Demenzen gehören zu den häufigsten und folgenreichsten neuropsychiatrischen Erkrankungen im höheren Alter, die häufigste Form ist Alzheimer. Wenn ein Mensch erkrankt, stellen sich für die Angehörigen viele Fragen: Wie spreche ich trotz seiner Einschränkungen am besten mit dem Betroffenen, was tue ich, wenn er oder sie aggressiv wird - und wie finde ich ein passendes Pflegeheim, wenn die Pflege zu Hause nicht mehr möglich ist?

Jürgen Herzog ist Ärztlicher Direktor in der Schön Klinik München Schwabing und Chefarzt der Tagesklinik für Demenz. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) rät der Neurologe anlässlich des Welt-Alzheimertags am Sonntag (21.09.) vor allem dazu, sich möglichst früh Hilfe zu suchen.

Wenn jemand in der Familie die Diagnose Demenz erhält - wo können Angehörige Hilfe bekommen?

Herzog: Das Wichtigste ist, sich tatsächlich helfen zu lassen. Der häufigste Fehler von pflegenden Angehörigen ist es, die eigenen Ressourcen zu überschätzen oder aus einem Schamgefühl heraus keine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es geht aber darum, die Last auf mehrere Schultern zu verteilen. Man kann zunächst Familienangehörige, Freunde oder Bekannte bitten, den Erkrankten ein oder zwei Stunden zu beaufsichtigen oder mit ihm spazieren zu gehen. Das verschafft der pflegenden Bezugsperson wieder etwas Freiraum, etwa für einen ungestörten Einkauf oder einen Mittagsschlaf.

Bei welchen professionellen Anlaufstellen kann man sich Hilfe holen?

Im Bereich Demenz gibt es viele Anlaufstellen, zum Beispiel die Alzheimer Gesellschaft oder Alten- und Servicezentren. Dort gibt es kostenlose Beratung oder Kurse für Angehörige dazu, wie man mit Betroffenen besser umgeht, außerdem Angebote für Betreuung oder gemeinsame Unternehmungen. Pflegende Angehörige können sich dort auch untereinander austauschen. Für viele führt es schon zu Entlastung, wenn sie merken: Ich bin nicht alleine mit meinen Gefühlen und meinem Stress.

Für Angehörige ist es oft schwer zu ertragen, wenn der Ehemann oder die Mutter plötzlich alles durcheinanderbringt und ein Gespräch nicht mehr in der Form möglich ist wie früher. Wie kann man weiterhin gut mit Demenzkranken sprechen?

Das hängt auch vom Stadium der Demenz ab und verändert sich im Verlauf der Krankheit. Man kann sich aber schon im frühen Stadium an die Prinzipien der Einfachen Sprache halten: kürzere Sätze, wenig Fremdwörter. Lieber geschlossene Fragen stellen, auf die man mit Ja oder Nein antworten kann, nicht zwei Fragen hintereinander. Man sollte in einem vertrauensvollen ruhigen Tonfall sprechen.

Wichtig ist auch eine ungestörte Atmosphäre: Demenzpatienten sind leicht ablenkbar, vor allem durch akustische Störgeräusche. Gespräche in einem Restaurant oder im Supermarkt sind deshalb schwierig. Auch wenn der Fernseher läuft, sollte man nicht nebenbei noch was klären wollen.

Sollte man "Fehler" korrigieren?

Nein, auch wenn eine gute Absicht dahinter steht und man denkt, es sei ein Training für die Betroffenen. Es hat aber den gegenteiligen Effekt: Für die Patienten bringt es nichts, weil sie sich die Information ohnehin nicht merken können. Stattdessen führt es zu Frustration und Streit, und der Betroffene verliert noch mehr Selbstbewusstsein. Man sollte die Ungenauigkeiten oder Ungereimtheiten am besten ignorieren. Und auch wenn Menschen im fortgeschrittenen Stadium völlig irrationale Dinge erfinden, sollte man eher bestätigen oder nachfragen: "Ach, interessant, erklär doch mal, wie du das jetzt meinst". Das führt zu einem tiefergehenden Vertrauensverhältnis, und die Kommunikation bricht nicht ab.

Sollte man im Alltag immer an denselben Abläufen festhalten oder auch mal etwas Neues hineinbringen?

Beides ist wichtig. Es hilft, die Grundfähigkeiten der Patienten etwa bei der Körperpflege oder beim Anziehen zu erhalten, wenn man das immer zur gleichen Uhrzeit und in den gleichen Abläufen macht. In den Phasen dazwischen, vor allem, wenn jemand gut drauf ist, darf es schon gut dosierte geistige Herausforderungen geben - idealerweise etwas, woran der- oder diejenige auch vor der Erkrankung schon ein Interesse hatte.

Was meistens gut funktioniert, sind einfache Gesellschaftsspiele, Würfelspiele oder etwa "Stadt, Land, Fluss". Das kann man auch gut in der Gruppe, etwa in einem Alten- und Servicezentrum, machen. Dann hat man nicht nur kognitive Stimulation, sondern auch noch soziale Kontaktpflege.

Wie ist es mit gemeinsamem Singen?

Musik ist ein ideales Vehikel, um Erinnerungen und Emotionen wieder aufleben und Lebensfreude aufkommen zu lassen. Das kann klassische Musik genauso sein wie Schlager. Bei Liedern, bei denen man mitsingen kann, hat man den Vorteil, dass das Sich-Erinnern an den Text gleichzeitig auch eine Stimulation ist. Musik hilft auch, aggressive Durchbrüche zu besänftigen. Das muss nicht ruhige Musik sein, sondern solche, die dem Betroffenen auch früher gefallen hat.

Apropos Aggression: Wie kann man damit umgehen, wenn der Erkrankte aggressiv wird?

Wenn so eine Aggression aus dem Nichts kommt, aus einem harmonischen Miteinander, dann stört die Demenzpatienten häufig etwas, das sie aber nicht artikulieren können. Das können körperliche Schmerzen sein, aber auch banale Dinge, die sie irritieren: etwa eine ungewohnte grelle Bekleidung, ein Aufdruck auf einem T-Shirt mit einem Tier darauf, das sie als bedrohlich empfinden. Man muss ein bisschen seine Beobachtungsgabe schärfen, um das herauszufinden. Was man auch vermeiden sollte, ist, sich dem Betroffenen unglücklich zu nähern oder sehr laut zu sprechen, so dass er erschrickt.

Wenn die Aggression häufiger wird und sich beispielsweise immer gegen den Partner richtet, kann das Ausdruck der organischen Wesensveränderung sein, vor allem im fortgeschrittenen Stadium. Dann sollte man einen Arzt kontaktieren, um mit einem Medikament diese Fremd- oder Eigenaggressivität zu bremsen. Das gelingt nicht so schlecht, und häufig kann man nach einer gewissen Zeit die Dosis auch wieder reduzieren oder das Medikament absetzen.

Wenn Demenzpatienten ins Krankenhaus müssen, verschlechtert sich ihr geistiger Zustand oft rapide. Kann man dagegen etwas tun?

Das ist ein wichtiges Thema. Plötzlich sind die Umstände anders, die Personen, die Abläufe, der Ort. Das bringt Demenzpatienten aus dem Gleichgewicht. Man sollte hinterfragen, ob eine Krankenhausbehandlung wirklich sein muss. Um die medikamentöse Einstellung der Demenz zu verbessern, sollte beispielsweise niemand mehr ins Krankenhaus gehen. Es gibt spezielle Einrichtungen wie unsere neurologische Tagesklinik für Demenz in München, wo die Patienten tagsüber ihre Untersuchungen, Therapien und Medikamente bekommen, aber zuhause übernachten. Das funktioniert viel besser.

Natürlich müssten sich auch Krankenhäuser besser auf Demenzpatienten einstellen. Ganz vermeiden kann man eine Verschlechterung des geistigen Zustands bei einem Krankenhausaufenthalt allerdings in der Regel nicht.

Worauf sollte man bei der Auswahl eines Pflegeheimes achten?

Im besten Fall sollte es eine auf Demenzpatienten spezialisierte Einrichtung sein. Dort hilft schon die räumliche Gestaltung dabei, sich besser zurechtzufinden, das Personal ist besonders geschult. Man sollte auch schauen, ob es ein speziell zugeschnittenes Beschäftigungs- und Förderprogramm gibt, das dazu dient, eine vitale Gemeinschaft von Senioren zu bilden.

Generell kann der Gemeinschaftsfaktor in einem Pflegeheim für manche tröstlich und stimulierend sein. Häufig gab es vorher eine jahrelange Isolierung und Vereinsamung mit dem Partner, viele sind kaum mehr aus dem Haus gegangen, etwa aus Scham. In einem Pflegeheim kann man Gemeinschaftsgefühl, Zuwendung und ein schönes Miteinander finden.

Haben Sie noch einen Rat für die Betroffenen selbst?

Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass mit einer Demenzdiagnose nichts mehr zu erreichen ist - man kann heute ganz viel machen. Sowohl medikamentös als auch nicht-medikamentös kann man über lange Phasen viel Lebensqualität erhalten. Und es ist auch unsere gesellschaftliche Aufgabe, uns um diese Patienten genauso intensiv und liebevoll zu kümmern wie etwa um erkrankte Kleinkinder.