenschwer sein. Wenn ältere Menschen sich bei einem Sturz den Oberschenkelhals brechen, sind sie danach oft auf Dauer bettlägerig. Mobilitätsförderung, die Senioren gangsicherer macht - also Sport oder Gymnastik - wirkt Stürzen entgegen. Wichtig ist hier auch eine barrierefreie Lebenswelt.

Aber daran hapert es. Zwar bekommen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen Geld von den Pflegekassen, wenn sie ihr Bad altersgerecht umbauen oder einen Handlauf im Flur installieren lassen. Aber eine Auswertung des Sozialverbands VdK vom Februar 2023 zeigt: Nur rund 85 Prozent der Berechtigten riefen diese Mittel auch ab.

Es gibt kaum belastbare Zahlen dazu, um wie viel die Zahl der Pflegebedürftigen sinken könnte und wie viele Pflegekräfte man weniger bräuchte, würde man konsequent vorbeugen. "Das Problem an der Prävention ist das Präventionsparadox", sagt Stefan Werner, Vizepräsident des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe. Die Kosten für die Prävention seien stets sichtbar, aber nicht, was sie leiste. "Wenn ich präventiv tätig werde, kann ich ja nie beweisen, wie schlecht es einer Person ohne diese Prävention gehen würde und welche Kosten damit verbunden wären", erklärt er.

Ein Drittel der Demenz-Ursachen vermeidbar

Aber einige Zahlen, die in eine bestimmte Richtung weisen, gibt es: Eine Studie aus Österreich kommt etwa zu dem Schluss, dass gut ein Drittel der Ursachen für Demenz prinzipiell vermeidbar sind. Demenz ist der häufigste Grund für Pflegebedürftigkeit.

Ob man mit Prävention Pflegebedürftigkeit komplett verhindern kann, ist nach den Worten Stefan Werners "gar nicht die primäre Frage". Denn wenn es gelänge, sie zu verzögern oder eine Verschlimmerung zu verhindern, würde das ja auch schon Sozialsysteme, Pflegefachkräfte und Angehörige entlasten.

"Alle Dinge, die an bestehende Strukturen anknüpfen, kann man schnell umsetzen", empfiehlt der Experte. Für Menschen mit Pflegegrad seien zum Beispiel Beratungsgespräche verpflichtend. Berater müssten entsprechend geschult werden, damit sie in diesen Gesprächen Präventionsbedarfe erkennen könnten, fordert er.

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